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IX.

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Als Jo­han­na sich von ih­rer Nie­der­kunft ganz er­holt hat­te, ent­schloss man sich, den Be­such der Four­vil­les zu er­wi­dern und auch dem Mar­quis de Cou­te­lier einen Be­such zu ma­chen.

Ju­li­us hat­te auf ei­ner Auk­ti­on einen neu­en Wa­gen ge­kauft, ein Phae­ton, zu dem man nur ein Pferd be­durf­te; so konn­ten sie ein oder zwei­mal im Mo­nat be­quem aus­fah­ren.

An ei­nem schö­nen kla­ren De­zem­ber­ta­ge wur­de an­ge­spannt. Nach­dem sie zwei Stun­den durch Feld und Wie­sen ge­fah­ren wa­ren, be­gann der Weg in ein klei­nes Tal ab­zu­stei­gen, des­sen Rän­der be­wal­det wa­ren und des­sen Grund deut­li­che Spu­ren ei­ner sorg­fäl­ti­gen Kul­tur zeig­te.

Auf die be­sä­e­ten Fel­der folg­ten Wie­sen und auf die Wie­sen ein großer Sumpf. Das Schilf­rohr des­sel­ben war zu die­ser Jah­res­zeit schon dürr und sei­ne Blät­ter flat­ter­ten wie lan­ge gel­be Bän­der im Win­de.

Plötz­lich nach ei­ner schar­fen Bie­gung des Ta­les lag das Schloss la Vri­let­te vor ih­nen. Es lehn­te sich mit der einen Front an den be­wal­de­ten Tal­hang an, wäh­rend die Mau­er der and­ren sich in ei­nem Teich ver­lor, den auf der ge­gen­über­lie­gen­den Sei­te ein ho­hes Tan­nen­ge­hölz ab­schloss, das die­sen Teil des Ta­les be­deck­te.

Man muss­te über eine alte Zug­brücke, um dann durch ein ho­hes Por­tal im Sti­le Lud­wig XIII. in den Schloss­hof zu ge­lan­gen. Das Schloss war im glei­chen Sti­le aus Back­stein er­baut und von Türm­chen mit Schie­fer­dä­chern flan­kiert.

Ju­li­us er­klär­te Jo­han­na alle Ein­zeln­hei­ten des Bau­es, den er ge­nau zu ken­nen schi­en. Er pries sei­ne vollen­de­te Schön­heit, die er nicht ge­nug be­wun­dern konn­te. »Sieh nur dies Por­tal an! Ist das nicht eine herr­li­che Woh­nung, wie? Die gan­ze an­de­re Faça­de liegt im Tei­che, mit ei­ner wun­der­vol­len Ram­pe, die bis zum Was­ser her­un­ter führt. Vier Käh­ne lie­gen an de­ren Stu­fen be­fes­tigt, zwei für den Gra­fen und zwei für die Grä­fin. Dort un­ten rechts, wo Du die Pap­pel­rei­he siehst, ist das Ende des Tei­ches. Dort liegt der Fluss, der nach Fe­camp führt. Die Ge­gend ist von Was­ser­vö­geln be­lebt. Der Graf schwärmt lei­den­schaft­lich für die Jagd. Es ist ein rich­ti­ger Her­ren­sitz, das.«

Die Ein­gangs­tür öff­ne­te sich und die blei­che Grä­fin er­schi­en, den Be­su­chern mit ei­nem Lä­cheln auf den Lip­pen ent­ge­gen­kom­mend. Sie trug ein Schlepp­kleid wie eine Schloss­her­rin aus al­ter Zeit. Die schö­ne Dame vom See schi­en wie ge­bo­ren für die­ses Gra­fen­schloss.

Der acht­fenst­ri­ge Sa­lon ge­währ­te einen pracht­vol­len Aus­blick auf das Was­ser und das dunkle Fich­ten­holz, wel­ches an sei­nem jen­sei­ti­gen Ran­de em­por­stieg.

Das dunkle Laub im Hin­ter­grun­de ließ den Teich tief, fins­ter und trau­rig er­schei­nen; und wenn der Wind blies, so klang das Flüs­tern der Bäu­me wie seuf­zen­de Stim­men aus dem Sump­fe.

Die Grä­fin nahm bei­de Hän­de Jo­han­na’s, als hät­te sie eine Ju­gend­freun­din vor sich, bat sie Platz zu neh­men und setz­te sich ne­ben sie auf einen nied­ri­gen Stuhl, wäh­rend Ju­li­us, der seit fünf Mo­na­ten ganz wie­der der vor­neh­me Welt­mann von frü­her ge­wor­den war, in der ge­wand­tes­ten Wei­se un­ter ver­trau­li­chem stil­len Lä­cheln die Un­ter­hal­tung führ­te.

Die Grä­fin und er spra­chen von ih­ren Spa­zier­rit­ten. Sie lach­te ein we­nig über sei­ne Reit­kunst und nann­te ihn den »Stol­per-Rit­ter«, wäh­rend er sie la­chend »Die Ama­zo­nen-Kö­ni­gin« tauf­te. Der Knall ei­nes Ge­weh­res un­ter dem Fens­ter ent­lock­te Jo­han­na einen klei­nen Schrei. Es war der Graf, der eine Krick­en­te ge­schos­sen hat­te.

Sei­ne Frau rief ihn so­fort her­bei. Man hör­te das Geräusch von Ru­dern, das An­stos­sen ei­nes Kahns an der Stein­trep­pe und als­bald er­schi­en der Graf in ho­hen Was­sers­tie­feln, ge­folgt von zwei trie­fen­den Hun­den, röt­lich wie ihr Herr, die sich’s auf dem Tep­pich an der Tür be­quem mach­ten.

Der Graf schi­en zu Hau­se bes­se­rer Lau­ne und über den nach­bar­li­chen Be­such sehr er­freut zu sein. Er ließ fri­sches Holz in den Ka­min le­gen, be­stell­te Ma­dei­ra und Bis­kuits. »Aber Sie wer­den mit uns es­sen, nicht wahr; ab­ge­macht?« rief er plötz­lich, Jo­han­na, de­ren Ge­dan­ken stets bei ih­rem Kin­de weil­ten, woll­te Ein­wen­dun­gen ma­chen; aber er ließ sie nicht gel­ten. Als sie noch im­mer zö­ger­te, mach­te Ju­li­us eine hef­ti­ge Be­we­gung der Un­ge­duld. Da be­fürch­te­te sie sei­ne schlech­te Lau­ne wie­der zu er­we­cken und wil­lig­te ein, ob­schon ihr der Ge­dan­ke furcht­bar war, Paul vor dem nächs­ten Tage nicht wie­der­zu­se­hen.

Es war ein sehr ver­gnüg­ter Nach­mit­tag. Man fuhr zu­nächst zu den Quel­len des Tei­ches, die am Fus­se ei­nes moos­be­wach­se­nen Fel­sens sich in ein kla­res Bas­sin er­gos­sen, des­sen Was­ser stets wie ko­chend auf­wir­bel­te. Dann be­weg­te sich der Kahn auf rich­ti­gen Was­ser­we­gen, die in dem Wal­de von tro­ckenem Schilf ein­ge­schnit­ten wa­ren. Der Graf, der zwi­schen sei­nen zwei Hun­den sass, die wit­ternd die Nase in die Luft streck­ten, führ­te die Ru­der. Je­der sei­ner Ru­der­schlä­ge brach­te den Kahn ein gu­tes Stück vor­wärts. Jo­han­na steck­te zu­wei­len die Hand in das fri­sche Was­ser und freu­te sich sei­ner ei­si­gen Küh­le, die ihr bis zum Her­zen drang. Ganz im Hin­ter­grun­de sas­sen, in Shaw­les ein­gehüllt, die Grä­fin und Ju­li­us. Sie lä­chel­ten wie zwei glück­li­che Men­schen, die für ihr Glück aber kei­ne Wor­te ha­ben.

Der Abend brach mit lang­ge­zo­ge­nen küh­len Schau­ern her­ein; der Nord­wind strich durch das wel­ke Schilf­rohr. Die Son­ne war hin­ter den Tan­nen zur Ruhe ge­gan­gen. Der röt­li­che Him­mel, mit schar­lach­far­be­nen und gro­tes­ken Wölk­chen be­deckt, ließ einen er­frie­ren, wenn man ihn nur an­schau­te.

Man kehr­te in den Sa­lon zu­rück, wo ein mäch­ti­ges Ka­min­feu­er brann­te. Schon beim Ein­tritt wur­de man warm und hei­ter ge­stimmt. Der Graf nahm in aus­ge­las­se­ner Lau­ne sei­ne Frau wie ein Kind auf sei­ne ath­le­ti­schen Arme, hob sie bis zum Mun­de em­por und drück­te ihr zwei herz­haf­te glück­li­che Küs­se auf bei­de Wan­gen.

Jo­han­na be­trach­te­te lä­chelnd die­sen gut­mü­ti­gen Rie­sen, den man le­dig­lich um sei­nes großen Schnurr­bar­tes wil­len einen Währ­wolf nann­te. »Wie man sich doch stets über die Leu­te täu­schen kann!« dach­te sie bei sich. Als sie dann fast un­will­kür­lich den Blick auf Ju­li­us rich­te­te, der furcht­bar bleich, das Auge starr auf den Gra­fen ge­hef­tet, in der Tür stand, nä­her­te sie sich ihm voll Be­sorg­nis. »Bist Du krank? Was fehlt Dir nur?« frag­te sie ihn lei­se. »Nichts«, ant­wor­te­te er zor­nig, »lass mich zu­frie­den. Ich frie­re.«

Als man sich in den Spei­se­saal be­gab, bat der Graf um die Er­laub­nis, sei­ne Hun­de mit­neh­men zu dür­fen. Sie ka­men als­bald her­bei und pflanz­ten sich rechts und links von sei­nem Stuh­le auf. Je­den Au­gen­blick gab er ih­nen einen Bis­sen von sei­nem Tel­ler und strei­chel­te ih­ren lan­gen sei­den­wei­chen Be­hang. Die präch­ti­gen Tie­re zeig­ten sich sehr emp­fäng­lich für sei­ne Lieb­ko­sun­gen, sie we­del­ten mit dem Schweif und zit­ter­ten vor freu­di­ger Er­re­gung.

Jo­han­na und Ju­li­us mach­ten nach dem Di­ner Mie­ne, fort­zu­fah­ren; al­lein der Graf hielt sie zu­rück, um ih­nen einen Fisch­fang bei Fa­ckel­schein zu zei­gen.

