Читать книгу Guy de Maupassant – Gesammelte Werke - Guy de Maupassant - Страница 72

VII.

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Das Kar­ten­spiel fing jetzt an, im Le­ben des jun­gen Paa­res eine Rol­le zu spie­len. Je­den Tag nach dem zwei­ten Früh­stück spiel­te Ju­li­us meh­re­re Par­ti­en Be­sigue mit sei­ner Frau, wo­bei er fort­wäh­rend sei­ne Pfei­fe rauch­te und sich die Keh­le mit Co­gnak aus­spül­te, von dem er sechs bis sie­ben Gläs­chen trank. Hier­auf ging Jo­han­na in ihr Zim­mer, setz­te sich ans Fens­ter und stick­te läs­sig an dem Saum ei­nes Rockes, wäh­rend der Re­gen an die Fens­ter schlug und der Wind an den Lä­den rüt­tel­te. Hin und wie­der hob sie er­mat­tet den Blick und be­trach­te­te in der Fer­ne das to­ben­de Meer. Dann, nach­dem sie eine Wei­le so ins Lee­re ge­st­arrt hat­te, nahm sie un­mu­tig ihre Ar­beit wie­der auf.

Im Üb­ri­gen gab es für sie wirk­lich nichts an­de­res zu tun; denn Ju­li­us hat­te die Lei­tung des gan­zen Haus­hal­tes an sich ge­ris­sen, um dem Be­dürf­nis­se sei­ner Herrsch­sucht und sei­nem Hang zur Spar­sam­keit zu ge­nü­gen. Er war von ei­nem ge­ra­de­zu lä­cher­li­chen Gei­ze be­seelt, gab nie­mals ein Trink­geld und be­schränk­te die Kost der Leu­te aufs Äus­sers­te. Selbst Jo­han­na muss­te dar­un­ter lei­den. Frü­her hat­te sie sich, so­lan­ge sie in Peup­les war, je­den Mor­gen durch den Bä­cker einen klei­nen nor­man­ni­schen We­cken brin­gen las­sen. Ju­li­us er­klär­te dies für Lu­xus und sie muss­te sich mit ge­rös­te­ten Brot­schnitt­chen be­gnü­gen.

Sie wag­te kei­ne Ein­wen­dun­gen, um den end­lo­sen Aus­ein­an­der­set­zun­gen, De­bat­ten und Kla­gen zu ent­ge­hen; aber je­der neue Be­weis von dem Gei­ze ih­res Man­nes wirk­te auf sie wie ein Na­del­stich. Ihr, die in ei­ner At­mo­sphä­re groß ge­wor­den war, wo das Geld kei­ne Rol­le spiel­te, schi­en das nied­rig und ver­ab­scheu­ens­wert. »Das Geld ist doch da, dass man es aus­gibt«, hat­te sie ihre Mut­ter so oft sa­gen hö­ren; jetzt hiess es bei Ju­li­us: »Kannst Du Dir denn gar nicht ab­ge­wöh­nen, das Geld zum Fens­ter hin­aus­zu­wer­fen?« Und je­des Mal, wenn er von ei­ner Lohn­zah­lung oder ei­ner Rech­nung ei­ni­ge Sous ab­ge­zwackt hat­te, ließ er schmun­zelnd das Geld in die Ta­sche glei­ten, in­dem er sag­te: »Aus klei­nen Bä­chen flies­sen die großen Strö­me zu­sam­men.«

Zu­wei­len in­des­sen ver­fiel sie wie­der in ihre ge­lieb­te alte Träu­me­rei. Sie hör­te lang­sam auf zu ar­bei­ten, ihre Hän­de glit­ten in den Schos, und den Blick ver­sun­ken, gab sie sich den selbst­ge­spon­ne­nen Ro­ma­nen ih­rer Mäd­chen­zeit hin, in de­nen sie al­ler­hand nied­li­che Aben­teu­er im Geis­te er­leb­te. Aber plötz­lich weck­te sie dann die Stim­me ih­res Man­nes, der dem al­ten Papa Si­mon ir­gend einen Be­fehl gab, aus die­sen süs­sen Träu­men. »Es ist zu Ende«, sag­te sie dann, ihre Ar­beit wie­der auf­neh­mend, wäh­rend eine Trä­ne auf ihre Fin­ger fiel, die die Na­del führ­ten.

Auch Ro­sa­lie, die ehe­mals so ver­gnügt war und den gan­zen Tag über sang, hat­te sich voll­stän­dig ver­än­dert. Ihre einst so blü­hen­den vol­len Wan­gen hat­ten die fri­sche rote Far­be ver­lo­ren; sie schie­nen jetzt ein­ge­fal­len und zeig­ten zu­wei­len eine asch­graue Fär­bung.

»Bist Du krank, lie­bes Kind?« frag­te Jo­han­na sie öf­ters.

»Nein, Ma­da­me«, ant­wor­te­te das Mäd­chen stets, wo­bei ihr das Blut ins Ge­sicht stieg. Und dann ent­fern­te sie sich rasch.

Statt wie sonst leich­ten Schrit­tes da­hin­zu­flie­gen, schlepp­te sie sich jetzt müh­sam her­um. Sie hat­te ihre eins­ti­ge Schel­me­rei voll­stän­dig ver­lo­ren und mach­te kei­ne Ein­käu­fe mehr bei den Hau­sie­rern, die ihr um­sonst ihre sei­de­nen Tü­cher, ihre Kor­sets und ihre Par­fü­me­ri­en an­bo­ten.

Das Haus mit sei­ner re­gen ge­schwärz­ten Fassa­de mach­te einen fins­te­ren trau­ri­gen Ein­druck, und die Schrit­te der Men­schen wi­der­hall­ten in dem­sel­ben wie in ei­ner Gruft.

Ge­gen Ende Ja­nu­ar war star­ker Schnee­fall. Man sah von Wei­tem die großen schwe­ren Wol­ken aus Nor­den her über das schwar­ze Meer da­h­in­ja­gen, und dann be­gann der Flock­en­tanz. In ei­ner Nacht war die gan­ze Ge­gend in Schnee gehüllt und am an­de­ren Mor­gen tru­gen Bäu­me und Sträu­cher die be­kann­te wei­ße Ver­zie­rung.

Ju­li­us, in ho­hen Stie­feln, das Ge­sicht in Fal­ten, ver­brach­te sei­ne Zeit da­mit, dass er, im Hin­ter­grun­de des Bos­quets in ei­nem Gra­ben kau­ernd, der nach der Hei­de zu mün­de­te, auf Zug­vö­gel schoss. Von Zeit zu Zeit hall­te ein Flin­ten­knall durch das ei­si­ge Schwei­gen der Flur; Scha­ren von auf­ge­scheuch­ten Krä­hen er­ho­ben sich in die Luft, um sich dann wie­der auf den um­ste­hen­den Bäu­men nie­der­zu­las­sen.

Jo­han­na, von Lan­ge­wei­le ge­quält, trat hin und wie­der auf die Schloss­ram­pe her­aus. Nur von Wei­tem wi­der­hall­te le­ben­di­ges Trei­ben durch die schläf­ri­ge Ruhe, die über dem öden trau­ri­gen Schnee­tu­che lag.

Sonst hör­te sie nichts als das ent­fern­te Grol­len des Mee­res und das un­be­stimm­te fort­ge­setz­te Geräusch des fal­len­den Schnees.

Dich­ter und dich­ter hüll­te sich die Erde in die­sen wei­ßen flo­cki­gen Man­tel ein.

An ei­nem die­ser öden Win­ter­mor­gen sass Jo­han­na am Ka­min und wärm­te sich die Füs­se, wäh­rend Ro­sa­lie, stets mehr und mehr ver­än­dert, lang­sam das Bett mach­te. Plötz­lich hör­te die jun­ge Frau hin­ter sich einen tie­fen Seuf­zer.

»Was hast Du nur?« frag­te sie ohne sich um­zu­se­hen.

»Nichts, Ma­da­me«, ant­wor­te­te das Mäd­chen wie im­mer. Aber ihre Stim­me schi­en zit­ternd und kläg­lich.

Jo­han­na dach­te schon wie­der an et­was an­de­res, als ihr plötz­lich auf­fiel, dass sie kein Geräusch mehr von dem jun­gen Mäd­chen hör­te. »Ro­sa­lie!« rief sie; aber nichts rühr­te sich. »Ro­sa­lie!« rief sie lau­ter, weil sie glaub­te, das Mäd­chen sei her­aus­ge­gan­gen. Schon streck­te sie die Hand nach dem Glo­cken­zu­ge ne­ben ihr aus, als ein tiefer Seuf­zer ganz dicht hin­ter ihr sie ver­an­lass­te, sich er­schreckt um­zu­wen­den.


Die Kam­mer­zo­fe sass bleich mit ver­stör­tem Blick auf dem Bo­den, den Rücken an das Bett ge­lehnt.

»Was hast Du; was fehlt Dir?« rief Jo­han­na vor­tre­tend.

Jene sprach kein Wort, mach­te kei­ne Be­we­gung. Sie hef­te­te den ver­wirr­ten Blick auf ihre Her­rin und stöhn­te, wie von furcht­ba­ren Schmer­zen ge­pei­nigt. Dann plötz­lich krümm­te sich ihr gan­zer Kör­per, sie glitt auf den Rücken und stiess zwi­schen den zu­sam­men­ge­bis­se­nen Zäh­nen einen ent­setz­li­chen Schrei her­vor.

Dann reg­te sich et­was un­ter ih­ren Rö­cken zwi­schen den aus­ein­an­der ge­sperr­ten Schen­keln. Ein selt­sa­mer Ton, ein Kol­lern, ein er­stick­tes Gur­geln drang her­vor. Plötz­lich klang es wie das lang­ver­hal­te­ne Mi­au­en ei­ner Kat­ze, wie ein lei­ses kläg­li­ches Ge­wim­mer; der ers­te Schmer­zens­schrei ei­nes neu­ge­bo­re­nen Kin­des.

