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Paul’s Verhältnis

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Das Re­stau­rant Gril­lon, die­ses End­ziel al­ler Kahn­fah­rer, leer­te sich lang­sam. Vor der Türe ent­stand ein Lärm von Schrei­en und lau­ten Ru­fen, und die großen Bur­schen in weißem Hem­de ges­ti­ku­lier­ten hef­tig mit den Ru­dern, die sie auf den Schul­tern tru­gen.

Die Frau­en in lich­ter Früh­lings-Toi­let­te, stie­gen vor­sich­tig in die Boo­te, setz­ten sich ans Steu­er und ord­ne­ten ihre Klei­der, wäh­rend der Be­sit­zer des Eta­blis­se­ments, ein di­cker Mann mit röt­li­chem Bart, des­sen Stär­ke weit und breit be­kannt war, den hüb­schen Kin­dern die Hand reich­te, um ih­nen beim Ein­stei­gen be­hilf­lich zu sein.

Nun stie­gen auch die Ru­de­rer ein, mit blos­sen Ar­men und stark­ge­wölb­ter of­fe­ner Brust, eine Au­gen­wei­de für die Zuschau­er, die aus Spiess­bür­gern im Sonn­tags­staat, aus Hand­wer­kern und Sol­da­ten be­stand, wel­che an das Brücken­ge­län­der ge­lehnt, auf­merk­sam die­sem Schau­spie­le zu­sa­hen.

Die Boo­te ent­fern­ten sich eins nach dem and­ren von der Lan­dungs­brücke. Die Ru­de­rer beug­ten sich im Tak­te vor- und rück­wärts, und un­ter ih­rem gleich­mäs­si­gen lan­gen Schlä­gen glit­ten die leich­ten Boo­te flüch­tig über den Was­ser­spie­gel da­hin; sie ent­fern­ten sich mehr und mehr, wur­den klei­ner und klei­ner, und ver­schwan­den schliess­lich un­ter der nächs­ten Ei­sen­bahn­brücke, un­ter­halb de­ren das Café »Frosch­teich« lag.

Nur ein Paar war noch zu­rück­ge­blie­ben. Der jun­ge, blei­che, fast noch bart­lo­se, schmäch­ti­ge Mann hat­te sei­ne Freun­din, eine klei­ne, ma­ge­re Brü­net­te, mit den Be­we­gun­gen ei­ner Heuschre­cke um die Tail­le ge­fasst. Hin und wie­der ver­senk­ten sich ihre Bli­cke tief in­ein­an­der.

»Vor­wärts, Herr Paul! be­ei­len Sie sich,« rief der Wirt. Das jun­ge Paar kam her­an.

Von al­len Gäs­ten des Hau­ses war Herr Paul der be­lieb­tes­te und an­ge­se­hens­te. Er be­zahl­te gut und pünkt­lich, wäh­rend man den an­de­ren oft lan­ge auf die Ta­schen klop­fen muss­te, wenn sie nicht un­ter Um­stän­den ganz ver­schwan­den, ohne über­haupt zu zah­len. Fer­ner bil­de­te er für das Eta­blis­se­ment eine Art le­ben­di­ge Re­kla­me, denn sein Va­ter war Se­na­tor. Und wenn ein Frem­der frag­te: »Wer ist denn der jun­ge Mann da, der so schön mit sei­ner Liebs­ten tut?« so ant­wor­te­te ei­ner der Stamm­gäs­te halb­laut mit wich­ti­ger ge­heim­nis­vol­ler Mie­ne: »Das ist Paul Baron, Sie wis­sen schon, der Sohn des Se­na­tors.« Und ganz be­stimmt konn­te man dar­auf rech­nen, dass der an­de­re sag­te: »Der arme Teu­fel! Er wird gründ­lich aus­ge­zo­gen.«

Mut­ter Gril­lon, eine bra­ve Frau, die ihr Ge­schäft ver­stand, nann­te die bei­den »ihre Tur­tel­tau­ben« und schi­en durch de­ren ei­gen­tüm­li­che Vor­lie­be für ihr Haus sehr be­glückt zu sein.

Das Paar nä­her­te sich lang­sa­men Schrit­tes; die Bar­ke »Ma­de­lei­ne« lag be­reit, aber in dem Au­gen­blick, als sie ein­stei­gen woll­ten, ga­ben sie sich noch einen Kuss, was un­ter dem Pub­li­kum auf der Brücke all­ge­mei­nes Ge­läch­ter her­vor­rief.

Herr Paul griff zum Ru­der und fuhr gleich­falls zum Café »Frosch­teich.«

Als sie an­ka­men, war es ge­ra­de drei Uhr, und das große Re­stau­rant wim­mel­te von Men­schen.

Das mäch­ti­ge, mit ei­nem auf höl­zer­nen Säu­len ru­hen­den Te­er­da­che ver­se­he­ne Floss ist mit der herr­li­chen In­sel von Crois­sy durch zwei Ste­ge ver­bun­den, von de­nen der eine mit­ten auf die­ses Was­ser-Eta­blis­se­ment zu­führt, wäh­rend der an­de­re das äus­sers­te Ende des­sel­ben mit ei­nem win­zi­gen In­sel­chen ver­bin­det, auf wel­chem ein Baum ge­pflanzt ist und wel­ches den Na­men »Blu­men­topf« führt. Von da aus ge­langt man zu den Bade-Ka­bi­nen.

Herr Paul leg­te mit sei­nem Boot an der Längs­sei­te des Café’s an, er­klet­ter­te die Gal­le­rie die rings­um läuft und zog sei­ne Ge­fähr­tin mit den Hän­den em­por. Hier­auf setz­ten sich bei­de am Ende ei­nes Ti­sches ein­an­der ge­gen­über.

Auf der an­de­ren Sei­te des Flus­ses, wo der Lein­pfad ging, zog sich eine lan­ge Wa­gen­rei­he hin. Fia­ker wech­sel­ten mit ele­gan­ten Gum­mi-Equi­pa­gen ab. Jene un­för­mig und mit ih­rem mäch­ti­gen Kas­ten die Sprung­fe­dern zu­sam­mendrückend, wäh­rend sie von ei­ner Ro­si­nan­te mit hän­gen­dem Kop­fe und krum­men Kni­en müh­sam fort­ge­schleppt wur­den; die­se da­ge­gen ele­gant, von ed­len Ros­sen in bril­lan­ter Form, von de­ren Ge­biss der Schaum in dich­ten Flo­cken fiel, auf leich­ten Rä­dern da­hin­ge­zo­gen, wäh­rend der Kut­scher in ge­schmack­vol­ler Li­vree den Kopf fest auf dem ho­hen Kra­gen tra­gend von sei­nem Bock aus ta­del­los die Zü­gel führ­te und die Peit­sche un­be­weg­lich auf dem rech­ten Schen­kel auf­ge­setzt hat­te.

Eine Un­men­ge Men­schen pro­me­nier­te in Fa­mi­li­en, in grös­se­ren Trupps oder auch paar­wei­se und ein­zeln dem Ufer ent­lang. Sie pflück­ten Blu­men im Gra­se stie­gen an’s Was­ser her­un­ter, klet­ter­ten wie­der auf den Weg her­auf, und war­te­ten mas­sen­wei­se an ei­ner be­stimm­ten Stel­le auf den Fähr­mann. Unauf­hör­lich fuhr das ge­räu­mi­ge Boot her­über und hin­über, um die Aus­flüg­ler auf der In­sel ab­zu­set­zen.

Der Fluss­arm, (der tote Arm ge­nannt) auf wel­chem der Kahn den Ver­kehr ver­mit­tel­te, schi­en zu schla­fen, so schwach war sei­ne Strö­mung. Gan­ze Flot­ten von Yol­len, Skifs, See­len­trän­kern, Se­gel­boo­ten, Gigs und Fahr­zeu­gen al­ler Art und Form glit­ten über die stil­le Flä­che, bald sich kreu­zend, bald sich mit dem Kurs der an­de­ren ver­ei­nend; hier sties­sen zwei Boo­te an­ein­an­der, dort mach­te ein an­de­res durch einen kräf­ti­gen Ge­gen­sto­ss des Ru­ders plötz­lich Halt, um dann von Neu­em un­ter den schwel­len­den Arm­mus­keln sei­nes Füh­rers leb­haft vor­wärts zu glei­ten. Das Gan­ze glich ei­nem Ge­wim­mel von mun­tren, grü­nen, blau­en, ro­ten, gel­ben und wei­ßen Fi­schen.