Sie muss­ten sich mit der Grä­fin auf der Ram­pe auf­stel­len, die zum Tei­che führ­te, wäh­rend er, von ei­nem Die­ner mit bren­nen­der Fa­ckel und Wurf­netz be­glei­tet, in sei­nen Kahn stieg. Die Nacht war klar und scharf; der Him­mel mit Mil­li­ar­den von Ster­nen be­sä­et.

Die Fa­ckel warf selt­sa­me le­ben­di­ge Feu­er­strah­len auf das Was­ser; ihr Licht er­zit­ter­te im Schilf­rohr und brach sich an dem Ran­de des dich­ten Tan­nen­ge­höl­zes. Plötz­lich bei ei­ner Wen­dung des Kah­nes hob sich ein rie­si­ger ge­spens­ti­ger Schat­ten, der Schat­ten ei­nes Men­schen, an die­sem hel­ler­leuch­te­ten Wald­ran­de ab. Sein Haupt rag­te über die Bäu­me hin­aus und ver­lor sich im Äther, wäh­rend die Füs­se im Was­ser zu ste­hen schie­nen. Dann er­hob die­ses un­er­mess­li­che We­sen sei­ne Arme, als woll­te es die Ster­ne vom Him­mel ho­len. Sie schnell­ten plötz­lich em­por, die­se Arme, und san­ken eben­so schnell wie­der her­ab. Gleich­zei­tig hör­te man ein leich­tes Geräusch, wie wenn das Was­ser ge­peitscht wür­de.

Wäh­rend die Bar­ke lang­sam da­hing­litt, schi­en die wun­der­ba­re Ge­stalt längs dem er­leuch­te­ten Hol­ze hin­zu­lau­fen. Dann ver­schwand sie in dem un­sicht­ba­ren Ho­ri­zont, um plötz­lich wie­der auf­zut­au­chen. Sie war we­ni­ger groß aber ge­nau­er in ih­ren Um­ris­sen; ihre Be­we­gun­gen wur­den im­mer deut­li­cher, als sie sich jetzt auf der Faça­de des Schlos­ses ab­spie­gel­te.

»Ich habe acht ge­fan­gen, Gil­ber­te«, rief die ge­wal­ti­ge Stim­me des Gra­fen.

Die Ru­der knirsch­ten auf dem Grun­de. Der rie­si­ge Schat­ten stand jetzt un­be­weg­lich an der Mau­er und wur­de im­mer klei­ner und schma­ler. Sein Haupt schi­en her­ab­zu­sin­ken, sein Kör­per ab­zu­ma­gern; und als Herr de Four­ville die Stu­fen der Ram­pe her­auf­schritt, stets von dem Die­ner mit der Fa­ckel ge­folgt, war sei­ne Fi­gur wie­der auf ih­ren ge­wöhn­li­chen Um­fang zu­sam­men­ge­schmol­zen, wäh­rend das Licht alle sei­ne Be­we­gun­gen auf dem Mau­er­werk wie­der­gab.

In sei­nem Netz trug er acht große zap­peln­de Fi­sche.

»Welch ein gu­ter Mann, die­ser Rie­se!« sag­te Jo­han­na un­ter­wegs, als sie bei­de in war­me Män­tel und De­cken gehüllt, die man ih­nen ge­lie­hen hat­te, nach Peup­les zu­rück­fuh­ren. »Al­ler­dings«, ent­geg­ne­te Ju­li­us, der die Zü­gel führ­te, »nur scha­de, dass er sich in Ge­sell­schaft zu­wei­len so ge­hen lässt.«

Acht Tage spä­ter fuh­ren sie zu den Cou­te­liers, wel­che dem ers­ten Adel des Lan­des an­ge­hör­ten. Ihr Wohn­sitz Re­mi­nil stiess an den Fle­cken Cany. Das neue Schloss, un­ter Lud­wig XIV. er­baut, lag ganz ver­steckt in ei­nem herr­li­chen, von Mau­ern um­ge­be­nen Par­ke. Auf ei­ner An­hö­he sah man die Rui­nen des al­ten Schlos­ses. Reich ga­lo­nier­te Die­ner ge­lei­te­ten den Be­such in einen im­po­san­ten Saal. In der Mit­te des­sel­ben stand auf ei­ner Art Säu­le eine un­ge­heu­re Vase aus Sèvres; und in dem So­ckel war un­ter ei­ner Kris­tall­plat­te ein ei­gen­hän­di­ger Brief des Kö­nigs ver­wahrt, mit­tels wel­chen der­sel­be dem Mar­quis Leo­pold, Her­vé, Jo­seph, Ger­mer de Var­ne­ville de Rol­le­bosc de Cou­te­lier die­ses wahr­haft kö­nig­li­che Ge­schenk über­sand­te.

Jo­han­na und Ju­li­us wa­ren noch in der Be­trach­tung die­ses Pracht­stückes ver­sun­ken, als der Mar­quis und die Mar­qui­se ein­tra­ten. Die Dame war stark ge­pu­dert, lie­bens­wür­dig aus Ge­wohn­heit und ge­ziert in dem Be­stre­ben her­ab­las­send zu sein. Der Herr, stark von Fi­gur mit blon­den ge­ra­deauf ste­hen­den Haa­ren, leg­te in alle sei­ne Be­we­gun­gen, in sei­ne Spra­che und in sei­ne gan­ze Hal­tung et­was Ge­mes­se­nes, um die Er­ha­ben­heit sei­ner Per­son dar­zu­tun.

Sie ge­hör­ten zu je­ner Art von stei­fen Leu­ten, de­ren Geist, de­ren Ge­müt und Re­dens­ar­ten stets auf Stel­zen zu ge­hen schei­nen.

Sie führ­ten al­lein das Wort, ohne lan­ge auf Ant­wor­ten zu war­ten, mit ei­nem in­dif­fe­ren­ten Lä­cheln; es war, als be­trach­te­ten sie es als eine ih­nen durch Ge­burt auf­er­leg­te Pf­licht, die klei­nen Edel­leu­te der Um­ge­gend höf­lich bei sich auf­zu­neh­men.

Jo­han­na und Ju­li­us wa­ren wie er­starrt, be­müh­ten sich aber höf­lich zu sein. Es war ih­nen un­be­quem, lan­ge zu blei­ben und doch konn­ten sie den ge­eig­ne­ten Au­gen­blick zum Auf­bruch nicht fin­den. Sch­liess­lich mach­te die Mar­qui­se ih­rer­seits dem Be­such ein Ende in­dem sie mit un­ge­zwun­ge­ner na­tür­li­cher Hal­tung das Ge­spräch be­schloss, wie eine Kö­ni­gin die in höf­li­cher Form eine Au­di­enz auf­hebt.

»Wenn es Dir recht ist,« mein­te Ju­li­us auf dem Heim­we­ge, »so ma­chen wir dort kei­nen Be­such wie­der; mir für mei­ne Per­son ge­nü­gen die Four­vil­les.« Jo­han­na stimm­te ihm völ­lig bei.

Der De­zem­ber, die­ser fins­te­re Mo­nat, die­ses dunkle Loch am Ende des Jah­res, ging lang­sam zur Nei­ge. Das ein­sa­me Le­ben be­gann wie­der wie im vo­ri­gen Jah­re. Jo­han­na lang­weil­te sich in­des­sen kei­nes­wegs; sie war un­aus­ge­setzt mit Paul be­schäf­tigt, den Ju­li­us von der Sei­te mit un­ru­hi­ger miss­ver­gnüg­ter Mie­ne be­trach­te­te.

Zu­wei­len, wenn die Mut­ter ihn auf den Ar­men hielt und ihn mit je­nen zärt­li­chen Schmei­che­lei­en lieb­ko­se­te, die jede Mut­ter für ihr Kind hat, zeig­te sie ihn auch dem Va­ter und sag­te: »So küs­se ihn doch mal; man soll­te wirk­lich den­ken, Du möch­test ihn nicht.« Dann be­rühr­te er ganz von Wei­tem mit sei­nen Lip­pen die glat­te Stirn des Ba­bys; aber er schnitt ein wi­der­wil­li­ges Ge­sicht dazu und beug­te sich weit vor um nur nicht die klei­nen leb­haft grei­fen­den Händ­chen an­zu­rüh­ren. Hier­auf ging er so­fort her­aus; man hät­te den­ken kön­nen, dass ein Ekel ihn fort­trie­be.

Hin und wie­der ka­men der Maire, der Pfar­rer und der Dok­tor zum Es­sen. Zu­wei­len stell­ten sich auch die Four­vil­les ein, mit de­nen man sich im­mer mehr an­freun­de­te.

Der Graf schi­en eine in­ni­ge Zu­nei­gung zu Paul ge­fasst zu ha­ben. Er hat­te ihn fort­wäh­rend auf dem Schos­se, selbst wenn der Be­such den gan­zen Nach­mit­tag dau­er­te. Er schau­kel­te ihn vor­sich­tig auf sei­nen großen Rie­sen­fäus­ten, kit­zel­te ihm die Na­sen­spit­ze mit sei­nen lan­gen Schnurr­bar­ten­den und küss­te ihn un­zäh­li­ge Male mit ei­ner Lei­den­schaft­lich­keit, wie eine Mut­ter sie nicht grös­ser ha­ben konn­te. Er litt un­aus­sprech­lich dar­un­ter, dass sei­ne ei­ge­ne Ehe kin­der­los blieb.

Im März be­gann das Wet­ter, klar, tro­cken und bei­na­he mil­de zu wer­den. Grä­fin Gil­ber­te be­gann aufs neue von den Spa­zier­rit­ten zu spre­chen, die sie zu Vie­ren un­ter­neh­men woll­ten. Jo­han­na, die der lan­gen Aben­de und Näch­te und der eben­so mo­no­to­nen Tage doch et­was müde war, gab ganz ver­gnügt die­sem Pla­ne ihre Zu­stim­mung. Eine gan­ze Wo­che lang be­schäf­tig­te sie sich mit der Zu­rich­tung ih­res Reit­klei­des.

Dann be­gan­nen die Spa­zier­rit­te. Sie rit­ten im­mer zu zwei­en, die Grä­fin mit Ju­li­us vor­aus, Jo­han­na und der Graf hun­dert Schrit­te da­hin­ter. Letz­te­re plau­der­ten harm­los wie Freun­de; denn sie wa­ren Freun­de ge­wor­den durch die Berüh­rung ih­res red­li­chen Ge­mü­tes, ih­rer ein­fa­chen See­len. Jene da­ge­gen spra­chen lei­se mit­ein­an­der, lach­ten zu­wei­len laut auf, und sa­hen sich plötz­lich an, als ob ihre Au­gen sich et­was er­zäh­len woll­ten, was der Mund nicht aus­spre­chen konn­te. Dann spreng­ten sie wie­der im Ga­lopp da­von, als woll­ten sie weit, recht weit flie­hen.

