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Eine Landpartie

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Schon seit fünf Mo­na­ten hat­te man sich mit dem Pla­ne her­um­ge­tra­gen, am Na­mens­ta­ge der Ma­da­me Du­four, die Pe­tro­nel­la hiess, in der Um­ge­bung von Pa­ris das De­jeu­ner ein­zu­neh­men. So hat­te sich denn bei der Un­ge­duld, mit der man die­ser Par­tie ent­ge­gensah, an die­sem Mor­gen al­les bei Zei­ten er­ho­ben.

Ma­da­me Du­four, wel­che zu die­sem Zwe­cke ih­ren Milch­wa­gen her­ge­ge­ben hat­te, kut­schier­te selbst. Das zwei­rä­de­ri­ge Ge­fährt war sehr rein­lich ge­hal­ten; es be­sass ein Dach, von vier Ei­sen­stä­ben ge­tra­gen, an de­nen Vor­hän­ge be­fes­tigt wa­ren, die man heu­te zu­rück­ge­scho­ben hat­te, um die Ge­gend bes­ser ge­nies­sen zu kön­nen. Nur der Vor­hang an der Rück­sei­te flat­ter­te wie eine Fah­ne im Win­de. Die Haus­frau strahl­te ne­ben ih­rem Man­ne in ei­ner auf­fal­len­den kirsch­ro­ten Sei­den-Toi­let­te. Hin­ter ih­nen sas­sen auf zwei Stüh­len die alte Groß­mut­ter und ein jun­ges Mäd­chen. Aus­ser­dem be­merk­te man noch das Flachs­haar ei­nes jun­gen Bur­schen, wel­cher sich in Er­man­ge­lung ei­nes Sit­zes der Län­ge nach auf dem Bo­den aus­ge­streckt hat­te, so­dass nur noch sein Kopf zum Vor­schein kam.

Nach­dem man die Ave­nue des Champs-Ely­sees her­un­ter ge­fah­ren war und die Fes­tungs­wer­ke bei der Por­te Mail­lot hin­ter sich hat­te, be­gann man, sich mit Mus­se in die Be­trach­tung der Ge­gend zu ver­tie­fen.

»End­lich sind wir im Frei­en« sag­te Herr Du­four als man bei der Brücke von Neuil­ly an­kam; und auf die­sen Ruf hin be­gann Ma­da­me Du­four mit ih­rer Na­tur-Schwär­me­rei.

Am Ron­del von Cour­be­voie er­reg­te der wei­te Aus­blick, der sich da er­öff­ne­te, ihre gan­ze Be­wun­de­rung. Da un­ten rechts lag Ar­gen­teuil mit sei­nem Glock­en­turm; dar­über hin­aus sah man die Schiess­stän­de von San­nois und die Müh­le von Or­ge­mont. Links zeig­te sich am hel­len Mor­gen­him­mel der Aqua­edukt von Mar­ly und aus­ser­dem konn­te man in der Fer­ne noch die Ter­ras­se von Saint-Ger­main be­mer­ken, wäh­rend vorn am Ende ei­ner Hü­gel­ket­te große Erd­auf­wür­fe auf das neue Fort Cor­meil­les hin­deu­te­ten. Ganz hin­ten in ei­ner mäch­ti­gen Ent­fer­nung über Wie­sen und Dör­fer hin­aus, un­ter­schied man noch den grün­li­chen Schim­mer der Wäl­der.

Die Son­ne brann­te den Aus­flüg­lern heiss aufs Ge­sicht, der Staub drang ih­nen un­auf­hör­lich in die Au­gen und zu bei­den Sei­ten der Stras­se dehn­ten sich end­lo­se kah­le schmut­zi­ge und stin­ken­de Fel­der aus. Man hät­te den­ken sol­len, dass ein Aus­satz sie ver­wüs­tet und bis auf die Häu­ser aus­ge­so­gen habe, denn die halb­ver­fal­le­nen und un­be­nutz­ten Ge­rip­pe der Häu­ser, oder bes­ser ge­sagt die klei­nen halb­vollen­de­ten Bau­ten, de­ren Ei­gen­tü­mer we­gen Geld­man­gel auf­ge­hört hat­ten, streck­ten ihre vier nack­ten dach­lo­sen Mau­ern gen Him­mel.

Hier und da stie­gen aus der kah­len Flä­che mäch­ti­ge Fa­brik­schorn­stei­ne em­por, die ein­zi­gen Wahr­zei­gen mensch­li­chen Le­bens in die­ser star­ren Ge­gend, wo die Früh­lings­win­de einen Duft von Teer und Pe­tro­le­um nebst ei­nem an­de­ren noch un­an­ge­neh­me­ren, mit sich führ­ten.

End­lich kam man zum zwei­ten Mal über die Sei­ne; und auf der Brücke nun gab es ein all­ge­mei­nes Stau­nen. Der Strom er­glänz­te im Son­nen­lich­te eine Dunst­wol­ke zog sich von ihm aus zum Ta­ges­ge­stirn em­por, und mit stil­lem Be­ha­gen sog man hier in der wohl­tu­en­den Ruhe die fri­sche rei­ne Luft ein, die nun end­lich von dem Schwar­zen Rauch der Fa­brik­schlo­te und dem Dunst der Werk­stät­ten frei war.

Bei ei­nem Vor­über­ge­hen­den hat­te man den Na­men des Or­tes hier er­fah­ren: Es war Be­z­ons.

Der Wa­gen hielt und Herr Du­four las die ein­la­den­de Auf­schrift ei­ner Gar­kü­che: »Re­stau­rant Pou­li­en, Ra­gouts und Bra­ten; Ge­sell­schafts­zim­mer, Gar­ten mit Schau­kel. Nun, Ma­da­me Du­four, ge­fällt Dir das? Wirst Du Dich ent­sch­lies­sen?«

Ma­da­me las nun auch: »Re­stau­rant Pou­lin, Ra­gouts und Bra­ten; Ge­sell­schafts­zim­mer, Gar­ten mit Schau­kel.« Dann schau­te sie das Haus lan­ge an.