Unauf­hör­lich ka­men neue Fahr­zeu­ge her­an, die einen strom­auf­wärts von Cha­tou, die an­de­ren strom­ab­wärts von Bou­gi­val; Ge­läch­ter, Ru­fen, Fra­gen, Ant­wor­ten und auch lau­te Flü­che mit­un­ter schall­ten über das Was­ser. Die Ru­de­rer lies­sen sich ihre schon ge­bräun­ten mus­ku­lö­sen Arme noch mehr von der Son­nenglut ver­bren­nen, wäh­rend auf dem Was­ser schwim­men­den exo­ti­schen Blu­men gleich die rot-, grün-, blau- oder gelb­sei­de­nen Son­nen­schir­me der Da­men, am Steu­er­ru­der das Hin­ter­teil der Boo­te zier­ten.

Hoch am Him­mel stand die bren­nen­de Ju­li­son­ne; die Luft schi­en mit lau­tem Ju­bel er­füllt, und kein Wind­hauch be­weg­te die Blät­ter der Pap­peln und Wei­den.

Gera­de­aus da un­ten tür­men sich die über­all sicht­ba­ren mäch­ti­gen Um­ris­se des Mont-Va­le­ri­en auf, wäh­rend zur Rech­ten die lieb­li­che Hü­gel­ket­te von Lou­ve­ci­en­nes sich im Halb­kreis an den Lauf des Flus­ses an­lehnt, und bald hier und dort aus dem rei­chen saf­ti­gen Grün ih­rer Gär­ten die blin­ken­den Mau­ern der Land­häu­ser her­vor­ra­gen.

Vor den Zu­gän­gen des Café Frosch­teich be­weg­ten sich zahl­rei­che Spa­zier­gän­ger un­ter den rie­si­gen Bäu­men, wel­che die­sen Win­kel der In­sel zu ei­nem der an­ge­nehms­ten von der Welt ma­chen. Blond­haa­ri­ge Halb­welt­da­men mit üp­pi­ger Brust und un­ver­hält­nis­mäs­si­gen Hüf­ten, be­mal­ten Wan­gen, ge­schwärz­ten Wim­pern und ge­färb­ten Lip­pen, eng­ge­schnürt und auf­fal­lend an­ge­zo­gen, ver­un­zier­ten mit ih­ren ge­schmack­lo­sen schrei­en­den Toi­let­ten das saf­ti­ge fri­sche Grün des Ra­sens, wäh­rend ne­ben ih­nen jun­ge Herr­chen in al­len Über­trei­bun­gen der Mode, hel­len Hand­schu­hen, Lackstie­fe­let­ten und fa­den­dün­nen Spa­zier­stöck­chen zu glän­zen such­ten, ihr al­ber­nes Lä­cheln mit ei­nem täp­pi­schen Fal­len­las­sen des Mo­no­cles be­glei­tend.

Gera­de bei dem Frosch­teich wird die In­sel schmal und am an­de­ren Ufer, von dem aus eben­falls eine Fäh­re den leb­haf­ten Ver­kehr mit Crois­sy ver­mit­telt, wälzt der le­ben­di­ge Fluss­arm vol­ler Stru­del, Wir­bel und Schaum­wel­len sei­ne brau­sen­den Flu­ten vor­über. Die Mann­schaf­ten ei­nes drü­ben sta­tio­nier­ten Pio­ni­er-De­ta­che­ments in ih­ren blau­en Uni­for­men hat­ten sich ne­ben­ein­an­der auf eine lan­ge Plan­ke ge­setzt und sa­hen dem Spiel der Wel­len zu.

In dem schwim­men­den Re­stau­rant wog­te eine tol­le lär­men­de Men­ge auf und ab. Die höl­zer­nen Ti­sche, auf de­nen das ver­schüt­te­te Ge­tränk klei­ne schmut­zi­ge Pfüt­zen bil­de­te, wa­ren mit halb­ge­leer­ten Glä­sern be­deckt, vor de­nen an­ge­trun­ke­ne Gäs­te sas­sen. Al­les schrie, sang und brüll­te. Die Män­ner, den Hut im Na­cken, das Ge­sicht ge­rötet und die trun­ke­nen Au­gen glän­zend, fan­den in die­sem Ge­schrei eine Be­frie­di­gung der dem Ro­hen ei­ge­nen Sucht nach Lärm. Die Wei­ber gin­gen auf Beu­te für den Abend aus und lies­sen sich einst­wei­len von ir­gend ei­nem Dum­men ihre Ze­che be­zah­len; zwi­schen den Ti­schen und Stüh­len trieb sich eine Schar lär­men­der Kahn­fah­rer mit ih­ren Beglei­te­rin­nen in kur­z­em Fla­nell­rock her­um.

Ei­ner von ih­nen setz­te sich an das Kla­vier und schi­en es mit Hän­den und Füs­sen zu be­ar­bei­ten; vier Paa­re tanz­ten eine Qua­dril­le, und jun­ge Leu­te, mo­dern und ele­gant an­ge­zo­gen, die bis auf ein ge­wis­ses Et­was für was Bes­se­res hät­ten gel­ten kön­nen, sa­hen ih­nen zu.

Man fin­det eben dort in vol­len Hau­fen den gan­zen Ab­schaum der Ge­sell­schaft, die gan­ze vor­neh­me Ver­bre­cher­welt, die gan­ze Fäul­nis des Pa­ri­ser Le­bens. Ein Ge­misch von Krä­mern, Schif­fern, ver­kom­me­nen Schrift­stel­lern, ver­lump­ten Edel­leu­ten, ver­krach­ten Bör­sia­nern, leicht­sin­ni­gen Ta­ge­die­ben und al­ten über­sät­tig­ten Le­be­män­nern; die gan­ze Ban­de von ver­däch­ti­gen Per­so­nen, halb ge­ach­tet, halb schon un­ter­ge­gan­gen, halb noch ge­ehrt, halb schon der Schan­de ver­fal­len, Spitz­bu­ben, Ta­ge­die­be, Zu­häl­ter, In­dus­trie­rit­ter mit re­spek­ta­blem Äus­sern, Gau­ner mit der Mie­ne ei­nes Bra­mar­bas, die zu sa­gen scheint: »Den ers­ten, der mir quer kommt, ma­che ich kalt.«

An die­sem Orte herrsch­te die Ro­heit, die Ver­kom­men­heit und die freie Lie­be. Aber den Män­nern und Wei­bern ist wohl da­bei. Eine sinn­li­che Luft weht durch die­sen Raum, man schlägt sich um ein But­ter­brot, um ein Nichts, um je­nen wurm­sti­chi­gen Rest von Ehre noch zu wah­ren, den man för­der­hin mit Pis­to­le oder De­gen nicht mehr ver­tre­ten kann.

Hin und wie­der er­schei­nen dort Sonn­tags ei­ni­ge neu­gie­ri­ge Be­woh­ner der Nach­bar­schaft; jun­ge Leu­te, sehr jung noch, tref­fen sich dort jähr­lich, um das Le­ben ken­nen zu ler­nen. Harm­lo­se Spa­zier­gän­ger ver­ir­ren sich nur vor­über­ge­hend in die­ses Lo­kal.

Nicht ohne Grund führt das Eta­blis­se­ment den Na­men »Frosch­teich.« Ne­ben dem über­dach­ten Flos­se und ganz nahe bei dem »Blu­men­topf« be­fin­det sich die Ba­de­an­la­ge. Die­je­ni­gen Mit­glie­der der dort ver­keh­ren­den »Da­men«-Welt, de­nen die Fül­le ih­rer For­men es ge­stat­tet, pfle­gen hier so ziem­lich in Evas Ko­stüm sich zu zei­gen und ihre Kund­schaft an­zu­lo­cken, wäh­rend die üb­ri­gen, we­ni­ger be­vor­zug­ten, ob­schon sie im Ba­de­man­tel vol­ler er­schei­nen und an ih­ren For­men bald hier et­was er­gänzt bald dort et­was be­sei­tigt ha­ben, mit Ent­rüs­tung die­sem Trei­ben ih­rer Kol­le­gin­nen zu­se­hen.

Auf ei­ner klei­nen Estra­de drän­gen sich die Tau­cher um den Kopf­sprung zu ma­chen; sie sind teils ma­ger wie die Scha­ka­le, teils rund wie die Kür­bis­se, knor­rig wie die Zwei­ge der Oli­ven­bäu­me, vor­wärts ge­krümmt oder rück­wärts ge­beugt je nach der Ent­wick­lung ih­res Lei­bes und alle durch die Bank häss­lich; bei ih­rem Sprun­ge spritzt das Was­ser oft bis zu den Ze­chern im Café her­auf.