Jo­han­na be­griff plötz­lich al­les; sie ver­lor völ­lig den Kopf, und »Ju­li­us! Ju­li­us!« ru­fend, stürz­te sie an die Trep­pe.

»Was gib­t’s denn?« ant­wor­te­te Je­ner von un­ten her.

»Ach … komm nur ’mal … Ro­sa­lie hat …« konn­te sie kaum her­vor­brin­gen.

Zwei Stu­fen auf ein­mal neh­mend stürm­te Ju­li­us her­auf, trat ei­ligst ins Zim­mer, lüf­te­te mit ei­nem Ruck die Klei­der des Mäd­chens und ent­deck­te ein schau­der­haft elen­des, runz­li­ges, wim­mern­des, ver­schrumpf­tes und schmut­zi­ges Wurm, das zwi­schen den ent­blöss­ten Bei­nen lag.

Er wand­te sich zor­nig um, schob sei­ne ent­setz­te Frau zur Tür hin­aus und sag­te:

»Das ist nichts für Dich. Geh hin­un­ter und schick mir Lu­di­vi­ne und Papa Si­mon.«

Jo­han­na stieg zit­ternd in die Kü­che her­un­ter. Sie wag­te nicht wie­der her­auf­zu­ge­hen und trat in den Sa­lon, der seit der Abrei­se ih­rer El­tern nicht mehr ge­heizt wor­den war. Dort war­te­te sie ängst­lich auf wei­te­re Nach­rich­ten.

Bald sah sie den al­ten Die­ner ei­ligst über den Hof lau­fen und kur­ze Zeit dar­auf mit der Wit­we Den­tu, der Heb­am­me des Or­tes, zu­rück­keh­ren. Dann gab es ein großes Geräusch auf der Trep­pe, als ob man einen Ver­wun­de­ten hin­un­ter­trü­ge. Ju­li­us kam her­ein und sag­te ihr, sie könn­te wie­der her­auf­ge­hen.

Sie zit­ter­te, als hät­te sie Zeu­gin ei­nes furcht­ba­ren Er­eig­nis­ses sein müs­sen. »Wie geht es ihr?« frag­te sie, sich wie­der ans Feu­er set­zend.

Ju­li­us ging zer­streut und auf­ge­regt im Zim­mer auf und ab; er schi­en so­gar zor­nig zu sein. Zu­erst ant­wor­te­te er gar nichts und setz­te sei­nen Spa­zier­gang durchs Zim­mer fort.

»Was denkst Du mit dem Mäd­chen an­zu­fan­gen?« frag­te er dann nach ei­ni­ger Zeit.

Sie sah ihn ver­ständ­nis­los an.

»Wie? Was woll­test Du sa­gen? Ich ken­ne mich nicht aus.«

»Wir kön­nen doch kei­nen Ba­stard in un­se­rem Hau­se be­hal­ten,« schrie er plötz­lich zor­nig auf.

Jo­han­na war an­fangs ganz ver­wirrt.

»Aber, mein Lie­ber, viel­leicht könn­te man das Kind in Pfle­ge ge­ben,« sag­te sie dann nach län­ge­rem Schwei­gen.

»Und wer soll das be­zah­len?« un­ter­brach er sie. »Du wohl je­den­falls, nicht wahr?«

Sie dach­te lan­ge über eine Lö­sung nach.

»Aber das wird doch der Va­ter des Kin­des tun,« sag­te sie dann. »Und wenn er Ro­sa­lie hei­ra­tet, dann sind ja wei­ter kei­ne Schwie­rig­kei­ten.«

»Der Va­ter? … der Va­ter? …« rief Ju­li­us wie am Ende sei­ner Ge­duld ganz aus­ser sich. »Kennst Du ihn denn, … den Va­ter? … Nein … na­tür­lich nicht … Nun also, was? …«

»Aber er kann doch das Mäd­chen nicht so im Stich las­sen,« sag­te sie ent­rüs­tet. »Das wäre eine Feig­heit. Wir wol­len nach sei­nem Na­men fra­gen, ihn auf­su­chen und er muss sich er­klä­ren.«

Ju­li­us hat­te sich be­ru­higt und be­gann wie­der auf und ab zu ge­hen.

»Aber mei­ne Lie­be, sie will ihn nicht nen­nen, den Na­men die­ses Man­nes; sie wird Dir auch nicht mehr be­ken­nen, wie mir … und wenn er nichts von ihr wis­sen will, der Va­ter …? Wir kön­nen doch un­mög­lich eine Mut­ter mit ih­rem Ban­kert un­ter un­se­rem Da­che be­hal­ten. Be­greifst Du das?«

»Dann ist es ein Elen­der, die­ser Mensch,« sag­te Jo­han­na ent­rüs­tet. »Aber wir müs­sen ihn her­aus­zu­be­kom­men su­chen, und dann soll er Rede und Ant­wort ste­hen.«

»Aber … an­ge­nom­men …« er­hitz­te sich Ju­li­us, aufs neue sehr rot wer­dend.

»Was schlägst Du denn vor?« un­ter­brach sie ihn, nicht wis­send, wo­für sie sich ent­schei­den soll­te.

»Nun, was mich be­trifft,« sag­te er schnell, »so ist die Sa­che sehr ein­fach. Ich wür­de ihr ei­ni­ges Geld ge­ben und sie mit ih­rem Balg zum Kuckuck ja­gen.«

Aber die jun­ge Frau wi­der­setz­te sich ganz em­pört.

»Das ge­schieht nie­mals,« sag­te sie. »Die­ses Mäd­chen ist mei­ne Milch­schwes­ter; wir sind zu­sam­men auf­ge­wach­sen. Sie hat einen Fehl­tritt ge­tan, al­ler­dings; aber ich wer­de sie des­halb nicht vor die Türe set­zen. Und wenn es nö­tig ist, so wer­de ich das Kind auf­zie­hen.«

»Und wir wer­den in ein schö­nes Ge­re­de kom­men«, brach Ju­li­us los, »wir an­de­ren, mit un­se­rem Na­men und un­se­ren Be­zie­hun­gen! Über­all wird es heis­sen, dass wir das Las­ter be­schüt­zen, dass wir das Ge­sin­del warm hal­ten. An­stän­di­ge Leu­te wer­den den Fuss nicht mehr in un­ser Haus set­zen. Woran denkst Du nur ei­gent­lich? Du musst von Sin­nen sein?«

»Ich wer­de Ro­sa­lie nie­mals hin­aus­wer­fen las­sen«, sag­te sie ru­hig blei­bend. »Wenn Du sie nicht hier be­hal­ten willst, so wird mei­ne Mut­ter sie zu sich neh­men. Wir wer­den schliess­lich doch den Na­men des Va­ters her­aus­be­kom­men müs­sen.«

Da ging er wü­tend hin­aus, schlug kra­chend die Tür zu und rief:

»Die Wei­ber sind ver­rückt mit ih­ren Ide­en!«

Nach­mit­tags ging Jo­han­na zu der Wöch­ne­rin her­un­ter. Die Zofe, von Frau Den­tu ge­pflegt, lag re­gungs­los im Bett, wäh­rend die Wär­te­rin das neu­ge­bo­re­ne Kind auf den Ar­men wieg­te.

So­bald sie ihre Her­rin be­merk­te, fing Ro­sa­lie an zu schluch­zen und be­deck­te von Scham ge­pei­nigt das Ge­sicht mit dem Bett­tuch. Jo­han­na woll­te sie küs­sen, aber sie wehr­te sich und ließ das Tuch nicht fah­ren. Da leg­te sich die Wär­te­rin ins Mit­tel und zog das Tuch fort. Sch­liess­lich ließ sie sich’s ge­fal­len und wein­te nur noch still vor sich hin.

Ein schwa­ches Feu­er brann­te im Ka­min; es war kalt und das Klei­ne be­gann zu wei­nen. Jo­han­na wag­te nicht von ihm zu spre­chen, aus Furcht, bei der Mut­ter aber­mals eine Er­schüt­te­rung her­vor­zu­ru­fen. Sie hat­te die Hand der­sel­ben er­grif­fen und sag­te im­mer nur:

»Es hat nichts zu be­deu­ten, wirk­lich nicht.«

Das arme Mäd­chen blick­te ver­stoh­len auf die Wär­te­rin und zuck­te bei je­dem Schrei des klei­nen Würm­chens zu­sam­men. Von Zeit zu Zeit brach sie von Schmerz und Scham ge­pei­nigt in krampf­haf­tes Schluch­zen aus, wäh­rend die zu­rück­ge­hal­te­nen Trä­nen ein ras­seln­des Geräusch in ih­rer Keh­le her­vor­rie­fen.

Jo­han­na küss­te sie aber­mals und flüs­ter­te ihr lei­se ins Ohr:

»Wir wer­den schon gut für das Kind sor­gen.« Dann ent­fern­te sie sich schnell, als ein neu­er Trä­nen­strom im An­zug war.

Täg­lich ging sie zur Wöch­ne­rin her­un­ter, und je­des Mal brach Ro­sa­lie beim An­blick ih­rer Her­rin in Trä­nen aus.

Das Kind wur­de bei ei­ner Nach­ba­rin in Pfle­ge ge­ge­ben.

Ju­li­us sprach kaum noch ein Wort mit sei­ner Frau; es war, als heg­te er einen großen Zorn ge­gen sie, dass sie die Zofe nicht ent­las­sen woll­te. Ei­nes Ta­ges kam er wie­der auf die­ses The­ma zu­rück; aber sie zog einen Brief der Baro­nin aus der Ta­sche, worin die­sel­be ver­lang­te, dass man ihr so­fort das Mäd­chen sen­de, falls es nicht in Peup­les blei­ben könn­te.