Es war ein rein­li­ches länd­li­ches Gast­haus am Ran­de der Stras­se. Durch die of­fe­ne Tür sah man die blan­ken Zinn­schüs­seln des Schenk­ti­sches, vor wel­chem zwei Ar­bei­ter im Sonn­tags­ge­wan­de stan­den. End­lich hat­te Ma­da­me sich ent­schie­den:

»Ja, es ist gut hier, und aus­ser­dem hat man Aus­sicht.« sag­te sie.

Der Wa­gen bog in einen ge­räu­mi­gen mit großen Bäu­men be­pflanz­ten Hof ein, der sich bis hin­ter das Gast­haus aus­dehn­te und von der Sei­ne nur durch den Lein­pfad ge­trennt war.

Man stieg ab. Der Mann sprang zu­erst her­un­ter und öff­ne­te die Arme um sei­ne Frau auf­zu­fan­gen. Der von zwei Ei­sen­stan­gen ge­hal­te­ne Fuss­tritt war ziem­lich nahe über dem Bo­den, so­dass sie den un­te­ren Teil ei­nes Bei­nes se­hen ließ, des­sen ur­sprüng­li­che Fein­heit jetzt un­ter ei­nem ziem­li­chen Fet­t­an­satz ver­schwand, der ihre Schen­kel be­deck­te. Herr Du­four, den die Land­luft aus sei­ner ge­wohn­ten Schläf­rig­keit ge­weckt hat­te, kniff sie in die Wade, dann fass­te er sie un­ter die Arme und ließ sie lang­sam wie ein großes Packet zur Erde glei­ten.

Sie klopf­te mit den Hän­den auf ihr Sei­den­kleid um den Staub zu ent­fer­nen und sah sich dann ihre Um­ge­bung nä­her an.

Ma­da­me Du­four war eine Frau von un­ge­fähr sechs­und­dreis­sig Jah­ren, wohl­ge­nährt, üp­pig und von mun­te­ren Sin­nen. Sie at­me­te et­was schwer, in­dem das zu eng ge­schnür­te Cor­set sie be­drück­te, und die hoch­auf­ge­schnür­te star­ke Brust stieg wie eine wo­gen­de Mas­se fast bis zu ih­rem Dop­pel­kinn em­por. Hier­auf schwang sich das jun­ge Mäd­chen, in­dem es sei­ne eine Hand auf die Schul­ter des Papa stütz­te, ohne wei­te­re Hil­fe aus dem Wa­gen. Der Bur­sche mit dem Flachs­kopf hat­te einen Fuss auf das Rad ge­setzt und die­ses als Tritt­brett be­nutzt. Jetzt half er Herrn Du­four, die Groß­mut­ter aus­zu­la­den.

Hier­auf wur­de das Pferd ab­ge­spannt und an den nächs­ten Baum ge­bun­den; der Wa­gen fiel vorn­über und fand sei­ne Stüt­ze in der Sche­re. Die bei­den Män­ner zo­gen ihre Rö­cke aus, wu­schen sich die Hän­de in ei­nem nahe ste­hen­den Trän­kei­mer und be­ga­ben sich nach Ver­voll­stän­di­gung ih­rer Toi­let­te wie­der zu den Da­men, die be­reits auf den Schau­keln Platz ge­nom­men hat­ten.

Fräu­lein Du­four ver­such­te sich ste­hend ohne Hil­fe zu schau­keln; in­dess woll­te ihr der rech­te Schwung nicht ge­lin­gen. Sie war ein hüb­sches Mäd­chen von acht­zehn bis zwan­zig Jah­ren, ei­nes je­ner We­sen, de­ren An­blick auf der Stras­se einen plötz­lich reizt und nicht sel­ten eine un­ru­hi­ge, auf­ge­reg­te Nacht ver­ur­sacht. Groß, von schlan­ker Tail­le und brei­ten Hüf­ten, hat­te sie einen sehr bräun­li­chen Teint, sehr große Au­gen und tief­schwar­ze Haa­re. Ihr Kleid ließ die Fül­le ih­rer Kör­per­for­men deut­lich her­vor­tre­ten, na­ment­lich bei den cha­rak­te­ris­ti­schen Be­we­gun­gen der Hüf­ten, mit de­nen sie sich jetzt in Schwung zu brin­gen ver­such­te. Mit den aus­ge­streck­ten Ar­men hat­te sie die Sei­le in Höhe ih­res Kop­fes er­fasst und ihre Brust hob sich un­will­kür­lich bei je­dem Sto­ss, den sie sich gab. Ihr Hut, den ein Wind­sto­ss fort­ge­schleu­dert hat­te, lag hin­ter ihr, und wie nun die Schau­kel end­lich doch an­fing sich hö­her zu he­ben, zeig­ten sich bei je­dem Schwun­ge der­sel­ben ihre nied­li­chen Bei­ne bis zum Knie. Die bei­den Män­ner schau­ten la­chend die­sem Schau­spiel zu und lies­sen sich das Ge­sicht durch den Wind­hauch fä­cheln, den ihre flat­tern­den Klei­der her­vor­rie­fen. Die­ser Luft­zug schi­en ih­rer Nase ein an­ge­neh­me­res Ge­fühl zu be­rei­ten, als der Duft von Al­ko­hol.

Ma­da­me Du­four sass auf der and­ren Schau­kel, und stöhn­te fort­ge­setzt in ein­för­mi­gem Tone:

»Cy­pri­an, komm und schaukle mich; komm doch und schaukle mich, Cy­pri­an!« Sch­liess­lich ging er hin, nach­dem er die Är­mel wie zu ei­nem schwie­ri­gen Stück Ar­beit auf­ge­stülpt hat­te und setz­te sei­ne Frau mit un­end­li­cher Mühe in Be­we­gung.

