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III.

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Am nächs­ten Sonn­tag be­ga­ben sich die Baro­nin und Jo­han­na von ei­ner Art zar­ter Rück­sicht auf den Pfar­rer ge­trie­ben, zur Mes­se nach Etou­ve­nt.

Nach der Kir­che war­te­ten sie auf ihn, um ihn für den nächs­ten Don­ners­tag zum Früh­stück ein­zu­la­den. Er kam Arm in Arm mit ei­nem hoch­ge­wach­se­nen ele­gant ge­klei­de­ten jun­gen Mann, der ihn ver­trau­lich un­ter den Arm ge­nom­men hat­te, aus der Sa­kris­tei. So­bald er die bei­den Da­men be­merk­te, rief er mit dem Aus­druck freu­di­ger Über­ra­schung:

»Das trifft sich ja herr­lich! Ge­stat­ten die Da­men, Ih­nen un­sern Nach­bar, Herrn Vi­com­te de La­ma­re vor­zu­stel­len.«

Der Vi­com­te ver­beug­te sich höf­lich und ver­si­cher­te, dass es schon lan­ge sein Wunsch ge­we­sen sei, die Be­kannt­schaft der Da­men zu ma­chen. Hier­auf be­gann er in ge­schick­ter Wei­se die Un­ter­hal­tung und er­wies sich da­bei als ein Mann, der weiß, was sich ge­hört. Er hat­te je­nes an­ge­neh­me Äus­se­re, von dem die Frau­en so gern träu­men und dem nie­mand gram sein kann. Schwar­ze wohl­ge­pfleg­te Haa­re um­rahm­ten sei­ne ge­bräun­te glat­te Stirn; dich­te Au­gen­brau­en, so re­gel­mäs­sig, als sei­en sie ge­mei­selt, über­schat­te­ten sei­ne zärt­lich bli­cken­den, tief­lie­gen­den dunklen Au­gen, bei de­nen das Wei­ße einen leich­ten Schim­mer von Blau zeig­te.

Sei­ne bu­schi­gen lan­gen Wim­pern ver­lie­hen dem Blick jene lei­den­schaft­li­che Spra­che, die in der Ge­sell­schaft die äl­te­ren Da­men ver­wirrt und die Back­fi­sche, die noch im kur­z­en Klei­de sind, in die höchs­te Ex­ta­se ver­setzt.

Der spre­chen­de Aus­druck die­ses Blickes ließ auf tie­fe Ge­dan­ken schlies­sen und ver­lieh auch gleich­gül­ti­ge­ren Wor­ten in sei­nem Mun­de eine ge­wis­se Be­deu­tung.

Der üp­pi­ge glän­zen­de wei­che Schnurr­bart ver­barg eine et­was zu brei­te Lip­pe.

Man trenn­te sich nach vie­len höf­li­chen Re­dens­ar­ten.

Zwei Tage spä­ter mach­te Herr de La­ma­re sei­nen ers­ten Be­such.

Er kam ge­ra­de, als man eine Gar­ten­bank be­sich­tig­te, die am Mor­gen un­ter der großen Pla­ta­ne ge­gen­über den Fens­tern des Sa­lons auf­ge­stellt war. Der Baron mein­te, dass man eine ähn­li­che un­ter der Lin­de, der Gleich­heit we­gen, auf­stel­len müs­se; aber sei­ne Frau, der alle Sym­me­trie ver­hasst war, woll­te das nicht zu­ge­ben. Der Vi­com­te, um sei­ne An­sicht be­fragt, stell­te sich auf Sei­te der Baro­nin.


Hier­auf sprach er von der Um­ge­gend, die er sehr »pit­to­resk« nann­te; er habe bei sei­nen ein­sa­men Spa­zier­gän­gen schon ganz herr­li­che »Sze­ne­ri­en« ge­fun­den. Da­bei traf sein Blick hin und wie­der wie zu­fäl­lig Jo­han­nas Au­gen, und un­will­kür­lich fühl­te sich die­se je­des Mal selt­sam be­wegt. So kurz auch nur die­ser Blick war, so lag doch eine gan­ze Welt von Be­wun­de­rung und hell ent­fach­ter Zu­nei­gung in ihm.