Hin und wie­der schi­en Gil­ber­te sehr reiz­bar zu sein. Der Wind trug ihre lau­te Stim­me bis zu den Ohren der lang­sam hin­ter­drein Rei­ten­den. »Sie ist nicht im­mer gut ge­launt, mei­ne Frau«, sag­te der Graf als­dann lä­chelnd zu Jo­han­na.

Ei­nes Abends auf dem Heim­we­ge, ha­ran­guier­te die Grä­fin ihre Stu­te be­son­ders; bald stach sie ihr den Sporn in die Flan­ke, bald riss sie hef­tig am Zü­gel. Man konn­te deut­lich hö­ren, wie Ju­li­us ihr mehr­mals sag­te: »Ge­ben Sie Acht, ge­ben Sie Acht, sie wird Ih­nen durch­ge­hen.«

»Ei­ner­lei; das geht Sie nichts an«, ant­wor­te­te sie so herb und scharf, dass die Wor­te deut­lich über­’s Feld hall­ten als sei­en sie in der Luft auf­ge­hängt.

Das mu­ti­ge Tier bäum­te sich schliess­lich hoch auf und biss schäu­mend auf die Stan­ge. »Gib doch Acht, Gil­ber­te«, rief der Graf aus vol­ler Lun­ge. Da hieb sie wie in ei­nem An­fall von Ra­se­rei, die nichts zu­rück­hält, zor­nig mit ih­rer Ger­te das Tier ge­ra­de zwi­schen bei­de Ohren. Die Stu­te stieg ker­zen­ge­ra­de in die Höhe, schlug einen Au­gen­blick die Luft mit den Vor­der­füs­sen, fass­te dann wie­der Bo­den, mach­te einen furcht­ba­ren Satz, und rann­te mit Auf­bie­tung al­ler Kräf­te wie toll da­von.

Zu­erst ging es über eine Wie­se, dann über einen Sturz­a­cker, wo­bei eine Wol­ke von Staub und Schmutz sie ein­hüll­te. Sie rann­te so flüch­tig, dass man Ross und Rei­te­rin kaum noch von­ein­an­der un­ter­schei­den konn­te.

»Ma­da­me, Ma­da­me!« rief Ju­li­us, der ganz ver­zwei­felt und ver­wirrt hal­ten blieb.

Der Graf ließ ein lei­ses Brum­men ver­neh­men, beug­te sich über den Hals sei­nes Pfer­des, nach­dem er es mit sei­nem gan­zen Kör­per­ge­wicht vor­ge­drückt hat­te und spreng­te da­von. Er hob es mit sol­cher Kraft, trieb es mit Peit­sche Spo­re und Zu­ruf so ener­gisch vor­wärts, dass es aus­sah, als trü­ge der rie­si­ge Rei­ter das Tier zwi­schen sei­nen Schen­keln da­von. So ging es mit un­glaub­li­cher Schnel­lig­keit hin­ter ein­an­der her. Jo­han­na sah, wie ganz weit hin­ten die Schat­ten der bei­den Ehe­leu­te da­hin­flo­gen, wie sie im­mer klei­ner wur­den, bald ver­schwan­den, bald wie­der auf­tauch­ten gleich zwei Vö­geln, die sich ver­fol­gen, um end­lich sich ganz im Äther zu ver­lie­ren.

Ju­li­us nä­her­te sich ihr, im­mer noch im Schritt und sag­te mit ganz ver­stör­ter Mie­ne: »Ich glau­be, sie ist von Sin­nen heu­te.«

Sie rit­ten nun hin­ter ih­ren Freun­den her, die durch eine Erd­wel­le ver­deckt wa­ren.

Nach Ver­lauf ei­ner Vier­tel­stun­de sa­hen sie die­sel­ben zu­rück­kom­men; und bald traf man wie­der zu­sam­men.

Der Graf, noch rö­ter wie sonst, in Schweiß ge­ba­det, aber la­chend, mit zu­frie­de­ner tri­um­phie­ren­der Mie­ne führ­te mit sei­ner kräf­ti­gen Faust, das Pferd sei­ner Gat­tin am Zü­gel. Ihr schmerz­lich ver­zerr­tes Ant­litz war bleich wie der Kalk an der Wand und sie hat­te sich mit der einen Hand um den Na­cken ih­res Man­nes ge­hängt, als fühl­te sie ihre Kräf­te schwin­den.

Jo­han­na be­griff an die­sem Tag, dass der Graf sei­ne Gat­tin un­aus­sprech­lich lieb­te.

Wäh­rend der nächs­ten Zeit zeig­te sich die Grä­fin so ver­gnügt, wie sie noch nie zu­vor ge­we­sen war. Sie kam noch öf­ter wie sonst nach Peup­les, lach­te un­auf­hör­lich und küss­te Jo­han­na un­ter wah­ren Stür­men von Zärt­lich­keit. Man hät­te sa­gen kön­nen, dass eine ge­heim­nis­vol­le Ver­zückung über sie ge­kom­men wäre. Ihr Mann, selbst über­glück­lich, wand­te kein Auge von ihr, und such­te mit ver­dop­pel­ter Zärt­lich­keit je­den Au­gen­blick ihre Hand oder we­nigs­tens eine Fal­te ih­res Klei­des zu er­ha­schen.

»Wir sind jetzt wirk­lich glück­lich«, sag­te er ei­nes Abends zu Jo­han­na. »Gil­ber­te war noch nie so lie­bens­wür­dig wie jetzt. Sie kennt kei­nen Zorn und kei­ne schlech­te Lau­ne mehr. Ich füh­le, dass sie mich liebt. Bis da­hin war ich des­sen noch nicht ge­wiss.«

Auch Ju­li­us schi­en ver­än­dert, ver­gnüg­ter, ohne Zei­chen von Un­ge­duld; als wenn die Freund­schaft zwi­schen den bei­den Fa­mi­li­en ei­ner je­den von ih­nen Frie­den und Freu­de zu­rück­ge­bracht hät­te.

Der Früh­ling war aus­ser­or­dent­lich schön und warm. Von den lieb­li­chen Mor­gen­stun­den bis zum mil­den lau­en Abend sand­te die Son­ne ihre wär­me­n­den al­les be­le­ben­den Strah­len auf die Erde her­ab. Es war ein plötz­li­ches und mäch­ti­ges Er­wa­chen der gan­zen Erde zu glei­cher Zeit, je­nes un­wi­der­steh­li­che Trei­ben des Saf­tes, je­ner Drang zum Neu­er­ste­hen, den die Na­tur zu­wei­len in ganz be­son­ders be­vor­zug­ten Jah­ren zeigt, wo man an eine Ver­jün­gung der Welt glau­ben möch­te.

Jo­han­na fühl­te sich durch die­ses gä­ren­de Le­ben selt­sam be­wegt und ver­wirrt. Beim An­blick ei­ner klei­nen Blu­me im Gra­se konn­te sie plötz­lich zu Trä­nen ge­rührt wer­den, sie hat­te Stun­den voll selt­sa­mer Me­lan­cho­lie, voll wei­cher Emp­fin­dun­gen.

Dann über­fie­len sie die zärt­li­chen Erin­ne­run­gen der ers­ten Zeit ih­rer Lie­be. Nicht als ob ihre Zu­nei­gung zu Ju­li­us sich er­neu­ert hät­te; nein! das war aus, für im­mer aus! Aber der laue Früh­lings­wind, der lin­de Früh­lings­duft um­schmei­chel­ten ihre Haut und dran­gen ihr bis zum Her­zen, wo sie ein un­be­wuss­tes Er­wa­chen, wie auf ir­gend ei­nem ge­heim­nis­vol­len Ruf hin, her­vor­zau­ber­ten.

Es mach­te ihr Freu­de, al­lein zu sein, sich bei der war­men Son­ne an ir­gend ein stil­les Plätz­chen zu­rück­zu­zie­hen; die­se un­be­stimm­ten, won­ni­gen und hei­te­ren Emp­fin­dun­gen woll­te sie mit Nie­man­dem tei­len.

Ei­nes Mor­gens, als sie so vor sich hin­träum­te, be­schäf­tig­te sie plötz­lich ein Bild aus ver­gan­ge­ner Zeit, das Bild je­ner klei­nen, son­ni­gen Lich­tung, in­mit­ten des dunklen Lau­bes in dem klei­nen Hol­ze bei Etre­tat. Dort hat­te sie zum ers­ten Male emp­fun­den, wie ihr Kör­per ne­ben dem jun­gen Man­ne zit­ter­te, den sie da­mals lieb­te. Dort hat­te er zum ers­ten Mal, wenn auch nur stam­melnd, dem Ver­lan­gen sei­nes Her­zens Aus­druck ver­lie­hen. Dort hat­te sie ja plötz­lich ge­glaubt, die köst­li­che Ver­wirk­li­chung ih­rer Hoff­nun­gen vor sich zu se­hen.

Und sie woll­te die­ses Ge­hölz wie­der­se­hen; sie woll­te dort­hin eine Pil­ger­fahrt ma­chen, von der sie mit aber­gläu­bi­scher Sen­ti­men­ta­li­tät ir­gend eine Än­de­rung ih­res bis­he­ri­gen Le­bens­we­ges er­war­ten zu müs­sen ver­mein­te.

Ju­li­us war seit Ta­ge­s­an­bruch fort­ge­rit­ten; sie wuss­te nicht wo­hin. Sie ließ also den klei­nen Schim­mel der Mar­tins sat­teln, den sie jetzt zu­wei­len be­stieg, und ritt fort.

Es war ein Tag so ru­hig, dass sich nichts, kein Gras­halm, kein Blatt, zu re­gen schi­en. Al­les schi­en für im­mer er­starrt, als ob der Wind er­stor­ben wäre. Selbst die In­sek­ten schie­nen ver­schwun­den zu sein.

Eine heis­se ma­je­stä­ti­sche Ruhe ging von der Son­ne aus, die un­emp­find­lich ge­gen al­les, in Gold ge­taucht schi­en. Jo­han­na ritt im Schritt ih­res We­ges, hei­ter, fast glück­lich. Von Zeit zu Zeit hob sie den Blick, um ein klei­nes wei­ßes Wölk­chen zu be­trach­ten, das nicht grös­ser war wie ein Wat­te-Flöck­chen, oder wie ein leich­ter Dampf­hauch, der ver­ges­sen, ganz al­lein dort oben mit­ten am blau­en Him­mels­zelt haf­ten ge­blie­ben war.

Sie ritt in das Tal hin­ab, wel­ches sich durch einen der großen Fel­sen­bo­gen, die man die Tore von Etre­tat nennt, zum Mee­re er­streckt. Lang­sam nä­her­te sie sich dem Ge­hölz. Zwi­schen dem noch ma­ge­ren Lau­be er­goss sich ein Strom von Licht. Sie such­te die Lich­tung, ohne sie fin­den zu kön­nen und irr­te plan­los auf den schma­len We­gen her­um.