Trotz der schat­ti­gen Bäu­me die das schwim­men­de Haus über­rag­ten und trotz der Nähe des Was­sers herrscht eine er­sti­cken­de Hit­ze in dem Rau­me. Der Dunst von ver­schüt­te­tem Al­ko­hol mischt sich mit der Aus­düns­tung der vie­len Men­schen und dem zwei­fel­haf­ten Duft der star­ken Par­füms, den die Die­ne­rin­nen der Lie­be in die­sem heis­sen Rau­me aus­strö­men. Aber alle die­se ver­schie­de­nen Gerü­che über­ragt ein leich­tes Aro­ma von Poud­re-de-Riz, bald stär­ker, bald schwä­cher, aber über­all be­merk­bar, als hät­te ir­gend eine ver­bor­ge­ne Hand fort­wäh­rend oben in der Luft eine Pu­der­quas­te ge­schüt­telt.

Das hüb­sche­s­te Schau­spiel bot der Fluss, auf dem die hin- und her­fah­ren­den Boo­te un­will­kür­lich das Auge an­zo­gen. Die Ru­de­rin­nen brüs­te­ten sich auf ih­ren Sit­zen ge­gen­über ih­ren stark­kno­chi­gen Beglei­tern, wäh­rend sie mit Ver­ach­tung die Dir­nen be­trach­te­ten, wel­che nach ei­nem Es­sen lüs­tern, auf der In­sel her­um­stri­chen.

Zu­wei­len, wenn ein flin­kes Boot mit al­ler Schnel­lig­keit vor­über­fuhr, sties­sen die Freun­de am Lan­de ein Bei­fall­ge­schrei aus, in das die gan­ze Men­ge mit lau­tem Ge­heul ein­stimm­te.

Im­mer neue Boo­te zeig­ten sich an der Bie­gung bei Cha­tou. Sie wur­den im Nä­her­kom­men grös­ser und grös­ser; und so­bald man die Ge­sich­ter er­ken­nen konn­te, er­tön­te neu­es Ge­schrei.

Ein über­dach­tes und von vier Mäd­chen be­setz­tes Boot kam lang­sam den Fluss her­un­ter. Die, wel­che die Ru­der führ­te, war klein, ma­ger und welk; sie trug ein Ma­tro­sen­ko­stüm und auf ih­rem dün­nen Haar einen gel­ben Stroh­hut. Ihr ge­gen­über lag eine star­ke Blon­di­ne, gleich­falls in Her­ren­klei­dern mit wei­ßer Fla­nell­wes­te, auf dem Rücken im Fond des Boo­tes, und stütz­te, eine Zi­ga­ret­te rau­chend ihre aus­ge­streck­ten Bei­ne auf die Bank zu bei­den Sei­ten der Ru­de­rin. Durch die Er­schüt­te­rung ging ihr bei je­dem Ru­der­schlag ein Zit­tern über Brust und Leib. Ganz hin­ten sas­sen un­ter dem Schutz­da­che zwei hüb­sche große schlan­ke Mäd­chen; eine Brü­net­te und eine Blon­di­ne; sie hiel­ten sich um­fan­gen und be­trach­te­ten un­auf­hör­lich ihre bei­den Ge­fähr­tin­nen.


»Aha! die Les­bie­rin­nen« er­scholl eine Stim­me in dem Re­stau­rant, und plötz­lich ent­stand ein leb­haf­tes Ge­schrei auf dem gan­zen Frosch­teich; al­les stiess und dräng­te sich, Glä­ser fie­len zur Erde, man stieg auf die Ti­sche, und al­les rief wie ra­send: »Les­bos, Les­bos, Les­bos!« Der Ruf roll­te wei­ter und wei­ter bis in un­be­stimm­te Fer­ne und bil­de­te zu­letzt nur noch ein un­kla­res Ge­heul, dann schi­en er sich plötz­lich von Neu­em zu er­he­ben, zum Äther em­por­zu­stei­gen, die Um­ge­gend zu be­de­cken, das dich­te Laub­werk der Bäu­me zu er­fül­len und sich end­lich in die Wol­ken zur Son­ne em­por­zu­sch­win­gen.

Die Ru­de­rin hat­te bei die­sem Ge­schrei ru­hig Halt ge­macht. Die große Blon­de im Fond des Boo­tes rich­te­te sich zur Hälf­te auf und wand­te nach­läs­sig den Kopf, wäh­rend die bei­den hüb­schen Mäd­chen im Hin­ter­grun­de die Men­ge mit lau­tem La­chen be­grüss­ten.

Da ver­dop­pel­te sich das Ge­brüll, so­dass der Bo­den der Ar­che zit­ter­te. Die Män­ner lüf­te­ten die Hüte, Frau­en zo­gen ihre Ta­schen­tü­cher und alle Stim­men, hell und dumpf, rie­fen ver­eint »Les­bos.« Man hät­te glau­ben sol­len, die­ser Pö­bel, die­ser Ver­bre­cher­hau­fe, grüss­te sei­ne An­füh­rer, wie ein Ge­schwa­der die Ge­schüt­ze löst, wenn ein Ad­mi­ral die Front der Schif­fe ab­fährt.

Die zahl­rei­che Boots-Flot­til­le grüss­te eben­falls mit lau­tem Bei­fall das Fahr­zeug die­ser Vie­re, wel­ches mit sei­ner schläf­ri­gen Be­we­gung sich lang­sam et­was wei­ter vom Frosch­teich ent­fern­te.

Im Ge­gen­satz zu den üb­ri­gen hat­te Herr Paul einen Schlüs­sel aus der Ta­sche ge­zo­gen, auf dem er aus Lei­bes­kräf­ten zu pfei­fen be­gann. Sei­ne Freun­din, er­regt und blei­cher wie ge­wöhn­lich, fass­te sei­nen Arm, um ihn zum Schwei­gen zu brin­gen, wo­bei ein ei­gen­tüm­li­ches Feu­er in ih­ren Au­gen glüh­te. Er aber schi­en aus­ser sich, wie von Ei­fer­sucht, von ei­nem tie­fen Zor­ne in­stink­ti­ver Ent­rüs­tung ge­sta­chelt.

»Das ist schmach­voll!« stam­mel­te er mit wut­be­ben­den Lip­pen. »Man soll­te sie mit ei­nem Stein am Hal­se wie Kat­zen er­säu­fen.«

Ma­de­lei­ne sprang plötz­lich mit Ent­rüs­tung auf; ihre an sich dün­ne Stim­me wur­de zi­schend und mit ei­nem Nach­druck, als gel­te es ihre ei­ge­ne Ver­tei­di­gung, sag­te sie:

»Geht’s Dich was an? Kön­nen sie als un­ab­hän­gi­ge Mäd­chen nicht ma­chen, was sie wol­len? Gib Ruhe mit Dei­nem Blöd­sinn und küm­me­re Dich um Dei­ne Sa­chen …«

»Das muss die Po­li­zei wis­sen,« un­ter­brach er sie, »ich wer­de sie nach Saint-La­za­re brin­gen; das wer­de ich.«

»Du?« sag­te sie schau­dernd.

»Ja, ich! Und ich ver­bie­te Dir, wei­ter von ih­nen zu re­den; ich ver­bie­te es Dir, hörst Du!«

»Lie­ber Klei­ner!« sag­te sie, plötz­lich ganz ru­hig ge­wor­den, un­ter Ach­sel­zu­cken »ich wer­de tuen, was mir be­liebt; wenn Dir das nicht ge­fällt, so geh wei­ter, aber so­fort. Ich bin Dei­ne Frau nicht, ver­stehst Du. Also hübsch be­schei­den!«

Er wür­dig­te sie kei­ner Ant­wort und sie blie­ben sich ge­gen­über sit­zen mit zor­nig be­ben­den Lip­pen und wo­gen­dem Atem.