Die Stri­cke um­klam­mernd, streck­te sie die Füs­se ge­ra­de­aus, um nicht den Bo­den zu strei­fen, und er­götz­te sich an der ein­schlä­fern­den Hin- und Her­be­we­gung der Schau­kel. Ihre For­men zit­ter­ten bei die­ser Be­schäf­ti­gung fort­wäh­rend wie Gel­lee auf ei­ner Schlüs­sel. Aber als die Schwin­gun­gen stär­ker wur­den be­kam sie hef­ti­ge Furcht. Je­des Mal, wenn es nach un­ten ging, stiess sie einen gel­len­den Schrei aus, wo­durch alle Dorf­jun­gen her­bei­ge­lockt wur­den; und sie be­merk­te hin­ter der Gar­ten­he­cke eine An­zahl Bur­schen­köp­fe, wel­che sich vor La­chen fast aus­schüt­ten woll­ten.


Als nun eine Auf­wär­te­rin kam, be­fahl man das De­jeu­ner.

»Ei­nen Sei­ne-Back­fisch, einen Ka­nin­chen­bra­ten, eine Schüs­sel Salat und Des­sert« be­stell­te Ma­da­me Du­four mit wich­ti­ger Mie­ne.

»Brin­gen Sie zwei Li­ter und eine Fla­sche Bor­deaux«, rief ihr Mann.

»Wir wol­len im Gra­se spei­sen,« füg­te das jun­ge Mäd­chen hin­zu.

Die Groß­mut­ter, von Zärt­lich­keit beim An­blick der Haus­kat­ze er­grif­fen, ver­folg­te die­sel­be seit zehn Mi­nu­ten ver­geb­lich mit den süs­ses­ten Ko­sen­a­men. Das Tier fühl­te sich zwei­felsoh­ne in­ner­lich über die­se Auf­merk­sam­keit sehr ge­schmei­chelt und hielt sich im­mer ganz nahe bei der gu­ten Al­ten auf, ohne sich je­doch er­wi­schen zu las­sen; es mach­te ru­hig sei­nen Rund­gang um je­den ein­zel­nen Baum, rieb den ge­krümm­ten Rücken dar­an und streck­te be­hag­lich schnur­rend den Schwanz ker­zen­ge­ra­de in die Höhe.

»Hol­la!« schrie plötz­lich der jun­ge Flachs­kopf, der das Ter­rain son­dier­te, »da gibt es ja auch Renn­boo­te!«

Man ging hin, um sich zu über­zeu­gen. In der Tat wa­ren an ei­ner klei­nen Holz­brücke zwei präch­ti­ge, sehr sorg­sam und lu­xu­ri­ös ge­bau­te Ru­der­boo­te be­fes­tigt. Sie la­gen ne­ben­ein­an­der wie zwei große schlan­ke Mäd­chen, so lang und glän­zend, und lock­ten un­will­kür­lich zu ei­ner Spa­zier­fahrt bei den schö­nen lau­en Aben­den oder hel­len Mor­gen­stun­den der Som­mer­zeit. Wie präch­tig muss­te es sein, an den blu­mi­gen Ufern ent­lang zu glei­ten, wo die Bäu­me ihre Zwei­ge in das Was­ser tau­chen, das Schilf­rohr fort­wäh­rend im Säu­seln des Win­des er­schau­ert, und der schnel­le Eis­vo­gel wie ein blau­er Blitz aus dem­sel­ben her­vor­schwirrt.

Die gan­ze Fa­mi­lie be­trach­te­te sie mit Ehr­furcht. »Ach ja, das sind Renn­boo­te,« wie­der­hol­te ge­wich­tig Herr Du­four und be­gann sie mit dem Tone ei­nes Ken­ners zu be­schrei­ben. Er hat­te, wie er sag­te, selbst in sei­ner Ju­gend ge­ru­dert, und mit sol­chen Din­gern in der Hand – hier­bei mach­te er die Be­we­gung des Ru­derns – wür­de er je­den in die Schran­ken for­dern. Er ver­stand sich dar­auf trotz dem bes­ten Eng­län­der und hat­te mehr­mals so­gar in Join­ville mit­ge­st­ar­tet. Er scherz­te über das Wort »Da­men« wo­mit man die Ru­der­ga­beln be­zeich­net und mach­te das geist­rei­che Wort­spiel, dass tüch­ti­ge Boots­män­ner nie einen Aus­flug ohne ihre »Da­men« mach­ten. Wäh­rend er sprach, ge­riet er von selbst in eine ge­wis­se Er­re­gung hin­ein und ver­stieg sich schliess­lich zu der Wet­te, mit ei­nem Boo­te, wie die­se da, in der Stun­de sei­ne sechs Mei­len zu ma­chen, ohne sich be­son­ders an­zu­stren­gen.

»Es ist an­ge­rich­tet« mel­de­te jetzt die Auf­wär­te­rin, wel­che am Ein­gang des Gar­tens er­schi­en. Man folg­te ei­ligst ih­rem Rufe, aber auf dem schöns­ten Plat­ze, den sich Ma­da­me Du­four schon im Geis­te aus­ge­sucht hat­te, früh­stück­ten be­reits zwei jun­ge Leu­te. Es wa­ren dies ohne Zwei­fel die Ei­gen­tü­mer der Boo­te, denn sie tru­gen Ru­der­sport-Ko­stü­me.