Plötz­lich, als sie eine lan­ge Al­lee pas­sier­te, be­merk­te sie zwei Reit­pfer­de, die an einen Baum ge­bun­den wa­ren. Sie er­kann­te sie so­fort, es wa­ren Gil­ber­te und Ju­li­us ihre. Da die Ein­sam­keit an­ge­fan­gen hat­te, ihr drückend zu wer­den, so war sie über dies un­er­war­te­te Zu­sam­men­tref­fen sehr ver­gnügt, und setz­te ihr Pferd in Trab.

Als sie bei den bei­den Pfer­den an­ge­kom­men war, die ru­hig wie aus lan­ger Ge­wohn­heit da­stan­den, be­gann sie zu ru­fen. Aber sie er­hielt kei­ne Ant­wort.

Ein Da­men­hand­schuh und zwei Reit­peit­schen la­gen in dem bun­ten Gra­se. Sie hat­ten also dort ge­ses­sen, und wa­ren dann fort­ge­gan­gen, ihre Pfer­de zu­rück­las­send.

Sie war­te­te eine Vier­tel­stun­de, zwan­zig Mi­nu­ten, sehr er­staunt, ohne zu be­grei­fen, was sie wohl ma­chen könn­ten. Wäh­rend sie ab­ge­stie­gen war und nun so da­stand, mit dem Rücken an einen Baum ge­lehnt, fin­gen zwei Fin­ken, im Laub ver­steckt, ganz dicht über ihr zu schla­gen an. Sie hüpf­ten um ein­an­der, mit ge­spreiz­ten zit­tern­den Flü­gel­chen, dreh­ten die Köpf­chen und zwit­scher­ten. Dann paar­ten sie sich plötz­lich.

Jo­han­na war über­rascht, als wenn sie so et­was noch nie ge­se­hen hät­te. »Ach ja«; sag­te sie dann bei sich »es ist Früh­ling.« Hier­auf kam ihr ein an­de­rer Ge­dan­ke, ein Ver­dacht. Sie be­trach­te­te von Neu­em den Hand­schuh, die Reit­peit­schen, die ver­las­se­nen Pfer­de. Plötz­lich schwang sie sich in den Sat­tel, von ei­nem hef­ti­gen Ver­lan­gen ge­trie­ben zu flie­hen.

Sie ga­lop­pier­te jetzt nach Peup­les zu­rück. Ihr Ge­hirn ar­bei­te­te hef­tig, sie über­leg­te, reih­te die Tat­sa­chen an­ein­an­der, er­wog die Um­stän­de. Wie konn­te sie erst so spät al­les er­ra­ten? War sie bis da­hin blind ge­we­sen? Hat­te sie Ju­li­us’ häu­fi­ge Ab­we­sen­heit, sei­ne wie­der­keh­ren­de Ele­ganz, sei­ne neu­er­wach­te gute Lau­ne nicht be­ach­tet? Jetzt er­in­ner­te sie sich auch Gil­ber­te’s plötz­li­cher ner­vö­ser An­fäl­le, ih­rer über­trie­be­nen Zärt­lich­kei­ten ge­gen sie, und die­ser Art Se­lig­keit der letz­ten Zeit, über die der Graf so glück­lich war.

Sie pa­rier­te ihr Pferd zum Schritt, denn sie fühl­te das Be­dürf­nis, erns­ter nach­zu­den­ken und das schnel­le Tem­po ver­wirr­te ihre Sin­ne.

Nach­dem die ers­te Be­we­gung vor­über war, wur­de ihr Herz wie­der ru­hi­ger; sie emp­fand we­der Ei­fer­sucht noch Hass, son­dern nur Ver­ach­tung. Sie dach­te nicht an Ju­li­us, von dem sie nichts mehr in Er­stau­nen set­zen konn­te; aber der zwei­fa­che Ver­rat der Grä­fin an ihr als Gat­tin und Freun­din, das war es, was sie er­reg­te. Die gan­ze Welt also war hin­ter­lis­tig, falsch und lüg­ne­risch. Trä­nen ka­men ihr in die Au­gen. Man be­weint zu­wei­len sei­ne Il­lu­sio­nen mit eben­so viel Schmerz wie sei­ne To­ten.

Den­noch ent­schloss sie sich, zu tuen, als ob sie nichts wüss­te, ihr Herz vor vor­über­ge­hen­den Re­gun­gen zu be­hü­ten, und ihre Lie­be nur noch Paul und ih­ren El­tern zu­zu­wen­den. Die Ge­gen­wart der üb­ri­gen woll­te sie mit ru­hi­ger Mie­ne er­tra­gen.

So­bald sie zu Hau­se an­ge­kom­men war, warf sie sich über ih­ren Sohn, trug ihn in ihr Zim­mer her­über und küss­te ihn eine Stun­de lang un­ter stür­mi­schen Trä­nen.

Ju­li­us kam zum Di­ner nach Hau­se, fröh­lich und gu­ter Din­ge, voll lie­bens­wür­di­ger Ab­sich­ten. »Kom­men Papa und Mama denn nicht die­ses Jahr?« frag­te er.

Sie wuss­te ihm so viel Dank für die­se Auf­merk­sam­keit, dass sie ihm fast ihre Ent­de­ckung im Hol­ze ver­zieh. Sie wur­de plötz­lich von ei­nem so leb­haf­ten Ver­lan­gen er­grif­fen, die­je­ni­gen wie­der­zu­se­hen, wel­che sie nächst Paul am meis­ten lieb­te, dass sie den gan­zen Abend am Schreib­ti­sche zu­brach­te, um ihre Her­über­kunft zu be­schleu­ni­gen.

Die El­tern stell­ten ihre Rück­kehr für den 20. Mai in Aus­sicht. Man schrieb da­mals den 7. d. M.

Mit täg­lich wach­sen­der Un­ge­duld er­war­te­te sie de­ren An­kunft, als wenn sie aus­ser der Lie­be zu ih­rem Kin­de noch ein an­de­res Be­dürf­nis fühl­te, wie­der ein­mal ihr Herz an ei­nem red­li­chen Her­zen schla­gen zu las­sen. Sie muss­te wie­der ein­mal of­fen mit Leu­ten re­den, die, treu und bie­der, je­der In­fa­mie ab­hold wa­ren; die in ih­rem Le­ben, in all ih­ren Wor­ten und Wer­ken, in ih­ren Ge­dan­ken und Wün­schen stets ehr­lich und ge­wis­sen­haft wa­ren.

Was sie jetzt am meis­ten emp­fand, das war die Ver­ein­sa­mung ih­res Ge­wis­sens in­mit­ten all die­ser ge­wis­sen­lo­sen Men­schen. Ob­schon sie mit ei­nem Male ge­lernt hat­te zu heu­cheln, die Grä­fin mit of­fe­nen Ar­men und lä­cheln­dem Mun­de zu emp­fan­gen, so fühl­te sie doch dies Ge­fühl der Lee­re, die­se ge­wis­se Men­schen­ver­ach­tung, ste­tig wach­sen und sie sah sich ganz von ihm be­herrscht. Täg­lich er­höh­ten die klei­nen Neu­ig­kei­ten aus der Um­ge­bung den Wi­der­wil­len ih­res Her­zens, ih­ren Ab­scheu ge­gen alle an­de­ren We­sen.

Die Toch­ter der Couil­lards hat­te ein Kind be­kom­men und die Hoch­zeit soll­te jetzt erst statt­fin­den. Die Magd bei den Mar­tins, eine Wai­se, war in and­ren Um­stän­den; ein fünf­zehn­jäh­ri­ges Mäd­chen aus der Nach­bar­schaft eben­so. Eine Witt­we, eine arme knö­che­ri­ge ekel­haf­te Frau, die man ih­res schreck­li­chen Schmut­zes we­gen den »Pfer­de­ap­fel« nann­te, fühl­te sich gleich­falls Mut­ter.

Je­den Au­gen­blick hör­te man von ei­ner neu­en Schwan­ger­schaft, oder dem Fehl­tritt ir­gend ei­nes Mäd­chens, ei­ner Frau und Mut­ter meh­re­rer Kin­der, selbst so­gar ei­ner rei­chen an­ge­se­he­nen Päch­ters­frau.

Die­ser frucht­ba­re Früh­ling schi­en bei den Men­schen den Saft nicht we­ni­ger wie bei den Pflan­zen in Wal­lung zu brin­gen.

Jo­han­na de­ren er­lo­sche­ne Sin­ne nicht mehr er­regt wur­den, de­ren zer­ris­se­nes Herz und de­ren wei­ches Ge­müt al­lein von die­sem lau­en frucht­ba­ren Früh­ling­so­dem un­be­rührt blie­ben und die schwär­me­risch ohne Ver­lan­gen und lei­den­schaft­lich ohne Trie­be le­dig­lich ih­ren ein­sa­men Träu­men sich hin­gab, war er­staunt ent­setzt, ja schliess­lich has­s­er­füllt über die­se tie­ri­sche Schmut­ze­rei.

Die Ve­rei­ni­gung zwei­er We­sen stiess sie jetzt ab, wie et­was wi­der­na­tür­li­ches. Und wenn sie sich über Gil­ber­te är­ger­te, so war es nicht, weil sie ihr den Gat­ten ab­spens­tig ge­macht hat­te, son­dern le­dig­lich der Um­stand, dass sie eben­falls in die­se all­ge­mei­ne Schmutz­gru­be ge­sun­ken war.

Sie war doch von ei­ner an­de­ren Ras­se, als die Land­leu­te, bei de­nen die tie­ri­schen In­stink­te vor­wie­gen. Wie hat­te sie sich nur eben­so ver­ges­sen kön­nen, wie die­se Bes­ti­en?

An dem Tage so­gar, wo ihre El­tern ein­tref­fen muss­ten, rief Ju­li­us aber­mals die­sen Ab­scheu in ihr wach. Er er­zähl­te ihr sehr ver­gnügt als neues­te und scherz­haf­tes­te Ge­schich­te, dass der Bä­cker tags vor­her, als ge­ra­de nicht ge­ba­cken wur­de, ein ei­gen­tüm­li­ches Geräusch in der Back­kam­mer ver­nom­men hät­te. In der Mei­nung, ir­gend eine her­um­strei­chen­de Kat­ze dort zu er­wi­schen sei er her­ein­ge­stürzt, und habe sei­ne Frau be­trof­fen, wie sie al­ler­dings »ge­ra­de nicht beim Brot­ba­cken war.«

»Der Bä­cker« füg­te er hin­zu, »hat­te die Tür ver­schlos­sen, so­dass sie bei­na­he er­sti­cken muss­ten. Der klei­ne Bäcker­jun­ge hat es den Nach­barn er­zählt; er hat­te sei­ne Mut­ter mit dem Schmied her­ein­ge­hen se­hen.«

»Sie ge­ben uns Lie­bes­brot zu es­sen, die­se Spaß­vö­gel«; schloss Ju­li­us la­chend. »Es ist wirk­lich wie eine Ge­schich­te von La Fon­taine.«

Jo­han­na ver­moch­te kei­nen Bis­sen Brot mehr an­zu­rüh­ren.