In­zwi­schen wa­ren am and­ren Ende des großen schwim­men­den Café’s die vier Wei­ber ge­lan­det; die zwei als Män­ner ge­klei­de­ten gin­gen vor­aus. Die klei­ne ma­ge­re, die wie ein halb­er­wach­se­nes Bür­sch­chen aus­sah, hat­te gel­be Fle­cken an den Schlä­fen; die an­de­re, die mit ih­rem Fet­te ih­ren wei­ßen Fla­nell-An­zug ganz aus­füll­te, des­sen wei­te Bein­klei­der sich von den Hüf­ten an wie Se­gel auf­bläh­ten, wat­schel­te mit ih­ren flei­schi­gen Bei­nen und den krum­men Kni­en wie eine ge­mä­s­te­te Gans. Die bei­den Freun­din­nen folg­ten ih­nen und die Schar der Kahn­fah­rer eil­te ih­nen die Hän­de zu schüt­teln.

Sie hat­ten eine klei­ne Lau­be nahe am Was­ser be­setzt und be­nah­men sich dort rich­tig wie zwei ge­trenn­te Me­na­gen.

Ihre Lei­den­schaft war be­kannt; alle Welt wuss­te dar­um. Man sprach da­von wie von ei­ner ganz na­tür­li­chen Sa­che, die ih­nen so­gar viel­fach Sym­pa­thi­en er­weck­te; und ganz im Ge­hei­men er­zähl­te man sich selt­sa­me Ge­schich­ten von hef­ti­gen Sze­nen, die aus ra­sen­der weib­li­cher Ei­fer­sucht ent­stan­den wa­ren, von heim­li­chen Be­su­chen be­kann­ter Frau­en, Schau­spie­le­rin­nen, in dem klei­nen Hau­se am Was­ser.

Ein Nach­bar, dem der nächt­li­che Lärm zu toll ge­wor­den war, hat­te die Gens­dar­me­rie in Kennt­nis ge­setzt und der Bri­ga­dier, be­glei­tet von ei­nem Man­ne, hat­te eine Un­ter­su­chung an­ge­stellt. Es war eine de­li­ka­te Mis­si­on, der er sich un­ter­zog; im Üb­ri­gen konn­te man die­sen We­sen, die sich nicht der Pro­sti­tu­ti­on er­ga­ben nichts vor­wer­fen. Der Bri­ga­dier, sehr ver­le­gen und mit der Na­tur des ver­mut­li­chen De­likts nur halb ver­traut, hat­te aufs Ge­ra­te­wohl ein Ver­hör an­ge­stellt, und in ei­nem lang­at­mi­gen Be­richt über das­sel­be die Un­schuld der Be­tref­fen­den fest­ge­stellt.

Man lach­te über die­sen Be­richt bis nach Saint-Ger­main. Lang­sam mit kö­nig­li­chem Schritt durch­mas­sen die Vier das Café Frosch­teich. Sie schie­nen stolz auf ih­ren Ruf, glück­lich über die auf sie ge­hef­te­ten Bli­cke und er­ha­ben über die­se wüs­te pö­bel­haf­te Men­ge.

Ma­de­lei­ne und ihr Lieb­ha­ber sa­hen sie kom­men und wie­der blitz­te das Feu­er in dem Auge des Mäd­chens auf.

Als die bei­den ers­ten in die Nähe des Ti­sches ka­men rief Ma­de­lei­ne: »Pau­li­ne!«

Die Di­cke wand­te sich um, blieb ste­hen und sag­te ohne den Arm ih­res weib­li­chen Ma­tro­sen los­zu­las­sen:

»Sie da! Ma­de­lei­ne … Komm doch ich möch­te Dir was sa­gen, Schatz;«

Paul um­klam­mer­te die Hand sei­ner Freun­din; aber die­se sag­te ihm mit so be­deu­tungs­vol­ler Mie­ne: »Weißt Du, Klei­ner, Du kannst ge­hen,« dass er schwieg und al­lein sit­zen blieb.

Die drei plau­der­ten hier­auf im Ste­hen ganz lei­se mit­ein­an­der. Ein ver­gnüg­tes Lä­cheln schweb­te auf ih­ren Lip­pen; sie spra­chen sehr has­tig, und zu­wei­len streif­te Pau­li­ne den ein­sa­men Paul mit ei­nem bos­haf­ten über­mü­ti­gen Blick.

End­lich hat­te die­ser ge­nug da­von, er­hob sich und stand mit ei­nem Satz, an al­len Glie­dern zit­ternd, vor den drei Wei­bern.

»Komm,« sag­te er Ma­de­lei­ne an der Schul­ter pa­ckend, »ich will es; ich habe Dir ver­bo­ten, mit die­sen Weibs­bil­dern da zu re­den.«

Aber nun er­hob Pau­li­ne ihre Stim­me und be­gann ihr gan­zes Ar­se­nal an ge­mei­nen Re­dens­ar­ten ge­gen ihn zu ver­schleu­dern. Man lach­te al­lent­hal­ben, man rück­te nä­her und stell­te sich auf die Fuss­pit­zen, um bes­ser hö­ren und se­hen zu kön­nen. Er wur­de ganz sprach­los bei die­ser Sint­flut von Schmä­hun­gen ge­meins­ter Art; es war ihm als ob die Wor­te, die aus die­sem Mun­de auf ihn fie­len, ihn wie Un­rat be­schmutz­ten. Er wich dem be­gin­nen­den Skan­da­le aus und wand­te sich dem Ge­län­der zu, über das er sich beug­te und so den drei Wei­bern den Rücken kehr­te.

Dort blieb er und starr­te ins Was­ser wäh­rend er sich zu­wei­len mit ei­ner has­ti­gen Be­we­gung sei­ner ner­vö­sen Hand eine Trä­ne aus dem Auge wisch­te.

Er war näm­lich, ohne zu wis­sen warum, trotz sei­nes Zart­ge­fühls, trotz sei­nes Ver­stan­des, und trotz sei­nes bes­se­ren Wol­lens ver­liebt, wahn­sin­nig ver­liebt so­gar. Die­se Lie­be hat­te ihn mit­ge­ris­sen wie der Wir­bel im Stro­me. Von Na­tur aus weich und emp­find­sam, hat­te er von ganz idea­len Ver­hält­nis­sen ge­träumt, die auf wah­rer Zu­nei­gung be­ruh­ten; und nun hat­te die­ser Heuschreck von ei­nem Mäd­chen, roh und un­ge­bil­det wie alle Ihres­glei­chen, und zwar von ei­ner ab­schre­cken­den er­bit­tern­den Ro­heit, die­ses Mäd­chen, das nicht ein­mal hübsch, son­dern ma­ger und reiz­bar war, ihn ganz be­fan­gen. Er ge­hör­te ihr von Kopf bis zu den Füs­sen mit Leib und See­le. Er war ein Skla­ve je­ner eben­so ge­heim­niss­vol­len wie all­mäch­ti­gen Zau­ber­kraft des Wei­bes ge­wor­den, je­ner un­be­kann­ten Macht, je­ner zü­gel­lo­sen Herr­schaft, von der nie­mand weiß, wo­her sie kommt; je­nes Dä­mons des Flei­sches, der den wei­ses­ten Mann zu den Füs­sen ir­gend ei­ner Dir­ne wirft, ohne dass man sich den Grund ih­rer Zau­ber­macht und ih­rer An­zie­hungs­kraft er­klä­ren kann.

Und da drü­ben, hin­ter sei­nem Rücken – das fühl­te er in­stink­tiv – wur­de ir­gend eine Ge­mein­heit aus­ge­brü­tet. Das La­chen von dort­her schnitt ihm ins Herz. Was soll­te er tuen? Ach, er wuss­te es nur zu gut; aber es fehl­te ihm der Mut dazu.

Er be­trach­te­te un­ver­wandt einen Fi­scher, der re­gungs­los wie ein Pfahl am jen­sei­ti­gen Ufer stand.

Plötz­lich zog der­sel­be mit ei­nem Ruck einen klei­nen sil­ber­glän­zen­den Fisch aus dem Was­ser, der hef­tig an der An­gel zap­pel­te. Je­ner ver­such­te nun den Wi­der­ha­ken los­zu­ma­chen, wo­bei er ihn dreh­te und wand­te, aber ver­geb­lich; da riss ihm die Ge­duld und mit ei­ner hef­ti­gen Be­we­gung zog er den blu­ti­gen Sch­lund und einen Teil der Ein­ge­wei­de des ar­men Tie­res her­aus. Paul schau­der­te, als ob ihm selbst das Herz zer­ris­sen wür­de. Für ihn, den Fisch, war die Lie­be der Wi­der­ha­ken, und mit ihm riss man ihm eben­falls sein gan­zes In­ne­re her­aus wie an ei­ner An­gel­schnur, die Ma­de­lei­ne in der Hand hielt.