Sie sas­sen oder la­gen viel­mehr auf zwei Stüh­len. Ihr Ge­sicht war von der Son­ne ge­bräunt und ih­ren Ober­kör­per be­deck­te nur ein ein­fa­ches wei­ßes Baum­woll­hemd, aus wel­chem die blos­sen Arme her­vor­schau­ten, die­sel­ben wa­ren kräf­tig, wie wenn sie Schmie­den ge­hör­ten. Es wa­ren zwei mun­te­re kraft­strot­zen­de Bur­schen, aus de­ren gan­zen Be­we­gun­gen aber jene ge­fäl­li­ge Elas­ti­zi­tät der Glie­der sprach, die man nur durch ste­te Übung er­hält, und die so ganz ver­schie­den von je­ner ein­sei­ti­gen Kraft­aus­bil­dung ist, wel­che über­mäs­si­ge An­stren­gung bei dem Ar­bei­ter her­vor­ruft.

Beim An­blick der Mut­ter husch­te ein flüch­ti­ges Lä­cheln über ihre Lip­pen, wäh­rend sie beim Er­schei­nen der Toch­ter einen be­deut­sa­men Blick aus­tausch­ten.

»Tre­ten wir ih­nen un­se­ren Platz ab;« sag­te der eine »da­bei kön­nen wir dann ihre Be­kannt­schaft ma­chen.«

Der an­de­re er­hob sich so­fort und in­dem er sei­ne halb­rot-halb­schwar­ze Müt­ze zog, bot er mit rit­ter­li­cher Höf­lich­keit den ein­zi­gen schat­ti­gen Platz im Gar­ten den Da­men an. Un­ter al­ler­lei Aus­flüch­ten und Ent­schul­di­gun­gen nahm man schliess­lich das lie­bens­wür­di­ge Aner­bie­ten an; und, da­mit das Gan­ze einen recht länd­li­chen An­strich be­käme, ließ man sich ohne Tisch und Stüh­le di­rekt auf dem Ra­sen nie­der.

Die bei­den jun­gen Leu­te tru­gen ihr Ge­deck ei­ni­ge Schrit­te wei­ter und be­gan­nen wie­der zu es­sen. Der ste­te An­blick ih­rer blos­sen Arme setz­te das jun­ge Mäd­chen et­was in Ver­le­gen­heit. Sie tat so­gar als ob sie den Kopf wen­de und gar kei­ne No­tiz mehr von ih­nen näh­me; Ma­da­me Du­four da­ge­gen war schon et­was we­ni­ger prü­de und wur­de von leicht zu be­grei­fen­der weib­li­cher Neu­gier und auch ein we­nig von Lüs­tern­heit ge­plagt. Sie schau­te je­den Au­gen­blick hin, und stell­te im Ge­hei­men zwei­felsoh­ne Ver­glei­che zwi­schen ih­nen und den be­dau­er­li­chen Män­geln ih­res Gat­ten an.

Sie hat­te sich ins Gras ge­pflanzt, die Bei­ne nach Schnei­der­art ge­kreuzt, und schüt­tel­te sich alle Au­gen­bli­cke, weil ihr an­geb­lich eine Amei­se ir­gend­wo­hin ge­kro­chen sei. Herr Du­four, dem die Nach­bar­schaft der lie­bens­wür­di­gen Frem­den durch­aus nicht sehr will­kom­men war, such­te nach ir­gend ei­ner be­hag­li­chen Lage, die er üb­ri­gens nicht fand; und der jun­ge Mensch mit den flachs­gel­ben Haa­ren frass schwei­gend wie ein Währ­wolf.

»Ein hüb­scher Tag heu­te, mein Herr!« sag­te die di­cke Dame zu ei­nem der Ru­de­rer; sie woll­te sich we­gen der Ab­tre­tung des Plat­zes lie­bens­wür­dig er­zei­gen.

»Ja, Ma­da­me;« ent­geg­ne­te die­ser. »Kom­men Sie oft aufs Land her­aus?«

»Oh, höchs­tens ein oder zwei­mal im Jah­re, um et­was fri­sche Luft zu schöp­fen; und Sie mein Herr?«

»Ich fah­re alle Aben­de zum Schla­fen her­aus.«

»Ach das muss hübsch sein?«

»Ge­wiss, Ma­da­me.«

Und er er­zähl­te so poe­tisch von sei­nem täg­li­chen Le­ben, dass in dem Her­zen die­ser Bür­gers­leu­te, die des grü­nen­den Ra­sens für ge­wöhn­lich ent­beh­ren muss­ten und für die eine Land­par­tie das gröss­te Fest des Lan­des bil­de­te, wie­der völ­lig jene sinn­lo­se Na­tur­schwär­me­rei er­wach­te, der sie sich das gan­ze Jahr über hin­ter ih­rem La­den­tisch hin­zu­ge­ben pfleg­ten.

Das jun­ge Mäd­chen hob jetzt sicht­lich er­grif­fen den Kopf und be­trach­te­te sich die bei­den Ru­de­rer. »Ja, ja, das ist ein Le­ben« sag­te Herr Du­four, der jetzt zum ers­ten Male das Wort er­griff. »Noch et­was Ka­nin­chen ge­fäl­lig, mei­ne Lie­be?« füg­te er hin­zu. »Nein, dan­ke Dir, lie­ber Freund!«

»Frie­ren Sie nie­mals so?« wand­te sie sich jetzt wie­der den jun­gen Leu­ten zu und zeig­te auch de­ren ent­blöss­te Arme.

Die­se fin­gen bei­de herz­lich zu la­chen an, und mach­ten nun die Fa­mi­lie Du­four durch die Ge­schich­te gru­se­lig, wel­che sie von ih­ren Schwitz­bä­dern und ih­ren Tou­ren im Dun­kel der Nacht er­zähl­ten. Da­bei klopf­ten sie sich mehr­fach auf die Brust um den kräf­ti­gen Wie­der­hall der­sel­ben zu zei­gen.