Als der Post­wa­gen vor der Tür hielt und sich hin­ter den Fens­ter­schei­ben das ver­gnüg­te Ge­sicht des Barons zeig­te, fühl­te die jun­ge Frau in ih­rem Her­zen eine tie­fe Be­we­gung, eine so stür­mi­sche Zärt­lich­keit, wie sie nie vor­her emp­fun­den zu ha­ben glaub­te.

Aber sie blieb über­rascht, bei­na­he ei­ner Ohn­macht nahe, ste­hen, als sie ihre Mut­ter aus­stei­gen sah. Die Baro­nin war in die­sen sechs Win­ter­mo­na­ten um we­nigs­tens zehn Jah­re ge­al­tert. Ihre großen schlaf­fen Hän­ge­ba­cken wa­ren pur­pur­far­ben ge­wor­den und strotz­ten von Blu­tandrang. Ihr Auge schi­en er­lo­schen, und sie konn­te sich nur noch be­we­gen, wenn man sie un­ter bei­den Ar­men stütz­te. Ihr an sich schwe­rer Atem war keu­chend ge­wor­den und wog­te so hef­tig, dass man in ih­rer Nähe un­will­kür­lich ein Ge­fühl schmerz­haf­ter Ver­le­gen­heit emp­fand.

Der Baron, ge­wohnt sie täg­lich zu se­hen, hat­te von die­sen Ver­än­de­run­gen we­nig be­merkt. Wenn sie sich bei ihm über ihre ste­te Atem­not, über ihre wach­sen­den Be­klem­mun­gen be­klag­te, so ant­wor­te­te er: »Aber im Ge­gen­teil, lie­bes Kind; ich habe Dich nie an­ders ge­kannt.«

»Dei­ne Mut­ter ist in schlech­ten Hef­ten,« sag­te Ju­li­us am Aben­de zu sei­ner Frau: »Ich fürch­te es steht nicht gut mit ihr.«

Jo­han­na brach in Schluch­zen aus. »Nur ru­hig! sag­te Ju­li­us. »Ich be­haup­te ja nicht, dass sie ver­lo­ren ist. Du musst im­mer gleich al­les über­trei­ben. Sie hat sich sehr ver­än­dert, das ist al­les. Es kommt von ih­rem Al­ter.«

Nach acht Ta­gen hat­te sie sich schon so an das neue Aus­se­hen ih­rer Mut­ter ge­wöhnt, dass sie nicht mehr dar­an dach­te. Auch moch­te sie wohl ab­sicht­lich ihre Be­fürch­tun­gen zu­rück­drän­gen, wie man ge­wöhn­lich aus Ego­is­mus, aus ei­ner Art un­be­wuss­ten Dran­ges nach Ruhe düs­te­re Vorah­nun­gen und dro­hen­de Sor­gen von sich ab­zu­schüt­teln sucht.

Die Baro­nin, der das Ge­hen die gröss­te Schwie­rig­keit ver­ur­sach­te, be­gab sich je­den Tag höchs­tens noch eine hal­be Stun­de ins Freie. Wenn sie ein ein­zi­ges Mal den Weg in »ih­rer« Al­lee zu­rück­ge­legt hat­te, konn­te sie sich nicht mehr wei­ter be­we­gen und ver­lang­te, sich auf »ihre« Bank zu set­zen. Wenn sie sich un­fä­hig fühl­te, ih­ren Spa­zier­gang zu Ende zu füh­ren, sag­te sie: »Wir wol­len auf­hö­ren; mei­ne Hy­per­tro­phie steckt mir heu­te in al­len Glie­dern.«

Sie lach­te jetzt gar nicht mehr; sie lä­chel­te höchs­tens noch über Din­ge, bei de­nen sie sich das Jahr vor­her noch vor La­chen ge­schüt­telt hät­te. Aber da ihre Au­gen noch sehr gut wa­ren, so ver­brach­te sie ihre Tage mit der Le­sung von »Co­rin­ne« oder La­mar­ti­ne’s »Me­di­ta­ti­on«. Dann ver­lang­te sie, dass man ihr die Schieb­la­de mit ih­ren »Re­li­qui­en« brin­ge. Sie brei­te­te die al­ten, ih­rem Her­zen so teu­ren Brie­fe auf ih­rem Schoss aus, stell­te die Schieb­la­de auf einen Stuhl ne­ben sich und leg­te ihre »Re­li­qui­en« eine nach der an­de­ren wie­der hin­ein, nach­dem sie die­sel­ben lang­sam durch­ge­le­sen hat­te. Und wenn sie ganz für sich al­lein war, dann pfleg­te sie wohl den einen oder and­ren Brief zu küs­sen, wie man die Haa­re ge­lieb­ter To­ten küsst.

Ei­ni­ge Male fand Jo­han­na, wenn sie plötz­lich ein­trat, die Baro­nin bit­ter­lich wei­nend. »Was hast du, Müt­ter­chen?« rief sie. »Das kommt von mei­nen Re­li­qui­en,« ant­wor­te­te jene nach ei­nem lan­gen Seuf­zer. »Man denkt wie­der an Sa­chen, die so herr­lich wa­ren, und die nun zu Ende sind! Und dann fal­len ei­nem da plötz­lich Per­so­nen ein, an die man schon ewig nicht mehr ge­dacht hat. Man glaubt sie zu se­hen und zu hö­ren; das macht einen furcht­ba­ren Ein­druck. Du wirst das spä­ter auch noch ken­nen ler­nen.«

Als der Baron ein­mal bei ei­ner sol­chen me­lan­cho­li­schen Sze­ne hin­zu­kam, mur­mel­te er: »Jo­han­na, mein Kind; wenn Du mir fol­gen willst, so ver­bren­ne Dei­ne Brie­fe, alle Brie­fe, von Dei­ner Mut­ter, von mir, alle. Es gibt nichts Schreck­li­che­res, als die Nase wie­der in die Ju­gend­zeit zu ste­cken, wenn man alt ge­wor­den ist.« Aber Jo­han­na be­wahr­te eben­falls ihre Kor­re­spon­denz, rich­te­te sich ih­ren »Re­li­qui­en­schrein« ein, in­dem sie trotz al­ler sons­ti­gen Ver­schie­den­heit von ih­rer Mut­ter, ei­nem ge­wis­sen erb­li­chen Trie­be träu­me­ri­scher Sen­ti­men­ta­li­tät ge­horch­te.

Ei­ni­ge Tage spä­ter muss­te der Baron in Ge­schäf­ten nach aus­wärts und reis­te ab.

Die Jah­res­zeit war herr­lich. Lin­de ster­nen­kla­re Näch­te folg­ten den ru­hi­gen Aben­den, hei­te­re Aben­de den strah­len­den Ta­gen und die­se wie­der bra­chen mit ei­ner schim­mern­den Mor­gen­rö­te an. Müt­ter­chen be­fand sich bald bes­ser und Jo­han­na, der Lie­be­lei­en ih­res Gat­ten und Gil­ber­te’s Un­treue ver­ges­send, fühl­te sich bei­na­he von Her­zen glück­lich. Die gan­ze Flur prang­te im Blu­men­schmuck und ström­te süs­sen Duft aus. Das wei­te Meer er­glänz­te fried­lich von Mor­gen bis zum Abend un­ter der la­chen­den Son­ne.

Ei­nes Nach­mit­tags nahm Jo­han­na Paul auf den Arm und ging ins Feld. Sie be­trach­te­te bald ih­ren Sohn, bald das blu­men­be­sä­e­te Gras längs des We­ges, und fühl­te sich selt­sam glück­lich be­wegt. Alle Au­gen­bli­cke küss­te sie das Kind und drück­te es lei­den­schaft­lich an sich. Der star­ke Blu­men­duft stieg ihr zu Kop­fe; eine an­ge­neh­me wohl­tu­en­de Mat­tig­keit schwäch­te ihre Sin­ne. Sie dach­te über die Zu­kunft ih­res Kin­des nach. Was wür­de aus ihm wer­den? Bald wünsch­te sie es als großen be­rühm­ten mäch­ti­gen Mann vor sich zu se­hen. Bald wie­der­um hät­te sie ge­wünscht, es möch­te in be­schei­de­nen Ver­hält­nis­sen bei ihr blei­ben, nur voll Zärt­lich­keit und Lie­be stets sie um­fan­gen. Mit der ei­gen­nüt­zi­gen Lie­be ei­nes Mut­ter­her­zens wünsch­te sie nur, dass es ihr Sohn blie­be, nur ihr Sohn und wei­ter nichts. Aber ihre Ver­nunft sag­te ihr wie­der, dass er ir­gend einen großen Platz in der Welt aus­fül­len müs­se.

Sie setz­te sich an ei­nem Gra­ben­rand nie­der und be­trach­te­te ihn lan­ge. Es schi­en ihr als hät­te sie ihn noch nie rich­tig an­ge­se­hen. Und plötz­lich ver­wun­der­te sie sich bei dem Ge­dan­ken, dass die­ses klei­ne We­sen ein­mal groß sein, dass es mit fes­tem Schrit­te ein­her­ge­hen, einen Bart ha­ben und mit männ­li­cher Stim­me re­den wür­de.

Von wei­tem rief sie je­mand an; sie blick­te auf. Ma­ri­us kam an­ge­lau­fen. Sie dach­te, dass ir­gend ein Be­such ih­rer war­te­te und er­hob sich, miss­ver­gnügt über die­se Stö­rung. Der Bur­sche lief aus Lei­bes­kräf­ten, und als er nahe ge­nug war schrie er: »Frau Baro­nin ist sehr schlecht ge­wor­den, Ma­da­me!«

Es war ihr, als wenn ein Trop­fen kal­tes Was­ser den Rücken her­a­b­lie­fe; und mit ge­senk­tem Haup­te rann­te sie ei­ligst nach Hau­se.

Schon von wei­tem sah sie eine Men­ge Leu­te un­ter der Pla­ta­ne ste­hen. Sie stürz­te vor und be­merk­te, als die Grup­pe sich öff­ne­te, ihre Mut­ter auf der Erde lie­gend, den Kopf von zwei Kis­sen un­ter­stützt. Ihr Ge­sicht war ganz schwarz, ihre Au­gen ge­schlos­sen; und ihre sonst so wo­gen­de Brust rühr­te sich nicht. Die Amme nahm das Kind auf den Arm und brach­te es fort.