»Dei­ne Mut­ter ist eben­so ver­rückt wie Du«, schrie er er­bost. Aber er be­stand nicht wei­ter auf sei­nem Ver­lan­gen.

Drei Wo­chen spä­ter konn­te die Wöch­ne­rin sich wie­der er­he­ben und ih­ren frü­he­ren Dienst ver­se­hen.

Ei­nes Mor­gens hiess Jo­han­na sie Platz neh­men, er­griff ihre Hän­de und sag­te, ihr for­schend ins Auge schau­end:

»Nun, Kind, sage mir al­les.«

»Was denn, Ma­da­me?« stam­mel­te Ro­sa­lie zit­ternd.

»Wem ge­hört es, das Kind?«

Da wur­de das arme Mäd­chen von Verzweif­lung er­grif­fen; ängst­lich such­te es die Hän­de frei zu be­kom­men, um ihr Ant­litz da­mit zu be­de­cken.

Aber Jo­han­na küss­te sie wi­der ih­ren Wil­len und sag­te trös­tend:

»Es ist ein Un­glück; was soll man ma­chen, Kind? Du bist schwach ge­we­sen, aber das pas­siert an­de­ren auch. Wenn der Va­ter Dich hei­ra­tet, wird sich nie­mand mehr dar­um küm­mern. Und wir wer­den ihn mit Dir in un­se­ren Dienst neh­men.«

Ro­sa­lie seufz­te wie un­ter furcht­ba­ren Qua­len und mach­te von Zeit zu Zeit den Ver­such los­zu­kom­men und da­von­zu­lau­fen.

»Ich be­grei­fe Dein Scham­ge­fühl völ­lig«, be­gann Jo­han­na wie­der, »aber Du siehst, dass ich Dir nicht böse bin, dass ich Dir im Gu­ten zu­re­de. Ich fra­ge Dich nach dem Na­men des Man­nes nur zu Dei­nem Bes­ten, weil ich mit Dir den Schmerz emp­fin­de, dass er Dich im Stich lässt. Das möch­te ich ver­hin­dern. Ju­li­us wird ihn schon fin­den, weißt Du; und wir wer­den ihn zwin­gen, Dich zu hei­ra­ten. Und da wir Euch dann bei­de un­ter den Au­gen ha­ben, so wer­den wir auch da­für sor­gen, dass er Dich glück­lich macht.«

Dies­mal mach­te Ro­sa­lie eine so krampf­haf­te An­stren­gung, dass es ihr ge­lang, die Hän­de frei zu be­kom­men, wor­auf sie wie be­ses­sen zum Zim­mer hin­aus rann­te.

»Ich woll­te Ro­sa­lie be­stim­men, mir den Na­men ih­res Ver­füh­rers zu nen­nen«, sag­te Jo­han­na abends beim Di­ner zu ih­rem Gat­ten, »aber ich habe kei­nen Er­folg ge­habt. Ver­su­che Du es doch noch ein­mal, da­mit wir den Elen­den zwin­gen, sie zu hei­ra­ten.«

»Du weißt doch«, sag­te Ju­li­us, so­fort sehr hit­zig wer­dend, »dass ich für mei­ne Per­son von die­ser Ge­schich­te nichts mehr hö­ren mag. Du hast das Mäd­chen be­hal­ten wol­len; nun schön, be­hal­te Sie. Aber ver­scho­ne mich ge­fäl­ligst mit die­ser An­ge­le­gen­heit.«

Seit der Nie­der­kunft Ro­sa­li­ens schi­en er aus­ser­or­dent­lich reiz­ba­rer Stim­mung ge­wor­den zu sein. Er hat­te sich an­ge­wöhnt nur noch in schrei­en­dem Tone mit sei­ner Frau zu spre­chen, als wenn er im­mer­fort in Wut wäre. Sie da­ge­gen dämpf­te die Stim­me und be­trug sich sehr sanft, um je­den Zwist zu ver­mei­den. Zu­wei­len aber wein­te sie nachts in ih­rem Bet­te recht bit­ter­lich.

Trotz sei­ner fort­wäh­ren­den Reiz­bar­keit hat­te Ju­li­us wie­der an­ge­fan­gen, sei­ne ehe­li­chen Pf­lich­ten zu er­fül­len, die er seit ih­rer Rück­kehr so sehr ver­nach­läs­sigt hat­te. Sel­ten ver­gin­gen ei­ni­ge Tage, wo er nicht das ehe­li­che Schlaf­ge­mach mit ihr ge­teilt hät­te.

Ro­sa­lie war bald voll­stän­dig ge­ne­sen und wur­de we­ni­ger trau­rig, ob­schon sie stets noch et­was ge­drück­ter Stim­mung war, wie wenn sie von ir­gend ei­ner un­er­klär­li­chen Furcht be­seelt wäre.

Zwei­mal noch mach­te Jo­han­na den Ver­such, sie we­gen des Va­ters zu be­fra­gen, aber je­des Mal wuss­te sich das Mäd­chen ihr zu ent­zie­hen.

Auch Ju­li­us schi­en in der letz­ten Zeit lie­bens­wür­di­ger ge­wor­den zu sein. Die jun­ge Frau gab sich schon wie­der neu­en Hoff­nun­gen hin und ihre alte Hei­ter­keit kehr­te zu­rück. Hin und wie­der spür­te sie al­ler­dings eine ei­gen­tüm­li­che Un­be­hag­lich­keit, von der sie je­doch nicht sprach. Der Frost draus­sen hielt im­mer noch an, und seit nun bald fünf Wo­chen brei­te­te sich ein kris­tall­hel­ler blau­er Him­mel, der nachts mit Mil­li­ar­den fun­keln­der Ster­ne be­sä­et war, über die dich­te fest­ge­fro­re­ne glän­zen­de Schnee­flä­che aus.

Die Pächt­er­häu­ser, ein­sam in ih­ren vier­e­cki­gen Hö­fen, hin­ter ei­nem Vor­hang von großen dicht­be­reif­ten Bäu­men, schie­nen wie in ei­nem wei­ßen Hem­de ein­ge­schla­fen zu sein. Man sah dort we­der Men­schen noch Tie­re her­aus­kom­men; nur die Zie­gel­schorn­stei­ne zeig­ten durch den dün­nen Rauch, der sich aus ih­nen em­por­rin­gel­te und ker­zen­gra­de in die kal­te Luft auf­stieg, dass noch Le­ben in die­ser Ein­sam­keit war.

Die Ebe­ne, die Hü­gel, die Ul­men am Sau­me des Parks, al­les schi­en er­stor­ben, hin­ge­mor­det durch die Käl­te. Zu­wei­len hör­te man in den Bäu­men ein Kra­chen, als wenn ihre höl­zer­nen Glie­der un­ter der Rin­de ge­bors­ten wä­ren; und mit­un­ter lös­te sich ein großer Zweig ab und fiel zur Erde, nach­dem der ei­si­ge Frost sei­nen Saft er­stickt und sei­ne Fa­sern zer­ris­sen hat­te.

Jo­han­na war­te­te sehn­süch­tig auf die Wie­der­kehr mil­de­rer Wit­te­rung, in­dem sie die un­be­stimm­ten Schmer­zen, an de­nen sie litt, auf die Ein­wir­kung der schreck­li­chen Käl­te schob.

Bald konn­te sie nichts es­sen und hat­te einen Ab­scheu vor je­der Nah­rung, bald schlug ihr Puls hef­tig, bald ver­ur­sach­te ihr die kleins­te Mahl­zeit die stärks­ten In­di­ge­s­tio­nen. Ihre Ner­ven wa­ren selt­sam er­regt und sie leb­te in ei­nem be­stän­di­gen und un­er­träg­li­chen Wech­sel der Ge­füh­le.

Ei­nes Abends stand das Ther­mo­me­ter noch nied­ri­ger wie ge­wöhn­lich. Ju­li­us sass vor Frost zit­ternd bei Ti­sche, denn im Spei­se­zim­mer wur­de, um Holz zu spa­ren, nie­mals ge­heizt. »Heu­te Abend wol­len wir be­hag­lich zu zwei­en schla­fen, nicht wahr, mein Schatz?« sag­te er, sich die Hän­de rei­bend.

Er lach­te mit sei­nem al­ten gut­mü­ti­gen Lä­cheln und Jo­han­na flog ihm an den Hals. Aber sie fühl­te sich ge­ra­de an die­sem Abend so un­wohl, so voll Schmer­zen, so selt­sam ner­vös, dass sie ihn lei­se un­ter zärt­li­chen Küs­sen bat, sie heu­te al­lein zu las­sen. Sie setz­te ihm mit we­ni­gen Wor­ten ihr Un­wohl­sein aus­ein­an­der. »Ich bit­te Dich, Liebs­ter, ich ver­si­che­re Dich, dass ich nicht wohl bin. Mor­gen wird mir je­den­falls bes­ser sein.«

»Wie Du willst, Lieb­ling,« sag­te er nach­ge­bend. »Sor­g’ nur gut für Dich, wenn Du nicht wohl bist.«

Man sprach dann von an­de­ren Din­gen.

Jo­han­na ging bei Zei­ten schla­fen. Ju­li­us ließ aus­nahms­wei­se in sei­nem Wohn­zim­mer noch­mals ein­hei­zen. Als ihm ge­mel­det wur­de, dass es »or­dent­lich bren­ne,« küss­te er sei­ne Frau auf die Stirn und ging fort.

Das gan­ze Haus schi­en vor Käl­te zu star­ren. Die Wän­de, voll­stän­dig durch­fro­ren, lies­sen ein Geräusch, wie leich­tes Schau­dern ver­neh­men; und Jo­han­na zit­ter­te in ih­rem Bet­te.