»Ach ja, Sie ha­ben ein kräf­ti­ges Äus­se­re,« sag­te Herr Du­four, der nicht mehr auf die Zeit zu­rück­kam, wo er die Eng­län­der ge­schla­gen hat­te.

Das jun­ge Mäd­chen sah sie sich aber­mals von der Sei­te an; der Flachs­kopf, dem beim Trin­ken et­was in die falsche Keh­le ge­kom­men war, hus­te­te hef­tig und be­spritz­te bei die­ser Ge­le­gen­heit die kirsch­ro­te Robe der Haus­frau, die zor­nig nach Was­ser rief um die Fle­cken zu ent­fer­nen.

Un­ter­des­sen war die Luft ent­setz­lich schwül ge­wor­den und der Al­ko­hol be­ne­bel­te dazu auch noch die Sin­ne.

Herr Du­four, den ein hef­ti­ger Schluck­ser plag­te, hat­te sei­ne Wes­te und den Ober­knopf sei­nes Bein­klei­des ge­öff­net, wäh­rend sei­ne Frau, die bei­na­he zu er­sti­cken droh­te, all­mäh­lich lei­se ihre Tail­le los­hef­tel­te. Der jun­ge Mensch we­del­te sich mit der Ser­vi­et­te fri­sche Luft zu und schenk­te sich im­mer wie­der zu trin­ken ein. Die Groß­mut­ter, die sich zwar auch et­was an­ge­hei­tert fühl­te, blieb in­des­sen ernst und zu­rück­hal­tend. Das jun­ge Mäd­chen ließ sich äus­ser­lich nichts mer­ken; sein Auge nur leuch­te­te zu­wei­len schwär­me­risch auf und sei­ne brü­net­te Haut zeig­te hin und wie­der auf den Wan­gen ein flüch­ti­ges Rot.

Der Kaf­fee gab ih­nen den Rest. Man sprach von Sin­gen, und je­der gab sein Lied zum Bes­ten, dem die an­de­ren leb­haft Bei­fall klatsch­ten. Als­dann er­hob man sich mit ei­ni­ger Mühe und wäh­rend der weib­li­che Teil der Ge­sell­schaft et­was Atem schöpf­te, ver­such­te sich der männ­li­che Teil, bei­der­seits stark an­ge­trun­ken in gym­nas­ti­schen Übun­gen. Schwer­fäl­lig, schlaff und mit ge­röte­ter Stirn fass­ten sie sich lin­kisch um die Hüf­ten und such­ten sich ver­geb­lich in die Höhe zu he­ben; da­bei droh­ten ihre Hem­den fort­wäh­rend aus den Ho­sen her­vor­zu­rut­schen und wie Fähn­lein vor ih­ren Bäu­chen zu flat­tern.

Die bei­den Ru­de­rer hat­ten in­des­sen ihre Yol­len ins Was­ser ge­scho­ben und schlu­gen nun mit vollen­de­ter Höf­lich­keit den Da­men eine klei­ne Kahn­par­tie vor.

»Lie­ber Du­four, er­laubst Du? ich bit­te Dich dar­um« rief sei­ne Frau. Er sah sie mit halb­trun­ke­ner ver­ständ­nis­lo­ser Mie­ne an. Da nä­her­te sich ihm der eine Ru­de­rer, zwei An­gel­schnü­re in der Hand hal­tend. Die Hoff­nung auf einen Fisch­fang, die­ses Ide­al ei­nes je­den Spiess­bür­gers, mach­te das Auge des wa­cke­ren Man­nes wie­der leuch­ten, und er gab sei­ne Ein­wil­li­gung zu al­lem, was man woll­te. Un­ter der Brücke setz­te er sich im Schat­ten hin, und ließ die Bei­ne über­’m Was­ser bau­meln, wäh­rend der jun­ge Flachs­kopf an sei­ner Sei­te bald se­lig ent­schla­fen war.

Der eine Ru­de­rer brach­te das Op­fer, Ma­da­me Du­four in sei­nen Kahn auf­zu­neh­men.

»Zum klei­nen Holz auf der eng­li­schen In­sel« rief er beim For­tru­dern dem an­de­ren zu.

Der zwei­te Kahn ent­fern­te sich viel lang­sa­mer. Der Boot­füh­rer blick­te sei­ne Ge­fähr­tin so ei­gen­tüm­lich an, dass sie gar kei­ne rech­ten Ge­dan­ken mehr fas­sen konn­te, und sich von ei­nem ei­gen­tüm­lich ein­schlä­fern­den Ge­fühl be­schli­chen fühl­te.

Das jun­ge Mäd­chen sass am Steu­er­ru­der und über­liess sich ganz dem sanf­ten Be­ha­gen ei­ner Was­ser­fahrt. Sie fühl­te ein sol­ches Wi­der­stre­ben zu den­ken, eine sol­che Schwe­re in den Glie­dern, eine sol­che Hilf­lo­sig­keit so­zu­sa­gen, als wäre sie in der Tat ernst­lich be­rauscht. Sie war sehr rot ge­wor­den und ihr Atem ging kurz. Die leich­ten Geis­ter des Wei­nes, de­ren Wir­kung die sen­gen­de Hit­ze um sie her­um noch ver­mehr­te, spie­gel­ten ihr vor, dass alle Bäu­me am Ufer sich vor ihr ver­neig­ten. Ein un­de­fi­nier­ba­res Be­dürf­nis nach Ge­nuss brach­te ihr Blut noch mehr in Wal­lung als die bren­nen­de Hit­ze des Ta­ges; und dazu ver­wirr­te sie noch die­ses Tete-a-Tete auf dem Was­ser in ei­ner bei der Hit­ze ganz men­schen­lee­ren Ge­gend mit dem jun­gen Man­ne, den ihre Schön­heit ent­schie­den an­zog, der sie mit den Au­gen ver­schlang und des­sen Be­gehr­lich­keit so er­kenn­bar war, wie das Licht der Son­ne.