»Was ist ge­sche­hen?« frag­te Jo­han­na hef­tig. Wie kam sie zu Fal­le? Man muss gleich zum Arzt schi­cken!« Sich um­wen­dend be­merk­te sie den Pfar­rer, der durch ir­gend einen Zu­fall schon be­nach­rich­tigt war, und nun kam, sei­ne Diens­te an­zu­bie­ten. Er schob auch so­fort die Är­mel sei­ner Sou­ta­ne zu­rück, aber alle sei­ne Ein­rei­bun­gen mit Es­sig und Köl­nisch-Was­ser blie­ben wir­kungs­los. »Man soll­te sie aus­klei­den und so­fort zu Bett brin­gen,« mein­te der Pries­ter.

Der Päch­ter Jo­seph Couil­lard war zur Stel­le, eben­so Papa Si­mon und Lu­di­vi­ne. Un­ter­stützt vom Abbé Pi­cot woll­ten sie die Baro­nin fort­tra­gen; aber als sie sie auf­ho­ben, sank der Kopf hin­ten­über, und das Kleid zer­riss ih­nen un­ter den Hän­den. So schwer und un­be­hol­fen war der mäch­ti­ge Kör­per. Jo­han­na schrie vor Schreck’ laut auf.

Man hol­te einen Ses­sel aus dem Sa­lon, und konn­te sie so end­lich, nach­dem man sie dar­auf ge­setzt, fort­tra­gen. Schritt für Schritt ging es die Ram­pe her­auf, dann über die Trep­pe ins Schlaf­zim­mer, wo man sie aufs Bett leg­te.

Als die Kö­chin mit dem Aus­klei­den nicht fer­tig wer­den konn­te, fand sich ge­ra­de zur rech­ten Zeit die Wit­we Den­tu ein. Sie war eben­so un­er­war­tet ge­kom­men wie der Pries­ter. »Als ob sie den Tod ge­ro­chen hät­ten,« sag­ten die Dienst­bo­ten.

Jo­seph Couil­lard eil­te schleu­nigst zum Arz­te. Als der Pfar­rer sich an­schick­te, das hei­li­ge Öl her­vor­zu­ho­len, flüs­ter­te die Kran­ken­wär­te­rin ihm zu: Be­mü­hen Sie sich nicht, Herr Abbé, es ist schon vor­bei: ich ken­ne mich aus.«

Jo­han­na wein­te bit­ter­lich; sie wuss­te nicht, was sie ma­chen soll­te. Ver­geb­lich sann sie auf ein Mit­tel, das man hät­te an­wen­den kön­nen; der Pries­ter er­teil­te auf alle Fäl­le die Ge­ne­ral-Ab­so­lu­ti­on.

So harr­te man zwei Stun­den bei dem blau­an­ge­lau­fe­nen leb­lo­sen Kör­per. Jo­han­na war jetzt in die Knie ge­sun­ken und schluchz­te von Angst und Schmerz zer­ris­sen.

Als die Tür sich öff­ne­te und der Arzt er­schi­en, glaub­te sie wie­der Hei­lung, Trost und Hoff­nung mit ihm ein­tre­ten zu se­hen. Sie stürz­te auf ihn zu und be­rich­te­te ihm in ab­ge­ris­se­nen Sät­zen al­les, was sie von der Sa­che wuss­te: »Sie ging spa­zie­ren, wie alle Tage … es ging ihr gut … sehr gut so­gar … sie hat zum Früh­stück eine Bouil­lon mit zwei Ei­ern ge­nom­men … sie ist plötz­lich um­ge­sun­ken … sie ist ganz schwarz ge­wor­den, wie Sie se­hen … und hat sich nicht mehr ge­rührt … Wir ha­ben al­les ver­sucht, um sie wie­der zu sich zu brin­gen … al­les.« Sie schwieg, über­rascht durch eine heim­li­che Hand­be­we­gung der Wär­te­rin, die dem Arzt be­deu­ten woll­te, dass al­les aus sei, völ­lig aus. Jo­han­na sträub­te sich, die Wahr­heit zu be­grei­fen; ängst­lich wie­der­hol­te sie die Fra­ge: »Ist es schlimm, Herr Dok­tor? Glau­ben Sie, dass es schlimm ist?«

»Ich glau­be al­ler­dings« … sag­te er end­lich »ich fürch­te bei­na­he … dass … es zu Ende ist. Sei­en Sie stark, Ma­da­me, fas­sen Sie Mut.«

Jo­han­na warf sich mit aus­ge­brei­te­ten Ar­men auf ihre Mut­ter.

Als Ju­li­us zu­rück­kam, blieb er fas­sungs­los, sicht­lich be­stürzt ste­hen. Kein Ruf des Schmer­zes oder der Verzweif­lung drang von sei­nen Lip­pen; die Über­ra­schung war zu groß, als dass sie sich äus­ser­lich in sei­nen Mie­nen kund­ge­ge­ben hät­te. »Ich sah es kom­men; ich wuss­te dass es zu Ende ging«, mur­mel­te er vor sich hin. Dann zog er sein Ta­schen­tuch, wisch­te sich die Au­gen, knie­te nie­der, be­kreu­zig­te sich und sprach ein stil­les Ge­bet. Als er dann wie­der auf­stand, woll­te er auch sei­ne Frau mit em­por­rich­ten. Aber sie hielt den Leich­nam mit bei­den Ar­men un­ter ste­ten Küs­sen um­fan­gen; sie lag fast auf ihm. Man muss­te sie mit Ge­walt fort­brin­gen; sie schi­en den Ver­stand ver­lo­ren zu ha­ben.

Nach ei­ner Stun­de ge­stat­te­te man ihr zu­rück­zu­keh­ren. Jede Hoff­nung war da­hin. Das Schlaf­ge­mach war jetzt als Lei­chen­zim­mer ein­ge­rich­tet. Ju­li­us und der Geist­li­che spra­chen lei­se in ei­ner Fens­te­r­e­cke. Die Wit­we Den­tu sass auf einen Ses­sel in ziem­lich be­que­mer Hal­tung, wie eine Frau die an Nacht­wa­chen ge­wöhnt ist und sich in ei­nem Hau­se hei­misch fühlt, so­bald der Tod dort sei­nen Ein­zug ge­hal­ten hat; sie schi­en be­reits ein­ge­nickt zu sein.

Die Nacht brach her­ein. Der Pfar­rer trat auf Jo­han­na zu, fass­te sie bei der Hand, sprach ihr Mut ein und such­te durch geis­ti­ge Trös­tung einen heil­sa­men Bal­sam auf die Wun­den ih­res zer­ris­se­nen Her­zens zu träu­feln. Er sprach von der Da­hin­ge­schie­de­nen, er fei­er­te sie in be­red­ten Wor­ten, und in­dem er einen Schmerz zur Schau trug, der sei­ner pries­ter­li­chen Auf­fas­sung vom Le­ben nach dem Tode nicht ganz ent­sprach, bot er sich an, die Nacht be­tend bei der Lei­che zu­zu­brin­gen.

Aber Jo­han­na lehn­te zwi­schen ih­ren strö­men­den Trä­nen die­ses Aner­bie­ten ab. Sie woll­te al­lein sein, ganz al­lein in die­ser schmerz­li­chen Ab­schieds­nacht. »Aber das geht doch nicht; wir wol­len alle bei­de blei­ben«, misch­te sich Ju­li­us ein. Sie ver­nein­te durch ein Kopf­schüt­teln, un­fä­hig ein Wort zu spre­chen. »Es ist mei­ne Mut­ter, mei­ne ein­zi­ge Mut­ter. Ich will al­lein mit ihr sein« sag­te sie end­lich. »Las­sen Sie ihr den Wil­len;« mahn­te der Dok­tor »die Wär­te­rin kann im Ne­ben­zim­mer blei­ben.«

Der Pfar­rer und Ju­li­us füg­ten sich; bei­de wa­ren müde. Nun knie­te sich der Abbé Pi­cot sei­ner­seits nie­der, be­te­te, er­hob sich und ver­ab­schie­de­te sich mit den Wor­ten: »Es war eine Hei­li­ge« un­ge­fähr als wenn er sein »Do­mi­nus vo­bis­cum« sprach.

»Willst Du nicht et­was neh­men?« frag­te Ju­li­us, der sei­ne ge­wöhn­li­che Stim­me wie­der­er­langt hat­te. Jo­han­na ant­wor­te­te nicht; sie hat­te gar nicht be­merkt, dass er sich zu ihr ge­wandt hat­te. »Du wür­dest gut tun, et­was zu Dei­ner Stär­kung zu neh­men« be­gann er wie­der. »Schick nur schnell nach Papa« ant­wor­te­te sie halb un­wil­lig. Und er ging hin­aus, um einen be­rit­te­nen Bo­ten nach Rou­en zu schi­cken.

Sie blieb in ei­ner Art re­gungs­lo­sen Schmerz ver­sun­ken zu­rück, als hät­te sie dar­auf ge­war­tet, sich ganz der wo­gen­den Verzweif­lung in die­ser Stun­de des letz­ten Zu­sam­men­seins über­las­sen zu kön­nen.

Die Schat­ten der Nacht hat­ten sich auf das Ge­mach her­ab­ge­senkt und hüll­ten die Tote in Fins­ter­nis. Die Wit­we Den­tu trip­pel­te auf den Fuss­s­pit­zen um­her und such­te nach al­len mög­li­chen Din­gen, die sie mit der ge­räusch­lo­sen Art ei­ner Kran­ken­wär­te­rin hier und dort zu­recht­leg­te. Dann zün­de­te sie zwei Ker­zen an und stell­te sie lei­se auf den Nacht­tisch am Kop­fen­de des Bet­tes, den sie mit ei­nem wei­ßen Tu­che be­deckt hat­te.

Jo­han­na schi­en nichts zu se­hen und nichts zu hö­ren. Sie war­te­te dar­auf, al­lein zu sein. Ju­li­us kam zu­rück, nach­dem er ge­ges­sen hat­te. »Willst Du wirk­lich nichts zu Dir neh­men?« frag­te er noch­mals. Sie ver­nein­te aber­mals durch ein Kopf­schüt­teln.

Er setz­te sich mehr re­si­gniert wie trau­rig nie­der, und war­te­te, ohne wei­ter zu spre­chen.

So blie­ben sie alle drei, je­des für sich, auf ih­ren Plät­zen.

Hin und wie­der schnarch­te die ein­ge­schla­fe­ne Wär­te­rin; dann er­wach­te sie plötz­lich.