Zwei­mal stand sie auf, um Holz auf den Herd zu wer­fen, und Klei­der, Rö­cke und al­ler­lei al­tes Zeug auf ihr Bett zu le­gen. Nichts konn­te sie warm ma­chen. Ihre Füs­se blie­ben eis­kalt, ihr Leib da­ge­gen und ihre Brust wur­den von selt­sa­men Zu­ckun­gen ge­quält, so­dass sie sich fort­wäh­rend von ei­ner Sei­te auf die an­de­re leg­te, ohne Ruhe zu fin­den. Ihre ner­vö­se Er­regt­heit nahm mit je­der Mi­nu­te zu.

Bald klap­per­te sie mit den Zäh­nen; ihre Hän­de zit­ter­ten, ihre Brust dehn­te sich. Ihr Herz schlug manch­mal hef­tig und schi­en dann plötz­lich wie­der aus­zu­set­zen. In ih­rer Keh­le ras­sel­te es, als kön­ne sie nicht ge­nü­gend Luft be­kom­men.

Eine furcht­ba­re Angst hielt sie be­fan­gen, wäh­rend die schreck­li­che Käl­te ihr un­wi­der­steh­lich bis zum Ge­hirn drang. Sie hat­te so et­was noch nie emp­fun­den, hat­te sich noch nie im Le­ben so schwach, so wie zum Ster­ben ge­fühlt.

»Es geht zu Ende mit mir; ich st­er­be …« dach­te sie. Und von Furcht er­grif­fen sprang sie aus dem Bett, schell­te Ro­sa­lie, war­te­te, schell­te aber­mals, und war­te­te wie­der, wäh­rend sie fast vor Frost er­starr­te.

Die Zofe kam nicht. Ohne Zwei­fel lag sie im ers­ten fes­ten Schla­fe, aus dem man nicht leicht er­wacht. Jo­han­na, der die Sin­ne fast ver­gin­gen, stürz­te bar­fuss an die Trep­pe.

Geräusch­los tapp­te sie hin­auf, fand die Tür, öff­ne­te sie und rief: »Ro­sa­lie!« sie schritt im­mer wei­ter vor, tas­te­te sich nach dem Bett, fuhr mit der Hand dar­über und fand es leer. Es war un­be­rührt und kalt; nie­mand konn­te dar­in ge­schla­fen ha­ben.

»Merk­wür­dig, dass sie bei sol­chem Wet­ter noch ir­gend­wo her­um­läuft«, sag­te sie bei sich.

Da aber ihre Her­zaf­fek­ti­on im­mer hef­ti­ger wur­de, stieg sie mit zit­tern­den Kni­en wie­der her­un­ter, um Ju­li­us zu we­cken.

Has­tig trat sie bei ihm ein, von dem Ge­fühl ge­pei­nigt, dass sie ster­ben müs­se und von dem Ver­lan­gen be­seelt, ihn noch ein­mal zu se­hen, ehe sie das Be­wusst­sein ver­lor.

Beim Schim­mer des hal­b­er­lo­sche­nen Feu­ers be­merk­te sie auf dem Kopf­kis­sen ne­ben ih­rem Man­ne das Ge­sicht Ro­sa­li­ens.

Bei dem Schrei, den sie aus­stiess, rich­te­ten sich bei­de em­por. Ei­nen Au­gen­blick stand sie re­gungs­los vor Schreck über die­se Ent­de­ckung. Dann rann­te sie da­von, in ihr Zim­mer zu­rück. Ju­li­us hat­te ih­ren Na­men ge­ru­fen, und sie hat­te eine ent­setz­li­che Furcht, ihn se­hen zu müs­sen, sei­ne Stim­me zu hö­ren; sie hät­te es nicht er­tra­gen kön­nen, jetzt sei­ne Aus­ein­an­der­set­zun­gen, sei­ne Lü­gen zu ver­neh­men, ihm Auge in Auge ge­gen­über zu ste­hen. Und aber­mals stürz­te sie an die Trep­pe, um her­un­ter zu ei­len.


Als sie un­ten war, setz­te sie sich auf eine Trep­pen­stu­fe, im­mer nur noch im Hemd und blos­füs­sig; halb von Sin­nen sass sie da.

Ju­li­us war aus dem Bett ge­sprun­gen und zog sich schnell an. Sie hör­te, wie er has­tig her­bei­kam. Sie wand­te sich um, um aber­mals zu flie­hen. Schon kam er die Trep­pe her­un­ter und rief: »Jo­han­na, höre doch!«

Nein; sie woll­te nicht hö­ren, noch sich auch nur mit ei­ner Fin­ger­spit­ze be­rüh­ren las­sen. Sie stürz­te in den Spei­se­saal; sie floh vor ihm wie vor ei­nem Mör­der. Sie such­te einen Aus­gang, ein Ver­steck, ir­gend einen dunklen Win­kel, um ihm aus­zu­wei­chen. Sie kroch schliess­lich un­ter den Tisch. Aber schon öff­ne­te er, ein Licht in der Hand, die Türe, im­mer wie­der »Jo­han­na« ru­fend. Sie floh von Neu­em wie ein auf­ge­scheuch­ter Hase, stürz­te in die Kü­che, rann­te zwei­mal dar­in rings um­her wie ein ge­hetz­tes Wild; und als er ihr dort­hin nach­kam, öff­ne­te sie has­tig die Tür zum Gar­ten und flüch­te­te ins Freie.

Die ei­si­ge Berüh­rung des Schnees, in dem sie mit ih­ren nack­ten Füs­sen oft bis an die Knie ver­sank, flöss­te ihr plötz­lich eine ver­zweif­lungs­vol­le Ener­gie ein. Trotz ih­rer Blös­se spür­te sie kei­ne Käl­te; sie emp­fand nichts mehr aus­ser der be­klem­men­den See­len­angst. Weiß wie der Bo­den selbst rann­te sie wei­ter. Sie ver­folg­te die ge­ra­de Al­lee, flüch­te­te durch das Bos­quet, sprang über den Gra­ben und rann­te auf die Hei­de.

Der Mond war noch nicht zu se­hen; die Ster­ne glänz­ten am dunklen Him­mel wie Mil­li­ar­den klei­ner Lich­ter. Die Ebe­ne aber lag hell und klar vor ihr, schmut­zig weiß, starr und re­gungs­los in ewi­gem Schwei­gen.

Atem­los rann­te Jo­han­na wei­ter, ohne zu über­le­gen, ohne zu wis­sen, was sie tat. Und plötz­lich fand sie sich am Rand der Küs­te. In­stink­tiv blieb sie hal­ten und kau­er­te sich nie­der; sie war nicht mehr Her­rin ih­res Wil­lens und ih­rer Ge­dan­ken.

In dem fins­te­ren Dun­kel vor ihr ström­te das un­sicht­ba­re schweig­sa­me Meer sei­nen sal­zi­gen und mit dem Sumpf­ge­ruch des See­gra­ses ver­misch­ten Duft aus.

Lan­ge kau­er­te sie dort, geis­tig und kör­per­lich wie ge­lähmt. Dann plötz­lich be­gann sie zu zit­tern, aber es war ein ei­gen­tüm­li­ches Zit­tern, wie bei ei­nem vom Win­de hin und her ge­zerr­ten Se­gel. Ihre Arme, ihre Hän­de, ihre Füs­se wur­den wie von ei­ner un­sicht­ba­ren Macht ge­schüt­telt; sie wur­den in hef­ti­gen Stös­sen hin und her ge­schwenkt. Plötz­lich kehr­te ihr Be­wusst­sein klar und deut­lich zu­rück.

Bil­der aus der Ver­gan­gen­heit spie­gel­ten sich vor ih­rem Geis­te wie­der. Die­se Fahrt mit ihm im Boo­te des Papa Las­ti­que, ihre Plau­de­rei, die be­gin­nen­de Lie­be, die Tau­fe der Bark. Sie griff dann wei­ter zu­rück bis auf den selt­sa­men Traum der ers­ten Nacht in Peup­les. Und jetzt! ja jetzt? Ach! ihr Le­ben war ver­nich­tet, jede Freu­de zu Ende, jede Hoff­nung aus­sichts­los; vor ihr lag nur die furcht­ba­re Zu­kunft mit all ih­ren Qua­len, mit ih­rer Ent­täu­schung und Verzweif­lung. Lie­ber jetzt ster­ben! Dann war al­les zu Ende.


»Hier, hier sind ihre Fuss­s­pu­ren; schnell, schnell hier­her!« hör­te sie plötz­lich eine Stim­me ru­fen. Es war Ju­li­us, der sie such­te.

Ach! sie woll­te ihn nicht wie­der­se­hen. In dem Dun­kel vor sich hör­te sie jetzt ein leich­tes Geräusch, das un­be­stimm­te Rau­schen des Mee­res am Fus­se der Fel­sen.

Sie er­hob sich, fest ent­schlos­sen sich her­ab­zu­stür­zen. Schon nahm sie Ab­schied vom Le­ben und seufz­te ver­zwei­felt das eine Wort al­ler Ster­ben­den, das eine Wort »Mut­ter«, mit dem der jun­ge Sol­dat in der Schlacht sein Le­ben aus­haucht.

Plötz­lich trat ihr der Ge­dan­ke an ihr Müt­ter­chen vor die See­le. Sie sah sie schluch­zen, sah den Va­ter ver­zwei­felt vor ih­rer Lei­che kni­en, sie er­litt einen Au­gen­blick mit ih­nen zu­sam­men all ihr Leid und ih­ren Jam­mer.

Da sank sie lang­sam rück­wärts in den Schnee. Sie rann­te nicht mehr fort, als Ju­li­us und Papa Si­mon mit Ma­ri­us, der eine La­ter­ne trug, her­bei­ka­men und sie bei den Ar­men grei­fend rück­wärts zo­gen; denn so nahe war sie schon am Rand des Ge­sta­des.