Eine Hand leg­te sich auf sei­ne Schul­ter, und schau­dernd wand­te er sich um; sei­ne Ge­lieb­te stand hin­ter ihm. Sie wech­sel­ten kein Wort und sie lehn­te sich gleich ihm über das Ge­län­der die Au­gen auf den Fluss ge­hef­tet.

Er such­te nach Wor­ten; aber er fand kei­ne; nicht ein­mal sei­ne Ge­dan­ken konn­te er aus­ein­an­der­hal­ten. Al­les, was er deut­lich emp­fand, war die Freu­de, sie wie­der bei sich zu wis­sen; es über­kam ihn eine schimpf­li­che Schwä­che, ein Be­dürf­nis, al­les zu ver­zei­hen und al­les zu er­lau­ben, wenn sie nur bei ihm blieb.

End­lich nach ei­ni­gen Mi­nu­ten frag­te er sie mit sanf­ter Stim­me:

»Wol­len wir nicht fort­ge­hen? Ich glau­be, auf dem Was­ser wird es hüb­scher sein.«

»Ja mein Herz!« ant­wor­te­te sie.

Und er half ihr beim Ein­stei­gen ins Boot, in­dem er sie stütz­te, wo­bei er ihr, noch ei­ni­ge Trä­nen im Auge, zärt­lich die Hand drück­te. Sie sah ihn lä­chelnd an und sie küss­ten sich aufs Neue.

Lang­sam fuh­ren sie strom­auf­wärts dem wei­den­be­setz­ten Ufer ent­lang; sei­ne grü­nen­den Rän­der la­gen träu­mend und ru­hig in der Glut der Nach­mit­tags­son­ne.

Als sie wie­der beim Re­stau­rant Gril­lon an­ka­men, war es eben sechs Uhr; sie gin­gen nun, nach­dem sie das Boot ver­las­sen, auf der In­sel, durch grü­nen­de Wie­sen längs der Pap­pel­rei­he des Ufers nach Be­z­ons zu.

Die großen zum Mä­hen rei­fen Gras­flä­chen wa­ren mit Blu­men über­sä­et, auf wel­che die sin­ken­de Son­ne ihre röt­li­chen Strah­len warf; süs­ser Wohl­ge­ruch ent­stieg in der mil­den Wär­me des zur Rüs­te ge­hen­den Ta­ges den Bo­den und misch­te sich mit den feuch­ten Düns­ten des Was­sers. Es war, als la­ge­re eine un­sicht­ba­re Wol­ke von weich­li­chem woh­li­gen Glück und stil­lem Be­ha­gen über der Erde.

Die­ser ru­hi­ge Glanz der Abend­son­ne, die­ser ge­heim­nis­vol­le Schau­er erster­ben­den Le­bens mit sei­ner le­ben­di­gen me­lan­cho­li­schen Fan­ta­sie, der Pflan­zen und We­sen er­grif­fen und sich über al­les aus­ge­brei­tet zu ha­ben schi­en, muss­te un­will­kür­lich auch dem Men­schen­her­zen in die­ser Stun­de den Stem­pel sei­nes stil­len Glückes auf­drücken.

Paul emp­fand das auch leb­haft, wäh­rend sie das al­les nicht be­rühr­te. Sie gin­gen ne­ben­ein­an­der und plötz­lich be­gann sie, des Schwei­gens müde, zu sin­gen. Sie sang mit dün­ner, falscher Stim­me ir­gend einen Gas­sen­hau­er, der ihr ge­ra­de durch den Kopf ging, und der einen grel­len Miss­klang in die­se tie­fe rei­ne Har­mo­nie des Abends brach­te.

Er sah sie an, und fühl­te jetzt, dass eine un­über­wind­li­che Kluft zwi­schen ih­nen be­stand. Sie aber schlug un­be­küm­mert die Grä­ser mit ih­rem Son­nen­schirm ab, und be­trach­te­te, den Kopf ein we­nig nei­gend, ihre Schu­he; da­bei sang sie ru­hig wei­ter, hielt die Schluss­no­ten un­ver­hält­nis­mäs­sig lan­ge an und ver­such­te sich so­gar schliess­lich in Läu­fen und Tril­lern.

Ihr klei­ner zier­li­cher Kopf, den er so zärt­lich lieb­te, war also leer, leer von ir­gend­wel­chen idea­le­ren Emp­fin­dun­gen. Nichts hat­te dar­in Platz, als höchs­tens die­se Gas­sen­hau­er-Mu­sik; und die Ge­dan­ken, die sich sonst noch dar­in bil­den moch­ten, sa­hen der­sel­ben ähn­lich. Sie hat­te kein Ver­ständ­nis für ihn; sie stan­den sich frem­der ge­gen­über, als wenn sie je­mals zu­sam­men ge­lebt hät­ten. Ihre Küs­se reich­ten also nicht wei­ter wie ihre Lip­pen!

Da hob sie lä­chelnd die Au­gen zu ihm em­por und so­fort war er wie­der aufs In­ners­te be­wegt. Er öff­ne­te die Arme und schloss sie mit neu­er­wa­chen­der Lie­be zärt­lich an sein Herz.

Sie schob ihn schliess­lich zu­rück, als sie sah, dass er ihr Kleid zer­drück­te und sag­te da­bei be­gü­ti­gend: »Geh, Schatz! Du weißt ja, dass ich Dich lie­be.«

Aber er hielt sie um­schlun­gen, und ganz von Sin­nen be­gann er mit ihr da­von­zu­lau­fen, wo­bei er sie im­mer wie­der auf Wan­ge, Schlä­fen, Hals und Lip­pen küss­te. Keu­chend mach­ten sie schliess­lich vor ei­nem Ge­bü­sche Halt, wel­ches die letz­ten Strah­len der Abend­son­ne ver­gol­de­te und, noch ganz aus­ser Atem, kos­te­ten sie dar­in den Be­cher der Lie­be bis zur Nei­ge, ohne dass sie ih­rer­seits sich die­ses plötz­li­che Über­wal­len sei­ner Ge­füh­le er­klä­ren konn­te.

Hand in Hand ka­men sie zu­rück, als sie plötz­lich durch das Laub der Bäu­me hin­durch auf dem Flus­se das Boot der vier Les­bie­rin­nen be­merk­ten. Auch sie wur­den von der di­cken Pau­li­ne be­merkt, die sich um­wand­te und Ma­de­lei­ne Kuss­hän­de her­über­schick­te, wor­auf sie noch rief: »Heu­te Abend also.«

»Ja­wohl, heu­te Abend« ant­wor­te­te die­se.

Paul fühl­te plötz­lich sein Herz zu Eis er­star­ren.

Sie gin­gen zum Es­sen zu­rück. Un­ter ei­ner der Lau­ben am Was­ser lies­sen sie sich nie­der und ver­zehr­ten still­schwei­gend ihr Mahl. Als es zu dun­keln be­gann, brach­te man ein Licht, das zum Schutz ge­gen den Luft­zug in ei­nem grü­nen Gla­se brann­te und ihre Ge­sich­ter mit ei­nem fah­len Schim­mer über­goss. Alle Au­gen­bli­cke hör­te man das schal­len­de Ge­läch­ter der Kahn­fah­rer aus dem Saal des ers­ten Stockes her­über­schal­len.

Beim Des­sert er­griff Paul zärt­lich Ma­de­lei­nes Hand und sag­te: »Ich füh­le mich sehr müde; wenn es Dir recht ist, wol­len wir bei Zei­ten schla­fen ge­hen.

Aber sie hat­te sei­ne List ver­stan­den und warf ihm einen je­ner schar­fen durch­drin­gen­den Bli­cke zu, die so oft plötz­lich im Auge der Frau auf­zut­au­chen pfle­gen.

»Du kannst Dich schla­fen le­gen,« sag­te sie nach kur­z­em Be­sin­nen, »wann es Dir be­liebt; ich habe noch ver­spro­chen nach dem Frosch­teich zum Tanz zu kom­men.«

Ein kläg­li­ches Lä­cheln um­spiel­te sei­ne Lip­pen, ein Lä­cheln mit dem man die tiefs­ten Lei­den zu ver­schlei­ern sucht, als er jetzt im trü­ben aber zärt­li­chen Tone sag­te: »Wenn Du lieb wä­rest, könn­ten wir bei­de hier blei­ben.« Ohne den Mund zu öff­nen, mach­te sie mit dem Kop­fe eine ab­wei­sen­de Be­we­gung. Er wur­de drin­gen­der.