Der Um­stand, dass sie kei­ne Wor­te für ein Ge­spräch fand, ver­mehr­te noch ihre Ver­le­gen­heit, und ängst­lich ließ sie den Blick über­’s Ufer schwei­fen. Sch­liess­lich frag der jun­ge Mann, ob er ih­ren Na­men wis­sen dür­fe.

»Hen­ri­et­te« sag­te sie kurz.

»Schau­en Sie«, rief er »ich heis­se Hen­ri.«

Beim Klan­ge ih­rer Stim­men wur­den sie bei­de wie­der ru­hi­ger und sie fin­gen an, ihr Au­gen­merk auf den Fluss zu rich­ten. Der an­de­re Kahn hielt an und schi­en auf sie zu war­ten. Sein Füh­rer rief dem jun­gen Man­ne zu.

»Wir wol­len uns im Hol­ze wie­der tref­fen; wir hier fah­ren erst noch zu Ro­bin­son, weil Ma­da­me Durst hat.«

Er leg­te sich so­dann in die Rie­men und flog so schnell mit sei­nem Boot da­von, dass er bald ih­rem Ge­sichts­krei­se ent­schwun­den war.

Un­ter­des­sen ver­nah­men die zwei von fer­ne her ein un­be­stimm­tes dump­fes Don­nern, wel­ches jetzt nä­her und nä­her kam. Der Fluss selbst schi­en zu er­zit­tern, als ob das dump­fe Geräusch aus sei­ner Tie­fe em­por­stie­ge.

»Was hört man denn da nur im­mer?« frag­te sie. Es war der Fall des Weh­res, wel­ches an der Spit­ze der In­sel den Fluss durch­schnitt. Er be­gann eine lan­ge Be­schrei­bung die­ser An­la­ge, als plötz­lich durch das Brau­sen des Was­ser­fal­les der Ge­sang ei­nes Vo­gels noch ganz von wei­tem an ihr Ohr schlug. »Hor­chen Sie!« sag­te er: »Die Nach­ti­gal­len schla­gen bei Tage; das ist ein Zei­chen, dass die Weib­chen brü­ten.«

Eine Nach­ti­gall also! Noch nie­mals hat­te sie eine Nach­ti­gall ge­hört, und der Ge­dan­ke, ei­ner sol­chen zu lau­schen, er­weck­te in ih­rem Her­zen die Vor­stel­lung von al­ler­hand poe­ti­schen Lie­bes­ide­en. Eine Nach­ti­gall! Das heisst so viel, wie der un­sicht­ba­re Zeu­ge je­ner Lie­bes-Sze­nen, den einst Ju­li­et­te auf ih­rem Bal­kon an­rief; jene Mu­sik, mit der der Him­mel die Küs­se der Men­schen be­glei­tet; je­ner nie ver­sa­gen­de Quell all der schmach­ten­den Ro­man­zen, in de­nen für die ar­men klei­nen Her­zen lie­bes­dürs­ten­der Mäd­chen sich ein himm­li­sches Zau­ber­bild wi­der­spie­gelt.

Sie hör­te also wirk­lich eine Nach­ti­gall!

»Sei­en wir ganz still«; sag­te ihr Beglei­ter, »wir kön­nen beim Ge­hölz lan­den und uns ganz in ih­rer Nähe hin­set­zen.«

Das schlan­ke Boot glitt ge­räusch­los übers Was­ser. Auf der In­sel, de­ren Ufer so nied­rig wa­ren, dass man vom Kahn aus tief ins Ge­büsch hin­ein­schau­en konn­te, stie­gen jetzt vor den Au­gen der bei­den die ho­hen Bäu­me ma­je­stä­tisch em­por. Man mach­te Halt und leg­te das Boot fest; dann ging Hen­ri­et­te, auf Hen­ri’s Arm ge­stützt, mit die­sem tiefer in das Ge­zwei­ge der In­sel hin­ein. »Bücken sie sich« sag­te er, und Hen­ri­et­te bück­te sich. Sic dran­gen durch fast un­ent­wirr­ba­res Ge­wirr von Sch­ling­pflan­zen, Zwei­gen und Schilf­rohr in ein lau­schi­ges Plätz­chen, wel­ches nie­mand fin­den konn­te, der hier nicht ge­nau Be­scheid wuss­te. Der jun­ge Mann nann­te es la­chend sein »Ge­heim-Ka­bi­net.«

Gera­de über ih­nen, tief im Ge­zwei­ge ei­nes schat­ti­gen Bau­mes ver­bor­gen, sang der Vo­gel un­auf­hör­lich sein Lied­chen. Bald schmet­ter­te er sei­ne Tril­ler und Läu­fer, bald er­füll­te er die Luft mit tie­fen zit­tern­den Tö­nen, wel­che sich lang­sam in der Fer­ne zu ver­lie­ren schie­nen. Es war, als roll­ten sie dem Flus­se ent­lang und brei­te­ten sich jen­seits über das Ge­län­de aus, wel­ches im tie­fen Schwei­gen un­ter der bren­nen­den Son­nenglut dalag.

Sie hiel­ten sich bei­de ganz still, aus Furcht, das Tier­chen zu ver­trei­ben, wäh­rend sie dicht an­ein­an­der ge­schmiegt da­sas­sen. Lang­sam schob Hen­ri sei­nen Arm um die Tail­le des jun­gen Mäd­chens und such­te es mit ei­ner zärt­li­chen Be­we­gung an sich zu zie­hen. Ohne be­son­de­re Er­re­gung nahm sie ih­rer­seits die­se küh­ne Hand und schob sie im­mer wie­der zu­rück, so­bald sie sich nä­her­te. Im Üb­ri­gen mach­te sie die­se Zärt­lich­keit durch­aus nicht ver­le­gen; sie hielt sie für eben so na­tür­lich, wie sie die­sel­be auch na­tür­lich zu­rück­wies.