Jene konn­ten mit ihr ma­chen was sie woll­ten; denn sie rühr­te sich nicht mehr. Sie fühl­te, wie man sie auf­hob, dann wie man sie auf ein Bett leg­te und mit war­men Tü­chern rieb. Sch­liess­lich schwand ihr jede Erin­ne­rung, je­des Be­wusst­sein.

Dann quäl­te sie ein Alp­druck. War es wirk­lich ein sol­cher? Sie lag in ih­rem Zim­mer. Es war lich­ter Tag, aber sie konn­te nicht auf­ste­hen. Wa­rum nicht? Sie be­griff es nicht. Sie hör­te ein Geräusch auf dem Fuss­bo­den, ein Krat­zen, ein Ra­scheln und plötz­lich husch­te eine Maus, eine klei­ne graue Maus, ei­ligst über ihre De­cke. Bald folg­te eine zwei­te, eine drit­te, die sich mit ih­rem kur­z­en schnel­len Trip­peln auf ihre Brust zu be­weg­ten. Jo­han­na hat­te kei­ne Furcht; sie woll­te viel­mehr das Tier­chen er­grei­fen und streck­te die Hand aus. Aber es ge­lang ihr nicht.

Dann ka­men noch mehr Mäu­se; zehn, zwan­zig, hun­dert, tau­send schie­nen aus dem Bo­den her­vor­zu­kom­men. Sie klet­ter­ten hau­fen­wei­se an den Ta­pe­ten em­por; sie be­deck­ten ihr gan­zes Bett. Bald dran­gen sie un­ter die De­cke. Jo­han­na fühl­te, wie sie über ihre Haut kro­chen, über ihre Füs­se husch­ten und an ih­rem Kör­per em­por­klet­ter­ten. Sie sah sie vom Fus­sen­de des Bet­tes nach ih­rer Keh­le zu vor­drin­gen; sie wehr­te sich ver­zwei­felt, ball­te die Hän­de, um eine zu er­grei­fen, aber ihre Hän­de blie­ben stets leer.

Ent­setzt woll­te sie flie­hen, sie schrie, und es schi­en ihr, als ob man sie fest­hielt, als ob kräf­ti­ge Arme sie um­schlos­sen hät­ten; aber sie sah Nie­man­den.

Sie hat­te kei­ne Ah­nung von der Zeit. Es muss­te lan­ge, sehr lan­ge ge­dau­ert ha­ben.

Dann end­lich hat­te sie ein Er­wa­chen, ein lang­sa­mes Er­wa­chen, wie aus ei­nem to­ten­ähn­li­chen Schla­fe; aber im­mer­hin ein süs­ses Er­wa­chen. Sie öff­ne­te die Au­gen und war durch­aus nicht er­staunt, ihr Müt­ter­chen im Zim­mer mit ei­nem di­cken Herrn sit­zen zu se­hen, den sie nicht kann­te.

Wie alt war sie ei­gent­lich? Sie wuss­te es nicht und hielt sich noch für ein ganz klei­nes Mäd­chen. Sie hat­te jede Erin­ne­rung ver­lo­ren.

»Se­hen Sie, das Be­wusst­sein kehrt zu­rück!« hör­te sie den di­cken Herrn sa­gen. Und Müt­ter­chen be­gann zu wei­nen.

»Nur ru­hig, Ma­da­me!« be­gann der di­cke Herr wie­der. »Ich ste­he jetzt für al­les ein. Aber sa­gen Sie nichts; spre­chen Sie von nichts. Wenn sie nur schlie­fe!«

Und es schi­en Jo­han­na, als ob sie noch lan­ge so re­gungs­los da­ge­le­gen hät­te, von ei­nem tie­fen Schlum­mer be­fan­gen. Sie such­te sich auch gar nicht die Ver­gan­gen­heit ins Ge­dächt­nis zu­rück­zu­ru­fen, wie in ei­ner un­be­stimm­ten Furcht, die Wirk­lich­keit vor sich auf­tau­chen zu se­hen.

Da, ein­mal, als sie er­wach­te, be­merk­te sie Ju­li­us ganz al­lein bei ihr; und plötz­lich kam ihr al­les ins Ge­dächt­nis zu­rück, als wenn ein Schlei­er ge­lüf­tet wor­den sei, der bis da­hin die Ver­gan­gen­heit be­deckt hat­te.

Ein schreck­li­cher Schmerz durch­zuck­te sie und sie woll­te flie­hen. Sie streif­te die De­cke ab und sprang zum Bett hin­aus. Aber ihre Füs­se tru­gen sie nicht und sie fiel hin, Ju­li­us sprang hin­zu und sie be­gann zu heu­len, dass er sie nicht an­rüh­ren sol­le. Sie wehr­te sich und wälz­te sich auf dem Bo­den hin und her. Da öff­ne­te sich die Tür und Tan­te Li­son stürz­te mit der Wit­we Den­tu her­ein, ge­folgt von dem Baron und end­lich auch von der Mama, die ganz be­stürzt und atem­los her­bei­keuch­te.

Man brach­te sie wie­der ins Bett und sie schloss so­fort krampf­haft die Au­gen, um nicht spre­chen zu müs­sen und un­ge­stört nach­den­ken zu kön­nen.

Mut­ter und Tan­te um­arm­ten und küss­ten sie.

»Kennst Du uns jetzt wie­der, Jo­han­na, süs­se lie­be Jo­han­na?« frag­ten bei­de wie aus ei­nem Mun­de.

Sie ant­wor­te­te nichts und stell­te sich geis­tes­ab­we­send. Da­bei wuss­te sie ganz ge­nau, dass der Tag bald zur Nei­ge ge­hen wür­de. Die Nacht brach her­ein. Die Wär­te­rin mach­te sich’s in ih­rer Nähe be­quem und ließ sie von Zeit zu Zeit trin­ken.

Sie nahm was man ihr reich­te, ohne ein Wort zu spre­chen; aber sie schlief nicht. Sie be­müh­te sich ängst­lich nach­zu­den­ken und such­te in ih­rer Erin­ne­rung nach Din­gen, die ihr ent­gan­gen wa­ren. Es war, als ob ihr Ge­dächt­nis durch­lö­chert sei, als ob es große lee­re Stel­len ent­hal­te, auf de­nen die Er­eig­nis­se kei­nen Ein­druck hin­ter­las­sen hät­ten.

Erst ganz all­mäh­lich mit un­ge­heu­rer An­stren­gung fand sie den Fa­den wie­der.

Und nun ver­folg­te sie ihn mit zä­her Hart­nä­ckig­keit.

Müt­ter­chen, Tan­te Li­son und der Baron wa­ren her­über­ge­kom­men; sie muss­te also sehr krank ge­we­sen sein. Und Ju­li­us? Was moch­te er wohl ge­sagt ha­ben? Wuss­ten ihre El­tern al­les? Und Ro­sa­lie? Wo war sie? Was soll­te nun wer­den … ja was soll­te wer­den? Da durch­blitz­te sie ein Ge­dan­ke – mit Papa und Mama nach Rou­en heim­keh­ren und zu le­ben wie frü­her. Sie wür­de Wit­we sein; das wäre al­les.

Dann gab sie ge­nau auf al­les Acht, was um sie her­um vor­ging und was ge­spro­chen wur­de; sie ver­stand jetzt al­les, ohne es sich mer­ken zu las­sen. Ru­hig und mit ei­ner ge­wis­sen List freu­te sie sich des wie­der­keh­ren­den Be­wusst­seins.

Ei­nes Abends end­lich fand sie sich al­lein mit der Baro­nin. »Mama!« rief sie lei­se. Sie war er­staunt beim Klan­ge ih­rer Stim­me, die ihr ganz ver­än­dert vor­kam.

»Mein Kind, mei­ne lie­be Jo­han­na!« sag­te die Baro­nin, ihre Hän­de er­grei­fend. »Kennst Du mich denn wie­der, mein Töch­ter­chen?«

»Ja, Mama, aber Du darfst nicht wei­nen. Wir ha­ben viel zu be­spre­chen. Hat Dir Ju­li­us ge­sagt, warum ich da­mals in den Schnee her­aus­ge­lau­fen bin?«

»Ja, mein Kind; Du hat­test ein sehr ge­fähr­li­ches hef­ti­ges Fie­ber.«

»Das ist et­was an­de­res, Mama; das Fie­ber habe ich erst nach­her be­kom­men. Ich mei­ne, ob er Dir ge­sagt hat, warum ich die­ses Fie­ber be­kam und wes­halb ich in den Schnee her­aus­lief?«

»Nein, Herz­chen.«

»Weil ich Ro­sa­lie in sei­nem Bet­te fand.«

Die Baro­nin glaub­te, Jo­han­na fan­ta­sie­re wie­der.

»Schla­fe lie­ber, Kind­chen«, sag­te sie schmei­chelnd. »Be­ru­hi­ge Dich und ver­su­che zu schla­fen.«

»Aber ich bin jetzt ganz bei kla­rem Ver­stan­de«, wehr­te Jo­han­na ab, »ich rede kei­nen Un­sinn, Müt­ter­chen, wie viel­leicht in der letz­ten Zeit. Ich fühl­te mich ei­nes Abends sehr un­wohl und ging her­un­ter, um Ju­li­us zu ru­fen. Ro­sa­lie lag bei ihm im Bet­te. Ich ver­lor vor Schreck und Kum­mer den Ver­stand und bin in den Schnee hin­aus ge­lau­fen, um mich von der Küs­te ins Meer zu stür­zen.«

»Ja, Herz­chen, Du bist krank ge­we­sen, sehr krank so­gar«, sag­te die Baro­nin aber­mals be­sänf­ti­gend.