Ju­li­us er­hob sich end­lich und nä­her­te sich Jo­han­na. »Willst Du jetzt al­lein blei­ben?« Sie er­griff mit ei­ner un­will­kür­li­chen Hast sei­ne Hand und sag­te: »Ach ja! lass mich al­lein.«

»Ich wer­de von Zeit zu Zeit nach Dir se­hen«, mur­mel­te er, sie auf die Stirn küs­send. Und er ging mit der Wit­we Den­tu her­aus, die ih­ren Ses­sel ins Ne­ben­zim­mer roll­te.

Jo­han­na schloss die Tür; dann öff­ne­te sie weit die bei­den Fens­ter. Mit vol­len Zü­gen sog sie den Duft der draus­sen la­gern­den Heu­ern­te ein. Es war ge­ra­de zur­zeit, wo man den rei­chen Be­stand der Wie­sen ab­ge­mäht hat­te, der nun un­ter dem vol­len Mond­licht sei­nen wür­zi­gen Duft aus­ström­te.

Die­ses süs­se Emp­fin­den mach­te ihr übel; es ver­letz­te sie wie eine bit­te­re Iro­nie.

Sie nä­her­te sich wie­der dem Bet­te, er­griff die eine leb­lo­se kal­te Hand und be­trach­te­te ihre Mut­ter.

Sie war nicht mehr so an­ge­schwol­len, wie im Au­gen­blick des Un­falls und schi­en zu schla­fen; viel fried­li­cher so­gar, als es sonst bei ihr der Fall war. Die vom Luft­zu­ge hin und her­be­weg­ten Ker­zen­flam­men ver­än­der­ten je­den Au­gen­blick die Schat­ten auf ih­rem Ge­sicht, so­dass man hät­te den­ken sol­len, sie lebe und habe sich be­wegt.

Jo­han­na starr­te sie un­abläs­sig an, wäh­rend aus ih­rer frü­he­s­ten Ju­gend­zeit eine Fül­le von Erin­ne­run­gen auf sie ein­stürm­te.

Sie rief sich Müt­ter­chens Be­su­che im Sprech­zim­mer des Klos­ters vor Au­gen, die Art und Wei­se wie sie ihr die Düte voll Ku­chen gab; eine Men­ge Ein­zel­hei­ten, klei­ner Er­eig­nis­se, Zärt­lich­keits­be­wei­se, Wor­te, Re­dens­ar­ten, stän­di­ger Ge­bär­den, die Fal­ten um ihre Au­gen beim La­chen, der tie­fe er­stick­te Seuf­zer, mit dem sie sich nie­der­setz­te, das al­les kam ihr in Erin­ne­rung.

Und so stand sie da im An­schau­en ver­sun­ken im­mer wie­der die Wor­te »Sie ist tot« wie halb von Sin­nen vor sich her­mur­melnd. Erst all­mähl­lich ver­stand sie den gan­zen Um­fang der­sel­ben.

Die­ser Kör­per, der da ruh­te – Mama – ihr Müt­ter­chen – Ma­da­me Ade­lai­de, war also tot. Sie wür­de sich nie mehr re­gen, nie mehr spre­chen, nie mehr la­chen, nie­mals mehr Papa ge­gen­über bei Ti­sche sit­zen. Sie wür­de nie mehr »Gu­ten Mor­gen Jean­net­te« sa­gen. Sie war eben tot!

Man wür­de sie in einen Sarg le­gen und sie be­gra­ben, und dann war al­les zu Ende. Man wür­de sie nicht mehr se­hen. War das mög­lich? Hat­te sie denn wirk­lich kein Müt­ter­chen mehr? Die­ses teu­re, trau­te Ant­litz, in das sie ge­schaut von dem Au­gen­blick an, wo sie die Au­gen ge­öff­net hat­te, das sie ge­liebt von der Mi­nu­te an, wo sie die Ärm­chen aus­brei­ten konn­te; die­ser Ge­gen­stand ih­rer gan­zen Zärt­lich­keit, die­ses ein­zi­ge We­sen, die Mut­ter, dem Her­zen teu­rer als alle and­ren We­sen, exis­tier­te nicht mehr. Sie konn­te es nur noch ei­ni­ge Stun­den be­trach­ten die­ses re­gungs­lo­se star­re Ant­litz. Und dann nichts, nichts mehr! nur noch eine Erin­ne­rung.

Sie warf in ei­nem furcht­ba­ren An­fall von Verzweif­lung sich auf die Knie und krall­te die Hän­de krampf­haft in die Fal­ten des Lei­nen­tu­ches. »Ach Mut­ter, mei­ne arme Mut­ter, mei­ne Mut­ter!« rief sie mit herz­zer­reis­sen­der Stim­me, hal­b­er­stickt in den De­cken und Kis­sen, wäh­rend sie den Mund auf das Bett­zeug press­te.

Als sie sich dann wie­der ganz von Sin­nen fühl­te, so von Sin­nen wie da­mals in je­ner Nacht ih­rer Flucht durch den Schnee, sprang sie auf und rann­te ans Fens­ter, um sich zu er­fri­schen und die Luft ein­zuat­men, von der die Tote da auf ih­rem letz­ten Ru­he­la­ger nichts mehr spür­te.

Der ab­ge­mäh­te Ra­sen, die Bäu­me, die Hei­de, das Meer da drü­ben la­gen in fried­li­chem Schwei­gen, ent­schlum­mert un­ter dem mil­den Lich­te des Mon­des. Auch in Jo­han­nas Herz drang et­was von die­ser be­ru­hi­gen­den Mil­de und sie be­gann lang­sam zu wei­nen.

Dann kehr­te sie wie­der an das Bett zu­rück und setz­te sich nie­der, die eine Hand in die ih­ri­ge neh­mend, als wach­te sie bei ei­ner Kran­ken.

Ein großer Nacht­schmet­ter­ling, war an­ge­zo­gen von dem Licht­schim­mer, her­ein­ge­flo­gen. Er schlug an die Wän­de wie ein Ball, und flog von ei­nem Ende des Zim­mers zum an­de­ren. Jo­han­na, von sei­nem schnur­ren­den Flu­ge auf­merk­sam ge­wor­den, hob die Au­gen um nach ihm aus­zu­schau­en. Aber sie be­merk­te nichts, als sei­nen Schat­ten, der an der wei­ßen Zim­mer­de­cke um­her­irr­te.

Dann hör­te sie nichts mehr. Doch nun ver­nahm sie das »Tik-Tak« der Stutz­uhr und ein an­de­res leich­tes Geräusch, oder viel­mehr ein fast kaum be­merk­ba­res Sau­sen. Es war Müt­ter­chens Ta­schen­uhr die, ver­ges­sen in ih­rem Klei­de auf ei­nem Stuh­le, noch im­mer wei­ter ging. Und plötz­lich brach der et­was ver­hal­te­ne bitt­re Schmerz in ih­rem Her­zen aufs neue her­vor, wie sie das klei­ne wei­ter­ge­hen­de Uhr­werk an die leb­lo­se Tote da auf dem Bet­te er­in­ner­te.

Sie sah nach der Zeit. Es war halb elf. Eine furcht­ba­re Angst, die­se gan­ze Nacht da zu­zu­brin­gen, er­griff sie.

An­de­re Erin­ne­run­gen tauch­ten vor ih­ren Au­gen auf: Aus ih­rem ei­ge­nen Le­ben – Ro­sa­lie, Gil­ber­te – die bit­te­ren Ent­täu­schun­gen ih­res Her­zens. Al­les war doch nur Elend, Trüb­sal, Un­glück und Tod. Al­les täusch­te, al­les log, brach­te Leid und Trä­nen. Wo fand sich denn noch ein freund­li­ches Ru­he­plätz­chen? Im an­de­ren Le­ben je­den­falls. Wenn die See­le vom Er­den­staub be­freit war. Die See­le! Sie be­gann über die­ses un­er­forsch­li­che Ge­heim­niss nach­zu­grü­beln in dem sie sich plötz­lich je­nen poe­sie­vol­len Träu­me­rei­en hin­gab, wo eine Vor­stel­lung der an­de­ren folgt, ohne ein Bild zu schaf­fen. Wo weil­te wohl jetzt die See­le ih­rer Mut­ter? Die See­le, die zu die­sem re­gungs­lo­sen eis­kal­ten Kör­per ge­hört hat­te? Wohl weit von hier. Ir­gend­wo im un­er­mess­li­chen Him­mels­rau­me. Aber wo? Ver­flüch­tet wie der Duft ei­ner ab­ge­stor­be­nen Blu­me? Oder plan­los um­her­schwei­fend wie ein un­sicht­ba­rer Vo­gel, der dem Kä­fig ent­schlüpft ist?

War sie zu Gott zu­rück­ge­kehrt? Oder be­lie­big un­ter neu­en Schöp­fun­gen ver­streut, mit Kei­men ver­mischt, die zur Frucht her­an­reif­ten?

Ganz in ih­rer Nähe viel­leicht? Weil­te sie etwa noch in die­sem Zim­mer, um­kreis­te sie den star­ren Kör­per, den sie ver­las­sen? Jo­han­na glaub­te einen Hauch zu ver­spü­ren, wie die Berüh­rung ei­nes Geis­tes. Sie hat­te Furcht, ge­wal­ti­ge Furcht, so hef­tig, dass sie sich kaum zu re­gen wag­te; ihr Atem stock­te, sie ver­moch­te nicht sich um­zu­wen­den, um hin­ter sich zu schau­en. Ihr Herz poch­te laut vor Ent­set­zen.

Plötz­lich nahm der Schmet­ter­ling sei­nen un­sicht­ba­ren Flug wie­der auf und be­gann rings an die Wän­de zu klat­schen. Ein Schau­er durch­rie­sel­te sie von oben bis un­ten; aber dann er­kann­te sie das Brum­men des ge­flü­gel­ten We­sens wie­der und be­ru­hig­te sich. Sie er­hob sich und wand­te sich um. Ihr Blick fiel auf den Schreib­tisch mit den Sphinx-Köp­fen, den Auf­be­wah­rungs­ort der »Re­li­qui­en.«

Eine son­der­ba­re zart­füh­len­de Idee durch­zuck­te ihr Hirn. Sie woll­te le­sen, le­sen in die­sen der To­ten so teu­ren Brie­fen, heu­te in der Stun­de der letz­ten Nacht­wa­che, wie sie ein from­mes Buch ge­le­sen ha­ben wür­de. Es kam ihr vor, als er­fül­le sie eine süs­se hei­li­ge Pf­licht, einen Akt kind­li­cher Pie­tät, der der To­ten drü­ben in der and­ren Welt Freu­de be­rei­ten wür­de.