In tiefer Ver­zückung lausch­te sie dem Ge­sang des Vo­gels. Sie emp­fand eine dunkle Sehn­sucht nach un­be­kann­tem Glück, ihr In­ne­res wall­te in plötz­li­chem Lie­bes­seh­nen auf, ihre Ge­dan­ken ver­lo­ren sich in zau­be­ri­sche Fer­nen, ihre Ner­ven pri­ckel­ten, das Herz schlug stür­misch und zärt­lich zu­gleich; und schliess­lich be­gann sie zu wei­nen, ohne zu wis­sen, warum. Als sie der jun­ge Mann jetzt wie­der an sich zu zie­hen such­te, dach­te sie nicht dar­an, ihn ab­zu­weh­ren.

Plötz­lich schwieg die Nach­ti­gall. Von fern rief eine Stim­me »Hen­ri­et­te.«

»Ant­wor­ten Sie nicht,« flüs­ter­te er »sonst ver­scheu­chen Sie den Vo­gel.«

Es fiel ihr nicht ein, dem Rufe zu ant­wor­ten. So blie­ben sie eine Wei­le ganz still. Ma­da­me Du­four muss­te sich ir­gend­wo hin­ge­setzt ha­ben; von Zeit zu Zeit hör­te man dun­kel einen lei­sen Schrei, den die di­cke Frau ohne Zwei­fel in­fol­ge zu großer Zu­dring­lich­keit ih­res Beglei­ters aus­stiess.

Das jun­ge Mäd­chen wein­te im­mer noch in dem un­kla­ren Dran­ge ih­rer Ge­füh­le und von der na­tür­li­chen Sinn­lich­keit ge­kit­zelt, die die­ser Ort und ihre Lage er­we­cken muss­te. Hen­ri’s Haupt ruh­te auf ih­rer Schul­ter und plötz­lich küss­te er stür­misch ihre Lip­pen. Ei­nen Au­gen­blick fühl­te sie in­stinkt­mäs­sig den Drang der Ab­wehr und beug­te sich hin­ten­über; aber ihre Lage war nun noch un­güns­ti­ger. Hen­ri wuss­te sei­nen Vor­teil dar­aus zu zie­hen und press­te sei­ne Lip­pen, so sehr sie sich auch sträub­te, mit sanf­ter Ge­walt auf die ih­ri­gen. Eine wahn­sin­ni­ge Lie­bes­glut durch­drang ih­ren gan­zen Kör­per, sie zog Hen­ri stür­misch an sich, gab ihm sei­ne Küs­se dop­pelt zu­rück und ihr letz­ter Wi­der­stand ent­floh in ei­nem tie­fen lang­at­mi­gen Seuf­zer.


Rings­um war al­les still; der Vo­gel hob wie­der an zu sin­gen. Erst schmet­ter­te er drei Töne in die Luft, die wie ein Ju­bel­ton der Lie­be klan­gen, dann be­gann er nach ei­ner kur­z­en Pau­se mit schmel­zen­der Stim­me sei­ne zar­ten Me­lo­di­en.

Durch die Blät­ter ging das lei­se Flüs­tern ei­nes Wind­hau­ches und aus dem Ge­büsch dran­gen zwei tie­fe Seuf­zer, die sich mit dem Ge­sang der Nach­ti­gall und dem sanf­ten Rau­schen des Lau­bes ver­schmol­zen.

Der Vo­gel schi­en jetzt lie­bes­trun­ken zu wer­den; sein Ge­sang wur­de im­mer schwel­len­der wie eine zu­neh­men­de Feu­ers­brunst, und die Lei­den­schaft, die aus ihm her­aus­klang, fand ihr Echo in den stür­mi­schen Küs­sen, die im Ge­bü­sche un­ter ihm aus­ge­tauscht wur­den. Sch­liess­lich tob­te er or­dent­lich in den schmel­zends­ten Tö­nen sei­ner Keh­le; er schi­en von Lie­bes­ohn­macht, von me­lo­di­schen Krämp­fen be­fal­len.

Hin und wie­der ruh­te er et­was aus, in­dem er nur zwei oder drei lei­se Töne von sich gab, die mit ei­nem schril­len Laut ab­bra­chen. Oder er nahm auch einen tol­len An­lauf mit schmat­zen­den Tö­nen, mit ei­gen­tüm­li­chen Ka­den­zen, die wie ra­sen­der Lie­bes­ge­sang klan­gen, und de­nen dann plötz­lich ei­ni­ge lau­te Tri­um­ph­ru­fe folg­ten.

Nun aber schwieg er, denn er ver­nahm un­ter sich ein Seuf­zen, so tief und schmerz­lich, dass es wie das Ab­schied­neh­men ei­ner See­le klang; im­mer an­hal­ten­der stie­gen die­se Seuf­zer zu dem lau­schen­den Vo­gel em­por, bis sie sich schliess­lich in ein krampf­haf­tes Schluch­zen ver­wan­del­ten.

*

Sie wa­ren bei­de sehr bleich, als sie ihre grü­ne Ru­he­stät­te ver­lies­sen. Der blaue Him­mel schi­en ih­nen be­wölkt, das grel­le Licht der Son­ne ver­dun­kelt; sie emp­fan­den eine Art Grau­en bei der Stil­le und Ein­sam­keit, die rings­um herrsch­te. Flüch­ti­gen Schrit­tes eil­ten sie ne­ben­ein­an­der fort, ohne zu spre­chen, ohne sich an­ein­an­der zu schmie­gen; sie schie­nen viel­mehr un­ver­söhn­li­che Fein­de ge­wor­den zu sein. Es war, als ob bei ih­nen ein ge­gen­sei­ti­ger kör­per­li­cher Ekel und geis­ti­ger Wi­der­wil­le ent­stan­den wäre.