»Da­rum han­delt es sich nicht, Mama. Ich fand Ro­sa­lie bei Ju­li­us im Bett und will nicht län­ger bei ihm blei­ben. Wir wol­len zu­sam­men nach Rou­en zu­rück­keh­ren und dort le­ben wie frü­her.«

»Nun ja, wie Du willst, mein Kind«, sag­te die Baro­nin, der der Arzt ans Herz ge­legt hat­te, Jo­han­na nicht zu wi­der­spre­chen.

Aber die Kran­ke wur­de un­ge­dul­dig.

»Ich mer­ke ganz gut, dass Du mir nicht glaubst. Ruf mir, bit­te, mal den Papa her­ein. Er wird mich schliess­lich schon ver­ste­hen.«

Ma­ma­chen er­hob sich schwer­fäl­lig, nahm ihre bei­den Krück­stö­cke und ging schlep­pen­den Schrit­tes hin­aus. Nach ei­ni­gen Mi­nu­ten kehr­te sie mit dem Baron zu­rück, der sie stütz­te.

Sie setz­ten sich bei­de ans Bett und als­bald be­gann Jo­han­na ihre Ge­schich­te. Sie schil­der­te al­les, lang­sam, mit schwa­cher Stim­me, aber mit vol­ler Klar­heit: den ei­gen­tüm­li­chen Cha­rak­ter ih­res Man­nes, sei­ne Här­ten, sei­nen Geiz und schliess­lich sei­ne Un­treue.

Als sie zu Ende war, sag­te sich der Baron, dass es sich hier um kei­ne Fan­tasi­en hand­le. Aber er wuss­te nicht, was er dazu den­ken und sa­gen soll­te; ge­schwei­ge denn, dass er zu ir­gend ei­nem Ent­schluss ge­kom­men wäre.

Er nahm sie bei der Hand mit je­ner zärt­li­chen Art, mit der er sie frü­her ein­zu­schlä­fern wuss­te, wenn er ihr eine Ge­schich­te er­zähl­te.

»Höre mich, Kind; man muss mit Klug­heit han­deln. Man darf nichts über­stür­zen. Such mit Dei­nem Man­ne aus­zu­kom­men, bis wir einen Ent­schluss ge­fasst ha­ben … Willst Du mir das ver­spre­chen?«

»Ich ver­spre­che es Dir«, mur­mel­te sie, »aber wenn ich ge­sund bin, blei­be ich nicht län­ger hier. Wo ist Ro­sa­lie jetzt?« füg­te sie dann lei­ser hin­zu.

»Du wirst sie nicht wie­der­se­hen«, ant­wor­te­te der Baron. Aber sie gab nicht nach.

»Wo ist sie; ich will es wis­sen?«

Da teil­te er ihr mit, dass sie zwar das Haus noch nicht ver­las­sen habe, dass dies aber in al­ler­nächs­ter Zeit ge­sche­hen wür­de.

Nach­dem der Baron das Zim­mer ver­las­sen hat­te, such­te er, noch glü­hend vor Zorn und in sei­nem Va­ter­her­zen aufs tiefs­te ge­kränkt, so­fort Ju­li­us auf.

»Ich kom­me, mein Herr«, sag­te er schroff, »um Re­chen­schaft we­gen Ihres Ver­hal­tens ge­gen­über mei­ner Toch­ter zu ver­lan­gen. Sie ha­ben sie mit ih­rer Kam­mer­zo­fe hin­ter­gan­gen. Das ist dop­pelt un­wür­dig.«

Aber Ju­li­us spiel­te den Ge­kränk­ten. Er leug­ne­te al­les hef­tig ab, be­teu­er­te sei­ne Un­schuld und rief Gott zum Zeu­gen an. Was hat­te man denn für Be­wei­se? War Jo­han­na wirk­lich ganz bei Sin­nen? Hat­te sie nicht so­eben eine Ge­hirn-Ent­zün­dung hin­ter sich? War sie nicht beim Be­ginn ih­rer Krank­heit da­mals nachts in ei­nem Fie­ber­an­fall in den Schnee her­aus­ge­lau­fen? Und war es nicht in die­sem An­fall ge­ra­de, als sie halb­nackt durchs Haus lief und da­bei ihre Zofe im Bet­te ih­res Gat­ten ge­se­hen ha­ben woll­te?

Er wur­de im­mer hef­ti­ger und droh­te mit ei­ner Kla­ge. Er re­de­te sich voll­stän­dig in den Zorn hin­ein. Und der Baron wur­de ganz ver­wirrt; er fing an sich zu ent­schul­di­gen, bat um Ver­zei­hung und bot schliess­lich Ju­li­us die Hand zur Ver­söh­nung, die Je­ner aber aus­schlug.

Als Jo­han­na die Ant­wort ih­res Gat­ten er­fuhr, reg­te sie sich kei­nes­wegs auf.

»Er lügt, Papa«, sag­te sie ein­fach, »aber wir wer­den ihn schliess­lich doch über­füh­ren.«

Zwei Tage lang war sie schweig­sam und dach­te meis­tens still vor sich hin.

Dann am drit­ten Tage ver­lang­te sie Ro­sa­lie zu se­hen. Der Baron woll­te das Mäd­chen nicht her­auf­ho­len las­sen; sie sei ab­ge­reist, be­haup­te­te er. Aber Jo­han­na gab nicht nach:

»Man soll sie von zu Hau­se ho­len«, ver­lang­te sie stets aufs Neue.

Und als der Dok­tor ein­trat, war sie be­reits sehr auf­ge­regt. Man sag­te ihm, worum es sich hand­le. Jo­han­na, an der Gren­ze ih­rer Fas­sungs­kraft an­ge­langt, fing plötz­lich hef­tig zu wei­nen an und rief im­mer wie­der: »Ro­sa­lie soll kom­men; ich will Ro­sa­lie se­hen.«

Da nahm der Arzt sie bei der Hand und sag­te lei­se:

»Be­ru­hi­gen Sie sich, Ma­da­me; jede Ge­müts­be­we­gung könn­te von ernst­li­chen Fol­gen sein. Sie tra­gen ein Kind un­term Her­zen.«

Sie war sprach­los, wie vom Schla­ge ge­trof­fen; es schi­en ihr, als spü­re sie, dass sich et­was un­ter ih­rem Her­zen rege. So blieb sie schweig­sam, in Ge­dan­ken ver­sun­ken, ohne dar­auf zu hö­ren was die an­de­ren sag­ten. Sie konn­te die gan­ze Nacht nicht schla­fen, fort­wäh­rend von der neu­en Vor­stel­lung wach ge­hal­ten, dass un­ter ih­rem Her­zen ein Kind lebe. Es be­rühr­te sie pein­lich, dass es ein Kind von Ju­li­us sei; sie war be­un­ru­higt bei dem Ge­dan­ken, dass es ihm glei­chen möch­te. Am nächs­ten Tage ließ sie den Baron ru­fen.

»Pa­pa­chen, mein Ent­schluss ist ge­fasst; ich will al­les wis­sen, jetzt ge­ra­de erst recht. Ich will, hörst Du? Du weißt, dass man mir in mei­nem jet­zi­gen Zu­stan­de nicht wi­der­spre­chen darf. Höre also. Du musst zum Pfar­rer ge­hen. Ich brau­che ihn, da­mit er Ro­sa­lie vom Lü­gen ab­hält. Dann, so­bald er hier ist, lässt Du sie her­auf­kom­men und bleibst mit Mama zu­ge­gen. Sor­ge nur vor al­lem, dass Ju­li­us kei­nen Ver­dacht schöpft.«

Eine Stun­de spä­ter trat der Pries­ter ein; er war noch stär­ker wie frü­her ge­wor­den und keuch­te eben­so wie die Baro­nin. Sein Leib hing noch tiefer her­un­ter.

»Nun, Frau Baro­nin,« be­gann er scher­zend, wäh­rend er sich ge­wohn­heits­mäs­sig mit dem bunt­kar­rier­ten Ta­schen­tu­che wisch­te, »ich glau­be, wir sind bei­de nicht ma­ge­rer ge­wor­den. Wir wür­den ein hüb­sches Paar ab­ge­ben.« Dann wand­te er sich dem Kran­ken­bet­te zu. »Nun, was höre ich, mei­ne jun­ge Dame? Wir wer­den bald wie­der tau­fen? Ha, ha, ha! aber dies­mal kei­ne Bar­ke. Es wird ein Va­ter­lands­ver­tei­di­ger wer­den,« füg­te er erns­ter hin­zu, »wenn es nicht eine gute Haus­frau wird, wie Sie, Ma­da­me« sag­te er mit ei­ner Ver­beu­gung ge­gen die Baro­nin.

In die­sem Au­gen­blick wur­de die Tür auf­ge­ris­sen und Ro­sa­lie er­schi­en auf der Schwel­le. Sie war ganz aus­ser sich, schluchz­te, wei­ger­te sich ein­zu­tre­ten und klam­mer­te sich krampf­haft an die Klin­ke fest. Der Baron ver­lor die Ge­duld und stiess sie mit ei­nem kräf­ti­gen Ruck ins Zim­mer. Sie be­deck­te das Ge­sicht mit den Hän­den und blieb heu­lend ste­hen.