»Ich bit­te Dich drum, Lieb­chen!«

»Du weißt,« sag­te sie brüsk, »was ich ge­sagt habe. Wenn Du nicht Ruhe gibst, so ist der Weg frei. Es hält Dich nie­mand. Was mich be­trifft, so habe ich es ver­spro­chen und ich wer­de ge­hen.«

Er stütz­te bei­de El­len­bo­gen auf den Tisch, senk­te das Haupt auf die Hän­de und starr­te sie eine Wei­le trau­rig an.

Die Kahn­fah­rer ka­men in­des­sen un­ter mun­trem La­chen her­un­ter, und be­stie­gen ihre Fahr­zeu­ge, um den Ball im »Frosch­teich« nicht zu ver­säu­men.

»Ent­schei­de Dich, ob Du mit­kommst«, sag­te Ma­de­lei­ne zu ih­rem Beglei­ter, »sonst bit­te ich einen der Her­ren, mich mit­zu­neh­men.«

»Lass uns ge­hen« mur­mel­te Paul sich er­he­bend. Und sie gin­gen.

Die Nacht war ster­nen­hell, die Luft wür­zig und von mil­dem, süs­sen Hauch be­wegt, der lind die Stirn um­schmei­chel­te.

Die Boo­te setz­ten sich, eine bun­te La­ter­ne am Stern füh­rend, in Be­we­gung«. Man konn­te die ein­zel­nen Fahr­zeu­ge nicht un­ter­schei­den, son­dern sah nur die zahl­lo­sen bun­ten Lich­ter auf dem Was­ser auf- und ab­tan­zend, lang­sam da­hinglei­ten, so­dass man hät­te glau­ben kön­nen, ein Ge­wim­mel von Irr­lich­tern vor sich zu ha­ben, wenn nicht das rohe Ge­läch­ter der Kahn­fah­rer die An­we­sen­heit von Men­schen ver­kün­det hät­te.

Pauls Boot glitt lang­sam da­hin. Zu­wei­len, wenn ein frem­des Boot dem ih­ri­gen zu nahe kam, be­merk­ten sie plötz­lich im Schim­mer der La­ter­ne den wei­ßen Rücken sei­nes Füh­rers.

Als sie die Bie­gung des Flus­ses er­reicht hat­ten, sa­hen sie von wei­tem den »Frosch­teich« vor sich lie­gen. Das Eta­blis­se­ment war mit Guir­lan­den von bun­ten Lam­pen und Licht­glo­cken fest­lich ge­schmückt. Auf der Sei­ne schwam­men ei­ni­ge große Fäh­ren, wel­che Kup­peln, Py­ra­mi­den und an­de­re wun­der­ba­re Auf­baue in al­ler­lei Far­ben tru­gen. Flam­men­de Ge­win­de zo­gen sich bis zum Ufer her­ab; und ei­ni­ge rote oder blaue Fa­ckeln, von ei­ner mäch­ti­gen un­sicht­ba­ren Pech­pfan­ne ge­nährt, sa­hen von wei­tem wie frei­schwe­ben­de Ster­ne aus.

Die­se im­po­san­te Be­leuch­tung ver­brei­te­te ein hel­les Licht rings um das gan­ze Café, be­strahl­te die ho­hen Ufer­bäu­me von un­ten bis oben, so­dass nur ihre Wur­zeln in ei­nem blei­chen Grau ver­schwan­den, wäh­rend die Blät­ter mit ih­rem fah­len Grün sich wun­der­bar von dem tie­fen Schwarz des Him­mels ab­ho­ben.

Das Or­che­s­ter be­stand aus fünf Vor­stadt-Mu­si­kern, und schon von wei­tem hör­te man sei­ne dün­ne quie­ken­de und gel­len­de Mu­sik, bei de­ren Tö­nen Ma­de­lei­ne aufs Neue zu sin­gen be­gann.

Sie woll­te so­fort her­ein­ge­hen; Paul hät­te zwar vor­her einen Gang auf der In­sel ge­macht, muss­te aber wie im­mer, nach­ge­ben.

Die Ge­sell­schaft hat­te sich et­was ge­klärt; es wa­ren fast nur die Kahn­fah­rer, ei­ni­ge we­ni­ge Bür­ger und eine An­zahl jun­ger Leu­te mit ih­ren Mäd­chen zu­rück­ge­blie­ben. Der Di­rek­tor und Lei­ter die­ses Kan­k­ans, der sehr wür­dig in schwar­zem Frack, mit sei­nem ver­wit­ter­ten Ge­sicht und dem gan­zen Ha­bi­tus ei­nes Ver­gnü­gungs-Kom­missars der al­ten Zeit, ein­her­ging, hat­te es nicht schwer, sich hier An­se­hen zu ver­schaf­fen.

Paul at­me­te er­leich­tert auf, als er die di­cke Pau­li­ne und ihre Ge­fähr­tin nicht hier fand.

Der Tanz be­stand dar­in, dass sich die Paa­re ge­gen­über be­weg­ten, die tolls­ten Sprün­ge mach­ten und mit ih­ren Fuss­s­pit­zen wo­mög­lich un­ter der Nase ih­res Ge­gen­übers her­um­fuh­ren. Die »Da­men,« de­ren Glie­der aus den Ge­len­ken ge­löst zu sein schie­nen, hat­ten ihre Klei­der hoch­ge­ho­ben und zeig­ten ihre Un­ter­rö­cke. Ihre Bei­ne wir­bel­ten sie mit über­ra­schen­der Leich­tig­keit um den Kopf; sie wieg­ten ih­ren Leib, wa­ckel­ten mit den Hüf­ten, und schüt­tel­ten die Brust, wo­bei sie sich so leb­haft um sich selbst dreh­ten, dass sie schliess­lich in Schweiß ge­ba­det wa­ren.

Die »Her­ren« hock­ten sich wie die Krö­ten mit zwei­fel­haf­ten Ge­bär­den nie­der, ver­dreh­ten un­ter scheuss­li­chen Gri­mas­sen ih­ren Kör­per, schlu­gen ein Rad über der Hand oder such­ten die Ko­mik in über­trie­ben stei­fer Hal­tung und ei­ner lä­cher­li­chen Gran­dez­za.

Eine di­cke Kell­ne­rin und zwei Kell­ner sorg­ten für die Wün­sche der Gäs­te.

Merk­wür­dig in der Tat hob sich von der fried­li­chen Stil­le der Nacht un­ter dem ru­hi­gen Ster­nen­him­mel die­ses Schiffs­kaf­fee ab, das, nur mit ei­nem Da­che ver­se­hen, durch kei­ne Schran­ke von der Aus­sen­welt ge­trennt, die­sem zü­gel­lo­sen Tan­ze als Stät­te diente.

Plötz­lich schi­en sich der alte Mont-Va­le­ri­en da un­ten zu er­hel­len, als ob in sei­nem Rücken eine Feu­ers­brunst ent­stan­den wäre. Die­se Hel­lig­keit wur­de im­mer grös­ser und schär­fer, drang hö­her zum Him­mel hin­auf und be­schrieb mit ih­rem fah­len weiß­li­chen Schim­mer einen großen Licht­kreis. Dann zeig­te sich et­was Ro­tes, wur­de grös­ser und bren­nend wie ge­schmol­ze­nes Me­tall, bis es die Ge­stalt ei­ner Ku­gel an­nahm, die von der Erde em­por­stieg. Es war der Mond, der sich als­bald vom Ho­ri­zont ab­lös­te, um lang­sam sei­ne Him­mels­bahn zu wan­deln. Je wei­ter er auf­stieg, umso mehr schwand sein pur­pur­ner Schim­mer, und sein Licht wur­de gel­ber; es war ein lich­tes auf­fal­len­des Gelb. Auf der zu­rück­ge­leg­ten Bahn wa­ren die Ster­ne ver­lo­schen.

Paul sah ihm lan­ge zu und hat­te, in sei­ner Be­trach­tung ver­lo­ren, sei­ne Ge­fähr­tin ganz ver­ges­sen. Als er sich um­sah, war sie ver­schwun­den.

Ver­geb­lich such­te er nach ihr, in­dem er sein un­stä­tes Auge ängst­lich über alle Ti­sche schwei­fen ließ, und auch wohl die­sen oder je­nen nach ihr frag­te. Nie­mand hat­te sie in­des­sen ge­se­hen.