»Mama, Mama!« rief Hen­ri­et­te von Zeit zu Zeit. Un­ter ei­nem Ge­büsch ent­stand eine Be­we­gung; Hen­ri glaub­te einen wei­ßen Rock zu be­mer­ken, der has­tig über ein run­des Bein her­ab­ge­streift wur­de. Bald dar­auf zeig­te sich auf der an­de­ren Sei­te die di­cke Dame, noch et­was rot und ver­le­gen, wäh­rend ihre Au­gen glänz­ten und ihre Brust wog­te; sie hielt sich auf­fal­lend nah an ih­ren Beglei­ter. Die­ser schi­en wun­der­ba­re Din­ge er­lebt zu ha­ben, denn über sein Ant­litz zuck­te es fort­wäh­rend wie von müh­sam un­ter­drück­tem La­chen.

Ma­da­me Du­four hat­te mit zärt­li­cher Ge­bär­de sei­nen Arm ge­nom­men und so ging man zu den Boo­ten zu­rück; Hen­ri mit sei­ner jun­gen Ge­fähr­tin vor­aus, die stumm ne­ben ihm her­schritt. Wäh­rend des Ge­hens glaub­te Hen­ri plötz­lich hin­ter sich das Geräusch ei­nes schmat­zen­den Kus­ses zu ver­neh­men.

Man kam schliess­lich wie­der in Be­z­ons an, wo Herr Du­four, ziem­lich er­nüch­tert, sich be­reits zu lang­wei­len be­gann. Der jun­ge Mensch mit dem Flachs­haar nahm ge­ra­de noch einen Im­biss in der Wirt­schaft. Der Wa­gen stand be­reits an­ge­spannt im Hofe, und die Groß­mut­ter, die schon auf­ge­stie­gen war, äus­ser­te leb­haft ihre Furcht da­vor, bei der Un­si­cher­heit der Pa­ri­ser Um­ge­bung un­ter­wegs von der Dun­kel­heit über­rascht zu wer­den.

Man schüt­tel­te sich die Hän­de und die Fa­mi­lie Du­four fuhr ab.

»Auf Wie­der­sehn!« rie­fen die bei­den Boots­leu­te. Ein Seuf­zer und eine Trä­ne bil­de­ten die Ant­wort.

*

Zwei Mo­na­te spä­ter, als Hen­ri zu­fäl­lig durch die Rue des Mar­tyrs kam, las er über ei­ner Türe: »Du­four, Krä­mer.«

Er trat ein.

Die di­cke Dame sass hin­ter dem La­den­tisch. Sie er­kann­te ihn so­fort wie­der und Hen­ri be­müh­te sich, ihr al­ler­lei Lie­bens­wür­dig­kei­ten zu sa­gen.

»Und Fräu­lein Hen­ri­et­te, wie geht es ihr?« frag­te er dann.

»Dan­ke, sehr gut, sie ist ver­hei­ra­tet.«

»Ah! …«

»Und mit wem?« fuhr er fort, müh­sam sei­ne Be­we­gung un­ter­drückend.

»Nun, mit dem jun­gen Mann, wis­sen Sie, der uns da­mals be­glei­te­te; er über­nimmt spä­ter das Ge­schäft.«

»Ah, jetzt ver­ste­he ich.«

Als er fort­ging fühl­te er un­will­kür­lich eine ge­wis­se Trau­rig­keit. Ma­da­me Du­four rief ihn zu­rück.

»Wie geht es Ihrem Freun­de?« frag­te sie.

»Dan­ke, recht gut.«

»Grüs­sen Sie ihn von uns; aber nicht ver­ges­sen! Und er möch­te uns doch mal be­su­chen, wenn er vor­bei käme …«

»Es wür­de mich be­son­ders freu­en, sa­gen Sie ihm das« füg­te sie hin­zu.

»Wer­de nicht ver­feh­len. Adieu!« ent­geg­ne­te Hen­ri.

»Nein, nicht Adieu! Auf bal­di­ges Wie­der­se­hen!«

*

Ei­nes Sonn­ta­ges im nächs­ten Jah­re, als es wie­der ein­mal sehr heiss war, tra­ten Hen­ri alle die un­ver­ge­ss­li­chen Ein­zeln­hei­ten die­ses Aben­teu­ers plötz­lich wie­der so deut­lich und be­geh­rens­wert vor die See­le, dass er, wie von ei­ner dunklen Ah­nung ge­trie­ben, al­lein nach dem al­ten Ver­steck im Ge­hölz ru­der­te.

Er prall­te beim Ein­tritt er­staunt zu­rück. Sie war da, sie sass mit trau­ri­ger Mie­ne im Gra­se, wäh­rend ne­ben ihr nur in Hemds­är­meln ihr Gat­te, je­ner jun­ge Mann mit dem Flachs­haar, schlief und wie ein Maulesel schnarch­te.

Als sie Hen­ri er­blick­te, wur­de sie krei­de­bleich, so­dass er glaub­te, sie wür­de ohn­mäch­tig. Dann be­gan­nen sie ganz harm­los mit­ein­an­der zu plau­dern, als sei nie­mals et­was zwi­schen ih­nen bei­den vor­ge­fal­len.

Als er ihr aber er­zähl­te, wie lieb ihm die­ses Plätz­chen sei, und dass er Sonn­tags oft hier­her käme, um an süs­sen Erin­ne­run­gen zu zeh­ren, sah sie ihm lan­ge und tief in die Au­gen.

»Es ver­geht kei­ne Nacht, wo ich nicht dar­an den­ke« sag­te sie.

»Komm, Lie­be,« sag­te ihr Mann mun­ter wer­dend, »es ist Zeit, glau­be ich, nach Hau­se zu ge­hen.«

*

Guy de Maupassant – Gesammelte Werke

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