So­bald Jo­han­na sie be­merk­te, rich­te­te sie sich auf und sass da, blei­cher als die Kis­sen, in de­nen sie ruh­te. Ihr Herz klopf­te so hef­tig, dass die Spit­zen ih­res Hem­des auf- und ab­wog­ten. Sie konn­te kaum at­men und rang krampf­haft nach Luft. End­lich sprach sie mit hal­b­er­stick­ter Stim­me: »Ich … ich … hät­te nicht … nö­tig … Dich zu fra­gen. Es … war für mich … ge­nug …, Dei­ne … Dei­ne Schmach … mit ei­ge­nen Au­gen … zu se­hen.«

Nach ei­ner Pau­se, in der sie wie­der Atem schöpf­te, be­gann sie aber­mals: »Aber ich will al­les wis­sen … Al­les … ganz ge­nau, Ich habe den Herrn Pfar­rer ge­be­ten; es soll eine Art Beich­te sein, ver­stehst Du.«

Ro­sa­lie stand re­gungs­los da und stiess nur hin und wie­der eine Art Schrei zwi­schen den krampf­haft ge­schlos­se­nen Hän­den her­vor.

Der Baron, von Zorn über­mannt, fass­te sie bei den Ar­men, riss ihr die Hän­de vom Ge­sicht und zwäng­te sie vor dem Bett auf die Knie.

»Sprich jetzt …« schrie er, »ant­wor­te!« Sie blieb am Bo­den mit der Hal­tung ei­ner Mag­da­le­ne, ihre Müt­ze war ganz schief ge­rückt, die Schür­ze be­deck­te den Bo­den. Mit den Hän­den ver­barg sie aber­mals das Ge­sicht.


»Nun, mei­ne Toch­ter,« be­gann jetzt der Pries­ter, »höre, was man Dir sagt und gib Ant­wort. Wir wol­len Dir nichts Übles zu­fü­gen, aber wir wol­len wis­sen, was sich zu­ge­tra­gen hat.«

Jo­han­na hat­te sich über den Bett­rand ge­beugt und sah sie lan­ge an.

»Es ist also wahr, dass Du Dich im Bet­te mei­nes Man­nes be­fan­dest, als ich Euch über­rasch­te.«

»Ja, Ma­da­me,« seufz­te Ro­sa­lie zwi­schen den Fin­gern hin­durch.

Da brach die Baro­nin plötz­lich in lau­tes Wei­nen aus, dem klei­ne Er­sti­ckungs­an­fäl­le folg­ten. Ihr krampf­haf­tes Schluch­zen ver­misch­te sich mit dem Ro­sa­li­ens.

»Seit wie lan­ge hat das schon so ge­währt?« frag­te Jo­han­na, den Blick fest auf die Zofe ge­hef­tet.

»Seit­dem er her­kam,« stam­mel­te Ro­sa­lie.

Jo­han­na ver­stand nicht gleich.

»Seit­dem er her­kam? … Also … seit … seit dem Früh­jahr?«

»Ja, Ma­da­me.«

»Seit­dem er ins Haus kam?«

»Ja, Ma­da­me.«

Tau­send Fra­gen schweb­ten Jo­han­na jetzt auf der Zun­ge.

»Aber wie ist das mög­lich?« be­gann sie has­tig. »Wie hat er Dir’s denn nahe ge­legt? Wie wur­dest Du die sei­ne? Was sag­te er Dir? Wann und wie hast Du denn nach­ge­ge­ben? Wie konn­test Du Dich denn ihm über­las­sen?«

Jetzt streck­te Ro­sa­lie ab­weh­rend die Hän­de aus; auch ihr schweb­ten tau­send Ant­wor­ten auf der Zun­ge.

»Ich weiß es nur zu gut. Als er zum ers­ten Mal hier ass, such­te er mich in mei­nem Zim­mer auf. Er hat­te sich auf dem Bo­den ver­steckt. Ich wag­te nicht zu schrei­en, um kei­nen Skan­dal zu ma­chen. Er leg­te sich zu mir. Was soll­te ich da ma­chen? Ich war in sei­ner Hand. Ich woll­te auch nichts sa­gen; er war so nett und gut …«

Jo­han­na stiess einen Schrei aus.

»Aber … Dein Kind … Dein Kind … ist es von ihm? …«

»Ja, Ma­da­me,« schluchz­te Ro­sa­lie.

Eine Zeit lang schwie­gen bei­de. Man hör­te nur das Schluch­zen Ro­sa­li­ens und der Baro­nin.

Auch Jo­han­na fühl­te, wie ihre Au­gen feucht wur­den; sie lehn­te sich in die Kis­sen zu­rück und lei­se ran­nen ihr die Trä­nen über die Wan­gen.

Das Kind ih­rer Zofe hat­te den­sel­ben Va­ter wie das ih­ri­ge! Ihr Zorn war da­hin. Jetzt fühl­te sie nur, wie eine selt­sa­me tie­fe und end­lo­se Verzweif­lung sich lang­sam ih­res Her­zens be­mäch­tig­te.

Sie be­gann ihre Fra­gen aufs neue, aber die­ses Mal klang ihre Stim­me ver­än­dert, wei­cher.

»Als wir zu­rück­ka­men von … da un­ten … von der Rei­se …, wann hat er da wie­der an­ge­fan­gen?«

»Da … gleich den ers­ten Abend,« stöhn­te die Zofe, die jetzt bei­na­he ganz am Bo­den lag.

Je­des ih­rer Wor­te durch­schnitt Jo­han­nas Herz. Also am ers­ten Abend, am Abend ih­rer Rück­kehr nach Peup­les, ließ er sie al­lein um die­ses Mäd­chens wil­len! Des­halb schlief er in sei­nem Zim­mer!

Sie wuss­te jetzt ge­nug, sie moch­te nichts mehr da­von hö­ren.

»Geh’ hin­aus, geh’ fort!« rief sie. Und als Ro­sa­lie, ganz fas­sungs­los, sich nicht von der Stel­le rühr­te, rief sie den Va­ter her­bei: »Füh­re sie fort, jag’ sie hin­aus.«

Aber der Pfar­rer, der bis da­hin schwei­gend zu­ge­hört hat­te, hielt jetzt den Au­gen­blick für eine klei­ne Straf­pre­digt ge­kom­men:

»Das ist schänd­lich, was Du ge­tan hast, mei­ne Toch­ter,« be­gann er, »sehr schänd­lich; der Him­mel wird Dir so­bald nicht ver­zei­hen. Den­ke an die Höl­le, die Dich er­war­tet, wenn Du nicht so­fort eine an­de­re Le­bens­wei­se be­ginnst. Jetzt, wo Du ein Kind hast, müs­sen wir se­hen, dass es mit Dir in Ord­nung kommt. Frau Baro­nin wird ohne Zwei­fel et­was für Dich tun und wir müs­sen trach­ten, einen Mann für Dich zu fin­den …«

Er hät­te je­den­falls noch lan­ge ge­spro­chen, aber der Baron hat­te Ro­sa­lie aber­mals bei den Schul­tern ge­fasst, riss sie in die Höhe, schlepp­te sie bis an die Türe und warf sie wie einen Ball auf den Gang hin­aus.

Als er, blei­cher fast wie sei­ne Toch­ter, zu­rück­kam, er­griff der Pfar­rer aber­mals das Wort: »Was soll man ma­chen? Sie sind alle so hier zu Lan­de. Es ist zum jam­mern, aber man kann es nicht än­dern und muss et­was Nach­sicht mit der Schwä­che der Na­tur ha­ben. Sie hei­ra­ten nie­mals, Ma­da­me, ohne nicht schon gu­ter Hoff­nung zu sein. Man könn­te das so als eine Lan­des­sit­te be­zeich­nen,« füg­te er lä­chelnd hin­zu. »Selbst bei den Kin­dern fängt es schon an,« sag­te er, dann erns­ter wer­dend. »Fand ich doch neu­lich auf dem Kirch­hof ein Pär­chen, das noch die Schu­le be­sucht! Ich teil­te es den El­tern mit. Wis­sen Sie, was ich zur Ant­wort er­hielt? »Was soll man ma­chen, Herr Pfar­rer? Wir ha­ben ih­nen die­se Schmut­ze­rei nicht bei­ge­bracht; wir kön­nen nichts da­für.« Se­hen Sie, Herr Baron, Ihr Mäd­chen hat es ge­macht, wie die an­de­ren auch …«

»Ach die?« un­ter­brach ihn der Baron, noch wut­zit­ternd, »die ist mir ganz gleich­gül­tig. Es ist Ju­li­us, der mich so wü­tend macht. Es ist schänd­lich, was er da ge­macht hat und ich will mei­ne Toch­ter mit mir neh­men.«

Sich im­mer mehr in die Hit­ze re­dend, ging er auf und ab. »Es ist in­fam, mei­ne Toch­ter so zu hin­ter­ge­hen, in­fam! Er ist ein Lump, die­ser Mensch, eine Ca­nail­le, ein Elen­der; aber ich wer­de es ihm sa­gen, ich wer­de ihn züch­ti­gen, ihn mit mei­nem De­gen um­brin­gen!«

Der Pfar­rer nahm, ne­ben der trost­lo­sen Baro­nin ste­hend, be­däch­tig eine Prie­se und such­te sei­nes Am­tes als Frie­dens­spen­der zu wal­ten. »Se­hen Sie, Herr Baron, er hat es, un­ter uns ge­sagt, ge­macht wie alle Welt. Ken­nen Sie vie­le Ehe­män­ner, die treu sind?« Und mit et­was bos­haf­ter Harm­lo­sig­keit füg­te er hin­zu: »Si­cher, ich wet­te, dass Sie selbst auch so Ihre klei­nen Scher­ze ge­habt ha­ben. Schau­en Sie, Hand aufs Herz, ob ich nicht recht habe.«

Der Baron war über­rascht ste­hen ge­blie­ben und schau­te dem Pries­ter ins Ge­sicht, der ru­hig fort­fuhr:

»Nun ja, Sie ha­ben es ge­macht wie alle an­de­ren. Wer weiß, ob Sie nicht auch mal so eine le­cke­re Frucht ge­kos­tet ha­ben, wie die­se da. Ich sage Ih­nen, alle Welt treibt es so. Ihre Frau ist dar­um nicht we­ni­ger glück­lich und we­ni­ger ge­liebt ge­we­sen, nicht wahr?«

Der Baron wuss­te wirk­lich nicht, was er ant­wor­ten soll­te.