So irr­te er voll quä­len­der Un­ru­he um­her, als ihm ei­ner der Kell­ner sag­te:

»Sie su­chen Ma­da­me Ma­de­lei­ne, nicht wahr? So­eben ist sie mit Ma­da­me Pau­li­ne fort­ge­gan­gen.« Und in dem­sel­ben Au­gen­blick sah er auch am an­de­ren Ende des Café den Ma­tro­sen und die bei­den hüb­schen Mäd­chen, wel­che sich alle drei um­fasst hiel­ten und ihn flüs­ternd be­trach­te­ten.

Er ver­stand und stürz­te wie ein Ra­sen­der auf die In­sel hin­aus.

Zu­erst lief er auf Cha­tou zu; aber vor der Wie­se mäs­sig­te er sei­ne Schrit­te. Dann be­gann er wie traum­ver­lo­ren durch das dich­te Ge­büsch zu strei­fen, in­dem er hin und wie­der ste­hen blieb, um zu hor­chen.

Über­all lies­sen rings­um die Un­ken ih­ren kur­z­en kla­gen­den Ruf er­schal­len.

Von Bou­gi­val her er­tön­te der ein­för­mi­ge Ge­sang ir­gend ei­nes frem­den Vo­gels nur schwach bei der Ent­fer­nung ver­nehm­bar. Auf dem wei­ten Ra­sen ver­brei­te­te der Mond sein mil­des Licht, so­dass er wie mit Wat­te be­deckt schi­en. Die­ses Licht drang durch das Blät­ter­werk, ver­sil­ber­te das Laub der Pap­peln, und ver­gol­de­te die flüs­tern­den Wip­fel der großen Bäu­me. Die be­rau­schen­de Poe­sie die­ses Som­mer­abends pack­te Paul trotz sei­nes Sträu­bens, sie mil­der­te sei­ne tö­rich­te Furcht und trieb ihr Spiel mit sei­nem Her­zen, in­dem sie in sei­nem sanf­ten und sin­nen­den Ge­mü­te das idea­le Ver­lan­gen nach Lie­be und lei­den­schaft­li­cher Er­wi­de­rung im Bu­sen ei­ner an­ge­be­te­ten und treu­en Ge­lieb­ten bis zur Ra­se­rei stei­ger­te.


Sei­ne wild und stür­misch her­vor­bre­chen­den Trä­nen zwan­gen ihn, ste­hen zu blei­ben.

Als der An­fall vor­über war, ging er wei­ter. Plötz­lich durch­drang es ihn wie ein Mes­ser­stich: Man küss­te sich da hin­ten im Ge­büsch. Er lief hin, und sah ein Lie­bespär­chen, wel­ches durch sei­ne An­nä­he­rung aus ei­ner lan­gen in­ni­gen Umar­mung auf­ge­scheucht, sich schleu­nigst ent­fern­te.

Er wag­te nicht, nach Ma­de­lei­ne zu ru­fen, denn er wuss­te nur zu gut, dass sie ihm nicht ant­wor­ten wür­de; und zu­gleich hat­te er eine schreck­li­che Angst da­vor, sie plötz­lich zu ent­de­cken.

Die Töne der Qua­dril­le mit den schril­len Pi­ston-So­los, das falsche Ge­quie­ke der Kla­ri­net­te, die krei­schen­de Stim­me der Vio­li­ne zer­ris­sen sein Herz und stei­ger­ten sein Elend. Die wil­de lär­men­de Mu­sik klang bald stär­ker bald schwä­cher durch die Räu­me, je nach­dem ein Wind­sto­ss sie her­über­trug oder nicht.

Plötz­lich frag­te er sich, ob »sie« viel­leicht zu­rück­ge­kehrt wäre? Ja, sie war je­den­falls zu­rück­ge­kom­men! Wa­rum soll­te sie auch nicht? Er hat­te ohne Grund den Kopf ver­lo­ren, hat­te sich ganz sinn­los von sei­nem Schre­cken fort­reis­sen las­sen, und ohne Über­le­gung ei­nem halt­lo­sen Ver­dach­te Raum ge­ge­ben.

Und von je­ner selt­sa­men Ruhe er­grif­fen, die zu­wei­len der gröss­ten Verzweif­lung folgt, kehr­te er zum Bal­le zu­rück.

Mit ei­nem Blick durch­flog er den Saal; sie war nicht dort. Er mach­te einen Gang um die Ti­sche und sah sich plötz­lich aufs Neue den drei Wei­bern ge­gen­über. Er moch­te je­den­falls eine sehr ver­zwei­fel­te ko­mi­sche Mie­ne ha­ben, denn alle drei bra­chen gleich­zei­tig in lau­tes La­chen aus.

Er stürz­te da­von und be­gann wie­der­um atem­los die Ge­bü­sche der In­sel zu durch­for­schen. Dann horch­te er aufs Neue – er lausch­te lan­ge, denn sei­ne Ohren saus­ten; und schliess­lich glaub­te er et­was wei­ter ein leich­tes durch­drin­gen­des La­chen zu hö­ren, wel­ches er nur zu gut kann­te. Ganz lei­se schob er sich vor­wärts, vor­sich­tig die Zwei­ge aus­ein­an­der­bie­gend; sein Herz schlug so hef­tig, dass er kaum noch at­men konn­te.

Zwei Stim­men mur­mel­ten Wor­te, die er noch nicht ver­ste­hen konn­te. Dann schwie­gen sie.

Da er­griff ihn ein mäch­ti­ger Drang zu flie­hen, nichts zu se­hen und nichts zu er­fah­ren, sich für im­mer von die­ser tö­rich­ten ver­zeh­ren­den Lei­den­schaft los­zu­reis­sen. Er woll­te nach Cha­tou ge­hen, den Zug nach Pa­ris be­stei­gen und nie­mals zu ihr zu­rück­keh­ren, sie nie­mals wie­der­se­hen. Aber nun er­griff ihn wie­der die Ein­bil­dungs­kraft und er stell­te sich im Geis­te vor, wie sie am Mor­gen in ih­rem wei­chen war­men Bet­te er­wa­chend sich zärt­lich an ihn schmie­gen und ihn um­ar­men wür­de, er sah sie mit ih­ren auf­ge­lös­ten Haa­ren, ih­ren halb­ge­schlos­se­nen Au­gen und den zum ers­ten Mor­gen­kuss be­rei­ten Lip­pen. Und bei der Erin­ne­rung an die­se so oft er­leb­te Sze­ne er­griff ihn hef­ti­ger Schmerz und neu­es Ver­lan­gen.

Er hör­te aufs Neue spre­chen und tief ge­bückt schlich er wei­ter vor. Da tön­te ein leich­ter Auf­schrei ganz dicht vor ihm un­ter den Zwei­gen her­vor. Ein Auf­schrei! Ei­ner je­ner Lie­bes­schreie, wie er sie so oft in frü­he­ren Ko­se­stun­den ver­nom­men. Im­mer wei­ter, im­mer lei­ser schlich er vor; un­wi­der­steh­lich trieb es ihn ins Ge­büsch, ohne dass er sich selbst noch Re­chen­schaft von sei­nem Han­deln gab, und … da sah er sie vor sich.

Oh, wenn es ein Mann ge­we­sen wäre, der an­de­re da! Aber so! so! Er war wie ge­bannt von die­ser Schänd­lich­keit. Un­be­weg­lich, be­sin­nungs­los stand er da, als wenn er plötz­lich einen teu­ren Leich­nam ge­schän­det vor sich ge­se­hen hät­te, als wenn er ein un­na­tür­li­ches Ver­bre­chen, eine ent­setz­li­che him­mel­schrei­en­de Ent­wei­chung ent­deck­te.

Da fiel ihm ganz un­will­kür­lich der klei­ne Fisch ein, des­sen Ein­ge­wei­de er hat­te her­aus­reis­sen se­hen … Aber Ma­de­lei­ne mur­mel­te ge­ra­de »Pau­li­ne!« mit dem­sel­ben lei­den­schaft­li­chen Tone wie sie sonst »Paul« zu ihm sag­te, und er wur­de von so tie­fem Schmerz er­grif­fen, dass er aus Lei­bes­kräf­ten da­von­lief.