Es wa­ren die al­ten Brie­fe ih­rer Gro­ß­el­tern, die sie nicht ge­kannt hat­te. Sie woll­te ih­nen über dem Kör­per der Toch­ter die Hand rei­chen, sich mit ih­nen in die­ser düstren Nacht ver­ei­nen, als hät­ten sie Teil an die­sem Leid; sie woll­te eine Art ge­heim­nis­vol­le Zärt­lich­keits­ket­te bil­den zwi­schen den To­ten von da­mals, der stil­len Lei­che dort und ihr selbst, die noch auf Er­den ver­blie­ben war.

Sie öff­ne­te die Schreib­tisch­plat­te und ent­nahm der un­te­ren Schieb­la­de ein Dut­zend der klei­nen gelb­li­chen Pa­pier­bün­del, wel­che in mus­ter­haf­ter Ord­nung ne­ben­ein­an­der la­gen.

Mit ei­ner Art wohl­be­dach­ter Sen­ti­men­ta­li­tät brei­te­te sie die­sel­ben auf dem Bett zwi­schen den Ar­men der To­ten aus und schick­te sich an zu le­sen.

Es wa­ren jene ehr­wür­di­gen Brief­schaf­ten, wie man sie in al­ten Fa­mi­li­en­schreib­ti­schen fin­det; jene Brief­schaf­ten, die die Luft ei­nes and­ren Jahr­hun­derts at­men.

»Mei­ne Teu­re!« be­gann der ers­te Brief; auf ei­nem zwei­ten stand »Mein lie­bes Töch­ter­chen!« dann kam: »Mein Herz­chen!« – »Mein an­ge­be­te­tes Töch­ter­chen!« – Lie­bes Kind!« – »Lie­be Ade­laï­de« – »Lie­be Toch­ter«, je nach­dem sie sich an das Kind, an die Toch­ter und spä­ter an die jun­ge Frau rich­te­ten.

Und das al­les at­me­te so viel lei­den­schaft­li­che Zärt­lich­keit, so viel Lie­be zum Kin­de; es er­zähl­te so viel große und klei­ne Ge­heim­nis­se, und da­zwi­schen wie­der al­ler­hand Din­ge, die dem Fer­ner­ste­hen­den gleich­gül­tig wa­ren: »Papa hat die Grip­pe; die Zofe Hor­ten­se hat sich den Fin­ger ver­brannt; die Kat­ze ›Cro­que­r­at‹ ist tot; die Tan­ne rechts vom Tore ist ge­fällt wor­den; Mut­ter hat ihr Ge­bet­buch auf dem Rück­weg von der Kir­che ver­lo­ren, sie glaubt dass es ge­stoh­len ist.«

Auch von Leu­ten war dar­in die Rede, die Jo­han­na zwar per­sön­lich nicht ge­kannt hat­te, de­ren Na­men sie sich aber noch dun­kel aus ih­rer ers­ten Ju­gend­zeit er­in­ner­te.

Mit wah­rer Zärt­lich­keit ver­tief­te sie sich in die­se Ein­zel­hei­ten, wel­che ihr wie eine Art To­te­ner­we­ckung vor­ka­men. Es war ihr, als tre­te sie plötz­lich in die Ver­gan­gen­heit ein, als sehe sie alle Ge­heim­nis­se, das ei­gent­li­che Her­zens­le­ben ih­rer Mut­ter vor sich. Sie be­trach­te­te wie­der den Leich­nam, und plötz­lich be­gann sie ganz laut zu le­sen; sie las für die Tote, als wol­le sie ihr Zer­streu­ung und Tracht brin­gen.

Es kam ihr vor, als ob der Ge­sichts­aus­druck der Ver­stor­be­nen ein glück­li­cher wäre.

Ei­nen nach dem and­ren leg­te sie die Brie­fe zu Füs­sen des Bet­tes; sie mein­te, man müs­se sie statt der Blu­men ihr in den Sarg mit­ge­ben.

Sie öff­ne­te ein neu­es Packet. Es war eine an­de­re Schrift. »Ich kann Dei­ne Zärt­lich­keit nicht ent­beh­ren. Ich lie­be Dich zum Ra­send­wer­den« las sie halb­laut.

Wei­ter nichts; kei­ne Un­ter­schrift.

Ver­ständ­nis­los dreh­te sie das Pa­pier um. »Ma­da­me la ba­ron­ne Le Per­thuis des Vauds« lau­te­te deut­lich die Adres­se.

Dann öff­ne­te sie das fol­gen­de Bil­let: »Kom­m’ heu­te Abend, so­bald er fort ist. Wir wer­den eine Stun­de für uns ha­ben. Ich bete Dich an.«

»Ich habe eine Nacht in ra­sen­dem Ver­lan­gen nach Dir durch­träumt. Ich hielt Dich in mei­nen Ar­men, Dei­nen Mund un­ter mei­nen Lip­pen, Dei­ne Au­gen un­ter mei­nen Au­gen. Und dann hät­te ich mich vor Wut aus dem Fens­ter stür­zen kön­nen, wenn ich dar­an dach­te, dass Du zu die­ser Zeit ne­ben ihm ruh­test, ihm ganz zu ei­gen wärst …«

Jo­han­na hielt ver­ständ­nis­los inne. Was war das? An wen, für wen, von wem wa­ren die­se Lie­bes­be­teue­run­gen?

Wie­der fort­fah­rend fand sie stets wie­der die­se wahn­wit­zi­gen Lie­bes­schwü­re, die­se Stell­dich­eins mit Mah­nun­gen zur Vor­sicht, und stets zum Schluss die fünf Wor­te: »Ver­bren­ne vor al­lem die­se Zei­len!«

End­lich öff­ne­te sie ein nichts­sa­gen­des Bil­let, eine ein­fa­che Zu­sa­ge zu ei­nem Di­ner, aber mit der­sel­ben Hand­schrift und »Paul d’En­ne­ma­re« un­ter­zeich­net. Es war der­sel­be, den der Baron im­mer »mein gu­ter al­ter Paul« nann­te, wenn er von ihm sprach, und des­sen Gat­tin die in­tims­te Freun­din der Baro­nin ge­we­sen war.

Jo­han­na’s Zwei­fel wur­den jetzt plötz­lich zur vol­len Ge­wiss­heit. Ihre Mut­ter hat­te einen Lieb­ha­ber ge­habt?

Und mit ei­nem hef­ti­gen Ruck schleu­der­te sie die­se schänd­li­chen Pa­pie­re von sich wie ein gif­ti­ges Rep­til, das sich an ihr em­por­ge­wun­den hat­te. Sie lief an’s Fens­ter und wein­te bit­ter­lich, wo­bei ein hef­ti­ges Schluch­zen ihr die Keh­le zu­schnür­te. Dann brach sie ganz ver­nich­tet am Fuss der Fens­ter­brüs­tung nie­der und ver­barg ihr Ge­sicht in den Vor­hän­gen, da­mit man ihre Seuf­zer nicht hör­te. So wein­te sie in tiefs­ter Verzweif­lung bit­ter­lich vor sich hin.

Sie wür­de viel­leicht die gan­ze Nacht so zu­ge­bracht ha­ben, wenn nicht das Geräusch von Schrit­ten im Zim­mer ne­ben­an sie mit ei­nem Sat­ze auf­sprin­gen las­sen. War das etwa ihr Va­ter? Und alle die­se Brie­fe la­gen auf dem Bett und auf dem Fuss­bo­den zer­streut! Er brauch­te nur einen der­sel­ben zu öff­nen, um al­les zu wis­sen! Er!

Sie stürz­te vor­wärts und raff­te has­tig alle die­se gel­ben Pa­pie­re zu­sam­men, die Brie­fe der Gro­ß­el­tern wie des Lieb­ha­bers, die, wel­che sie schon ge­le­sen hat­te und jene, die noch un­be­rührt in der Schieb­la­de la­gen, um sie in den Ka­min zu wer­fen. Dann nahm sie eine der bren­nen­den Ker­zen vom Tisch und ent­zün­de­te den Pa­pier­sto­ss. Eine hel­le Flam­me zün­gel­te em­por, und be­leuch­te­te das Zim­mer, das Bett und den Leich­nam mit leb­haf­ten auf- und ab­tan­zen­dem Lich­te, das mit schwar­zen Um­ris­sen auf dem wei­ßen Vor­hange hin­ter dem Bet­te das zit­tern­de Pro­fil des star­ren Ant­lit­zes und die Li­ni­en des mäch­ti­gen Kör­pers un­ter den Bett­tü­chern ab­zeich­ne­te.

Als nur noch ein Häuf­lein Asche auf dem Bo­den des Ka­mins lag, kehr­te sie zu­rück und setz­te sich an’s of­fe­ne Fens­ter, als wenn sie nicht mehr wag­te in der Nähe der To­ten zu sein. Das Ge­sicht in den Hän­den be­gann sie aufs Neue zu wei­nen.

»O, mei­ne arme Mama, mei­ne arme Mama!« seufz­te sie un­auf­hör­lich mit ver­zweif­lungs­vol­lem Kla­ge­laut.

In die­ser un­glück­li­chen Stun­de wur­de ein gu­tes Teil der Kin­des­lie­be in ih­rem Her­zen aus­ge­löscht. Die Kennt­nis von dem Ge­heim­nis ih­rer Mut­ter wirk­te wie ein kal­ter Was­ser­strahl auf ihr Ge­müt.

Als Ju­li­us spä­ter noch­mals er­schi­en, und sie auf­for­der­te, doch et­was zu schla­fen, sträub­te sie sich nicht. Mit ei­nem letz­ten Kuss auf die blei­che kal­te Stirn der To­ten ver­liess sie das Zim­mer.

Der Baron kam am Abend des nächs­ten Ta­ges; sei­ne Trä­nen flos­sen un­auf­halt­sam.

Die Teil­nah­me am Be­gräb­nis­se war eine aus­ser­ge­wöhn­li­che und mit ho­her Be­frie­di­gung sah Ju­li­us, dass von dem gan­zen Adel der Um­ge­gend kein ein­zi­ger fehl­te. Die Mar­qui­se de Cou­te­lier hat­te so­gar Jo­han­na wie­der­holt um­armt und ge­küsst.

Tan­te Li­son, die gleich­falls ge­kom­men war, blieb mit Gil­bert wäh­rend der Fei­er­lich­keit bei Jo­han­na. »Mein ar­mes, teu­res Herz« sag­te die Grä­fin im­mer wie­der un­ter Küs­sen und Trä­nen zu der völ­lig ge­bro­che­nen Toch­ter.

Als der Graf vom Be­gräb­nis­se zu­rück­kehr­te, wein­te er, als habe er sei­ne ei­ge­ne Mut­ter zur Ruhe ge­bet­tet.

*

Guy de Maupassant – Gesammelte Werke

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