Wahr­haf­tig, in der Tat, er hat­te es eben­so ge­macht und recht oft so­gar, so hin­ge er ge­konnt hat­te. Auch er hat­te sein ei­ge­nes Haus nicht rein ge­hal­ten. Wenn die Zo­fen sei­ner Frau halb­wegs hübsch wa­ren, so hat­te er sich nicht lan­ge be­dacht. War er des­halb ein schlech­ter Mensch? Wa­rum be­ur­teil­te er Ju­li­us’ Auf­füh­rung so streng, wäh­rend er für die sei­ni­ge doch stets eine Ent­schul­di­gung ge­fun­den hat­te?

Der Baro­nin schweb­te mit­ten zwi­schen ih­rem krampf­haf­ten Schluch­zen doch ein Lä­cheln auf den Lip­pen, wenn sie an die klei­nen Ver­ge­ss­lich­kei­ten ih­res Gat­ten dach­te. Sie war eine von je­nen sen­ti­men­ta­len, schnell er­reg­ba­ren und zu­gleich nach­sich­ti­gen Na­tu­ren, für wel­che Lie­bes-Aben­teu­er das hal­be Le­ben aus­ma­chen.

Jo­han­na lag in­des­sen mit of­fe­nen Au­gen, die Arme un­ter dem Kopf ge­kreuzt, auf ih­rem Kis­sen und starr­te, in schmerz­li­ches Nach­den­ken ver­sun­ken, vor sich hin. Ein Wort Ro­sa­li­ens kam ihr im­mer wie­der in den Sinn, das sie tief ver­letzt hat­te und ihr einen Stich ins Herz gab: »Ich woll­te nichts sa­gen, er war so nett und gut.«

Auch sie hat­te ihn nett und gut ge­fun­den und nur des­halb hat­te sie sich ihm er­ge­ben, sich ihm fürs gan­ze Le­ben ver­bun­den, auf jede an­de­re Hoff­nung, auf alle ihre Ju­gendträu­me, auf alle un­be­kann­ten Er­war­tun­gen ver­zich­tet. Sie hat­te sich in die­se Ehe ge­stürzt, in die­ses grund­lo­se Loch, um in die­ses Elend zu ge­ra­ten, in die­se trost­lo­se, ver­zwei­feln­de Lage, weil sie, wie Ro­sa­lie, ihn so nett und gut ge­fun­den hat­te.

Die Türe flog mit ei­nem hef­ti­gen Stos­se auf und Ju­li­us trat ein, das Ant­litz vor Wut ent­stellt. Er hat­te Ro­sa­lie jam­mernd auf der Trep­pe ge­fun­den und woll­te sich nun selbst über­zeu­gen. Er ahn­te, dass ir­gen­det­was vor­ge­fal­len war, dass das Mäd­chen ohne Zwei­fel ge­plau­dert hat­te. Der An­blick des Pries­ters bann­te ihn auf sei­nen Platz.

»Was ist los? Was gibts?« frag­te er mit zit­tern­der Stim­me, aber im Üb­ri­gen ru­hig. Der Baron, vor­hin noch so hef­tig, wag­te nichts zu sa­gen; es war ihm bei den Wor­ten des Pfar­rers und dem Hin­weis auf sein ei­ge­nes Bei­spiel nicht recht wohl zu Mute ge­wor­den. Die Mama wein­te wie­der stär­ker. Jo­han­na hat­te sich auf die Hän­de ge­stützt und be­trach­te­te schwer at­mend den, der ihr so grau­sa­mes Weh ver­ur­sacht hat­te.

»Was es gibt?« stam­mel­te sie. »Nun, dass wir al­les wis­sen, dass wir Ihre gan­ze Schänd­lich­keit ken­nen seit … seit dem Tage, wo Sie die­ses Haus be­tre­ten ha­ben … dass das Kind die­ser Zofe Ih­nen ge­hört … wie … das mei­ni­ge, … dass es Ge­schwis­ter sein wer­den.« Und vom Über­mas­se des Schmer­zes be­wäl­tigt, barg sie das Ge­sicht in die Kis­sen und wein­te bit­ter­lich.

Er blieb ver­blüfft ste­hen und wuss­te nicht, was er tun und sa­gen soll­te.

»Nun ja, mei­ne jun­ge Dame«, misch­te sich der Pfar­rer ein, »grä­men wir uns nicht so sehr; sei­en Sie ver­nünf­tig.« Er stand auf, nä­her­te sich dem Bet­te und leg­te sanft sei­ne Hand auf die Stirn der Verzwei­fel­ten. Die­se mil­de Berüh­rung stimm­te sie selt­sam weich; sie fühl­te sich als­bald sprach­los, als ob die­se ein­fa­che star­ke Hand, ge­wohnt Ver­zei­hung zu spen­den, Trost zu brin­gen, ihre See­le mit ei­nem ge­heim­nis­vol­len Frie­den er­füllt habe.

»Ma­da­me«, be­gann der wa­cke­re Mann, bei ihr ste­hen blei­bend, aufs Neue, »man muss stets Ver­zei­hung üben. Se­hen Sie, ein großes Un­glück hat Sie be­trof­fen; aber Gott hat in sei­ner Barm­her­zig­keit ihm ein großes Glück zur Sei­te ge­stellt, in­dem Sie sich Mut­ter füh­len. Das Kind wird Ihr Trost sein. In sei­nem Na­men fle­he ich Sie an; ich be­schwö­re Sie, Herrn Ju­li­us zu ver­zei­hen. Es wird ein neu­es Band zwi­schen Ih­nen bil­den, ein Un­ter­pfand sei­ner zu­künf­ti­gen Treue. Kön­nen Sie sich von dem Her­zen des­sen los­sa­gen, des­sen Lie­bes­pfand Sie un­ter dem Her­zen tra­gen?«

Sie ant­wor­te­te nicht; sie war ge­knickt, von Schmerz zer­ris­sen und zu er­schöpft jetzt. Sie hat­te selbst für Zorn und Ab­scheu kei­ne Kraft mehr. Ihre Ner­ven wa­ren ab­ge­spannt, wie lang­sam zer­schnit­ten; sie fühl­te kaum noch, dass sie leb­te.

»Ja, sieh nur mal, Jo­han­na!« sag­te die Baro­nin, der je­der Groll zu­wi­der war, und de­ren See­le ei­ner an­dau­ern­den Er­re­gung un­fä­hig blieb.

Da nahm der Pfar­rer die Hand des jun­gen Man­nes, zog ihn nahe an das Bett her­an, und leg­te sie in die Hand sei­ner Frau. Er drück­te bei­de Hän­de mit der sei­ni­gen, als woll­te er sie end­gül­tig ver­ei­nen, und sei­nen ge­wöhn­li­chen sal­bungs­vol­len Ton bei Sei­te las­send, sag­te er mit zu­frie­de­ner Mie­ne:

»So, das wäre in Ord­nung; glau­ben Sie nur, es wird al­les gut ge­hen.«

Die bei­den Hän­de, eben erst mit­ein­an­der ver­eint, lös­ten sich so­fort wie­der. Ju­li­us wag­te es noch nicht, sei­ne Frau zu um­ar­men und küss­te nur sei­ne Schwie­ger­mut­ter auf die Stirn. Dann dreh­te er sich auf dem Ab­satz um und nahm den Arm des Barons, der es sich gern ge­fal­len ließ, froh im Grun­de ge­nom­men, dass die Ge­schich­te so ab­ge­lau­fen war. Bei­de gin­gen fort, um draus­sen eine Zi­gar­re zu rau­chen.

Die Kran­ke schlum­mer­te vor Er­schöp­fung ein, wäh­rend der Pries­ter mit der Mama noch eine lei­se Un­ter­hal­tung hat­te.

Der Abbé führ­te das Wort und ent­wi­ckel­te sei­ne Ide­en, wäh­rend die Baro­nin zu­wei­len durch ein leich­tes Kopf­ni­cken ih­ren stum­men Bei­fall zu er­ken­nen gab.

»Das wäre also ab­ge­macht«, sag­te er zum Schlus­se. »Sie ge­ben dem Mäd­chen den Pacht­hof Bar­ville, und ich neh­me es auf mich, ihm einen Mann, einen bra­ven or­dent­li­chen Bur­schen zu ver­schaf­fen. Ach, bei ei­nem Ver­mö­gen von zwan­zig­tau­send Fran­cs wird es an Lieb­ha­bern nicht feh­len. Die Wahl wird uns noch schwer ge­nug wer­den.«

Die Baro­nin lä­chel­te glück­lich, wäh­rend noch zwei Trä­nen auf ih­rer Wan­ge haf­te­ten, de­ren feuch­te Spur je­doch be­reits ein­ge­trock­net war.

»Das ist si­cher«, be­stä­tig­te sie; »Bar­ville ist zum Min­des­ten sei­ne zwan­zig­tau­send Fran­cs wert. Aber wir wol­len den Hof auf den Na­men des Kin­des schrei­ben las­sen. Die El­tern sol­len die le­bens­läng­li­che Nutz­nies­sung ha­ben.«

Der Pfar­rer er­hob sich und drück­te der Baro­nin die Hand:

»Be­mü­hen Sie sich nicht, Frau Baro­nin, bit­te, be­mü­hen Sie sich nicht. Die­ser Gang war schon der Mühe wert.«

Beim Her­aus­ge­hen be­geg­ne­te er Tan­te Li­son, die nach der Kran­ken se­hen woll­te. Sie hat­te von al­lem kei­ne Ah­nung; nie­mand sag­te ihr et­was und sie wuss­te, wie im­mer, nichts.

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Guy de Maupassant – Gesammelte Werke

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