Er rann­te an ver­schie­de­ne Bäu­me, stürz­te über eine Wur­zel, raff­te sich wie­der auf und stand plötz­lich am Flus­se, vor dem le­ben­den Arm. Der brau­sen­de Strom bil­de­te hier große Wir­bel, in de­nen sich das tan­zen­de Licht des Mon­des spie­gel­te. Das hohe Ufer über­rag­te an die­ser Stel­le das Was­ser wie eine Mau­er; ein dunk­ler Strei­fen un­ter­halb des­sel­ben be­zeich­ne­te die Stel­le, wo sich im tie­fen Schat­ten das Stau­was­ser des Flus­ses bil­de­te.

Am and­ren Ufer er­ho­ben sich in vol­ler Klar­heit die Land­häu­ser von Crois­sy.

Paul sah dies al­les wie im Trau­me, wie eine Erin­ne­rung die hin­ter ihm lag. Er dach­te an nichts, hat­te für nichts mehr Ver­ständ­nis, und alle Din­ge, so­gar sein ei­ge­nes Da­sein wa­ren für ihn wie im Ne­bel gehüllt; fern­lie­gend, ver­ges­sen, ver­nich­tet.

Da lag der Fluss! Be­griff er, was er tat? Woll­te er ster­ben? Er war när­risch ge­wor­den. Noch ein­mal in­des­sen wand­te er sich nach dem In­nern der In­sel zu­rück, und in die ru­hi­ge Nacht­luft hin­ein, in der nur hin und wie­der die Töne der ent­fern­ten Mu­sik er­klan­gen, ließ er mit ver­zweif­lungs­vol­ler, gel­len­der, über­mensch­li­cher Stim­me einen furcht­ba­ren Schrei er­schal­len: »Ma­de­lei­ne!«

Sein herz­zer­reis­sen­der Ruf drang durch die schwei­gen­de Nacht weit hin­aus.

Dann sprang er mit ei­nem mäch­ti­gen Satz, wie sinn­los, in den Fluss. Das Was­ser sprüh­te hoch auf, dann schloss es sich wie­der und an der Stel­le, wo er ver­schwun­den war, bil­de­te sich eine An­zahl klei­ner Krei­se, die ihre schim­mern­den Um­ris­se all­mäh­lich bis zum an­de­ren Ufer aus­dehn­ten.

Die bei­den Mäd­chen hat­ten den Schrei ver­nom­men. »Das ist Paul«, sag­te Ma­de­lei­ne auf­sprin­gend, Ein Ver­dacht stieg in ihr auf. »Er hat sich er­tränkt«, fuhr sie fort. Sie sprang nach dem Flus­se, wo­hin ihr die di­cke Pau­li­ne folg­te.

Ein großer von zwei Män­nern be­setz­ter Kahn fuhr auf dem Was­ser hin und her. Der eine von ih­nen führ­te die Ru­der, wäh­rend der an­de­re eine lan­ge Stan­ge ins Was­ser senk­te, als su­che er dort et­was.

»Was ma­chen Sie da?« schrie Pau­li­ne. »Was gib­t’s?«

»Ein Mann ist ins Was­ser ge­sprun­gen«, rief eine frem­de Stim­me zu­rück.

Ängst­lich folg­ten die bei­den Mäd­chen dicht an­ein­an­der ge­drückt, den Be­we­gun­gen des Kah­nes. Von wei­tem hör­te man im­mer noch die Mu­sik aus dem »Frosch­teich« die im Tak­te die Be­we­gun­gen der düstren Fi­scher zu be­glei­ten schi­en; lau­ter mur­mel­te der Fluss, als wol­le er die Freu­de ver­kün­den, ein neu­es Op­fer zu ber­gen.

Das Su­chen dau­er­te eine Ewig­keit; Ma­de­lei­ne zit­ter­te in ban­ger Er­war­tung. End­lich nach Ver­lauf von min­des­tens ei­ner hal­b­en Stun­de rief ei­ner der Män­ner: »Ich hab’ ihn.« Und lang­sam, ganz lang­sam zog er sei­ne lan­ge Ha­ken­stan­ge in die Höhe. Eine dunkle schwe­re Mas­se er­schi­en an der Ober­flä­che; der zwei­te Schif­fer ließ die Ru­der sin­ken und alle bei­de zo­gen keu­chend un­ter dem leb­lo­sen Ge­wicht, die­sel­be mit ver­ein­ten Kräf­ten in ihr Boot.

Dann fuh­ren sie an Land und such­ten einen hel­len tiefer lie­gen­den Lan­dungs­platz. In dem Au­gen­blick als sie aus­stie­gen, ka­men auch die bei­den Mäd­chen her­bei.

Als Ma­de­lei­ne ihn er­blick­te, wich sie schau­dernd zu­rück. In dem fah­len Mond­licht schi­en er be­reits grün, denn sei­ne Au­gen, Nase, Mund und Klei­der trief­ten schon von Schlamm. Sei­ne krampf­haft ver­krall­ten Hän­de wa­ren schreck­lich an­zu­se­hen. Al­les an ihm war mit ei­ner Art grün­lich­schwar­zer Feuch­tig­keit ge­tränkt. Das Ge­sicht war auf­ge­quol­len und von sei­nen straff her­ab­hän­gen­den Haa­ren lief un­auf­hör­lich ein Rinn­sal schmut­zi­gen Was­sers her­un­ter.


Die bei­den Män­ner be­schau­ten ihn auf­merk­sam. »Kennst Du ihn?« frag­te der eine.

»Ja, ich däch­te, dass ich die­ses Ge­sicht schon ge­se­hen hät­te«; sag­te be­däch­tig der an­de­re, der Fähr­mann von Crois­sy. »Aber Du weißt schon, wie das ist; man er­kennt sie so schwer.«

»Aber es ist ja Herr Paul!« rief er dann plötz­lich.

»Wer ist das, Herr Paul?« frag­te sein Ge­fähr­te.

»Aber Herr Paul Baron, der Sohn des Se­na­tors, der Klei­ne, der im­mer so ver­liebt war.«

»Na, der hat nun auf­ge­hört, zu gir­ren«, äus­ser­te der an­de­re phi­lo­so­phisch. »Scha­de trotz­dem, zu­mal wenn man reich ist.«

Ma­de­lei­ne war nie­der­ge­sun­ken und schluchz­te laut. Pau­li­ne nä­her­te sich dem leb­lo­sen Kör­per und frag­te:

»Ist er si­cher tot? Ganz si­cher?«

»Oh, ganz ge­wiss, nach so lan­ger Zeit,« sag­ten bei­de Män­ner ach­sel­zu­ckend.

»Er wohn­te bei Gril­lons, nicht wahr?« frag­te der eine von ih­nen.

»Ja,« ant­wor­te­te der an­de­re, »dort müs­sen wir ihn hin­schaf­fen, das wird eine schö­ne Über­ra­schung ge­ben!«

Sie be­stie­gen ihr Schiff und fuh­ren in­fol­ge der hef­ti­gen Strö­mung nur lang­sam vor­wärts; lan­ge Zeit, als man von dem Plat­ze, wo die bei­den Mäd­chen ste­hen ge­blie­ben wa­ren, sie schon nicht mehr se­hen konn­te, hör­te man im­mer noch ihre takt­mäs­si­gen Ru­der­schlä­ge im Was­ser.

Dann nahm Pau­li­ne die arme Ma­de­lei­ne, die ganz auf­ge­löst war, in ihre Arme, strei­chel­te ihre Wan­gen und küss­te sie in­nig.

»Was willst Du noch wei­ter?« trös­te­te sie die­sel­be. »Es war doch nicht Dei­ne Schuld, nicht wahr? Man kann doch die Men­schen nicht mit Ge­walt an ih­ren Tor­hei­ten hin­dern. Er hat es nicht an­ders ge­wollt; umso schlim­mer also für ihn!«

Dann hob sie die Wei­nen­de auf und re­de­te ihr zu: »Komm mit nach Hau­se, Schatz, und schlaf bei uns; Du kannst zu Gril­lons heu­te Abend un­mög­lich zu­rück­keh­ren.«

»Wir wer­den Dich schon zu trös­ten wis­sen,« schloss Pau­li­ne mit ei­nem lan­gen zärt­li­chen Kus­se.

Ma­de­lei­ne er­hob sich, und ihr lau­tes Schluch­zen erstarb all­mäh­lich in stil­len sanf­ten Trä­nen. Sie leg­te den Kopf auf Pau­li­nens Schul­ter, als habe sie hier eine viel in­ni­ge­re, si­che­re, ver­trau­te­re und ver­trau­en­de­re Lie­be ge­fun­den und ent­fern­te sich lang­sam mit die­ser von der grau­si­gen Stät­te.

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Guy de Maupassant – Gesammelte Werke

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