Der im ver­gan­ge­nen Jah­re ver­stor­be­ne Va­ter des Herrn de La­ma­re hat­te zu­fäl­lig einen in­ti­men Freund des Herrn de Cul­taux ge­kannt, des­sen Toch­ter die Baro­nin war. Die Ent­de­ckung die­ser Tat­sa­che brach­te na­tür­lich das Ge­spräch auf eine Men­ge von Be­kannt­schaf­ten, Er­eig­nis­sen und end­lo­sen Ver­wandt­schafts-Ver­hält­nis­sen. Die Baro­nin mach­te ge­ra­de­zu Ge­walt-Mär­sche auf dem Ge­bie­te der Ge­nea­lo­gie; sie zähl­te den hal­b­en Adel Frank­reichs in auf- und ab­stei­gen­der Li­nie auf, ohne je­mals den Fa­den zu ver­lie­ren.

»Sa­gen Sie mir, Vi­com­te, ha­ben Sie ’mal von den Sau­noy de Var­fleur ge­hört? Der äl­tes­te Sohn Gon­tram hat­te ein Fräu­lein de Cour­sil, von den Cour­sil-Cour­ville, ge­hei­ra­tet, und der jün­ge­re eine Cou­si­ne von mir, ein Fräu­lein de la Ro­che-Au­bert, wel­che mit den Cri­san­ges ver­wandt war. Herr de Cri­san­ge war ein in­ti­mer Freund mei­nes Va­ters und muss auch den Ih­ri­gen gut ge­kannt ha­ben.«

»Ganz recht, mei­ne Gnä­digs­te! War das nicht der Herr de Cri­san­ge, der aus­ge­wan­dert ist und des­sen Sohn sich zu Grun­de rich­te­te.«

»Eben der. Er hat­te um die Hand mei­ner Tan­te nach dem Tode ih­res ers­ten Man­nes, des Gra­fen d’Ere­try, an­ge­hal­ten; aber sie woll­te ihn nicht neh­men, weil er schnupf­te. Bei der Ge­le­gen­heit fal­len mir die Vi­loi­ses ein; was mag aus ih­nen ge­wor­den sein? Sie ver­lies­sen die Tou­rai­ne um das Jahr 1813 in Fol­ge ei­nes Schick­sals­schla­ges. Sie woll­ten sich in der Au­ver­gne nie­der­las­sen; aber ich habe seit­dem nie wie­der von ih­nen ge­hört.«

»So viel ich weiß, starb der alte Mar­quis an den Fol­gen ei­nes Stur­zes mit dem Pfer­de. Von sei­nen bei­den Töch­tern hei­ra­te­te die eine einen Eng­län­der, die an­de­re einen ge­wis­sen Bas­so­le, einen Kauf­mann, des­sen Reich­tum sie, wie man sagt, be­sto­chen ha­ben soll.«

So leb­ten all­mäh­lich alle Na­men und Erin­ne­run­gen aus der Ju­gend­zeit im Lau­fe der Un­ter­hal­tung wie­der auf. Und die Hei­ra­ten die­ser Fa­mi­li­en ge­wan­nen in ih­ren Au­gen eine Be­deu­tung wie die wich­tigs­ten Er­eig­nis­se. Sie spra­chen von Leu­ten, die sie nie ge­se­hen hat­ten, als wä­ren es alte Be­kann­te ge­we­sen. Und die­se Leu­te drü­ben in an­de­ren Ge­gen­den spra­chen ge­wiss von ih­nen in der­sel­ben Wei­se. Man fühl­te sich aus der Fer­ne zu ein­an­der hin­ge­zo­gen, wie Freun­de und Ver­wand­te; und das al­les aus dem einen Grun­de, weil man dem­sel­ben Stan­de, der­sel­ben Ge­sell­schafts­klas­se an­ge­hör­te und das­sel­be Blut in sei­nen Adern fühl­te.

Der Baron, wel­cher sei­ner un­ge­bun­de­nen Na­tur und sei­ner gan­zen Er­zie­hung nach mit den An­schau­un­gen und Vor­ur­tei­len sei­ner Stan­des­ge­nos­sen we­nig har­mo­nier­te, kann­te die Fa­mi­li­en in der Um­ge­gend kaum dem Na­men nach und be­frag­te jetzt den Vi­com­te dar­über.

»O, es gibt we­nig Adel hier im Lan­de« ant­wor­te­te Herr de La­ma­re un­ge­fähr in dem­sel­ben Tone, wie er ge­sagt ha­ben wür­de, es gebe we­nig Ka­nin­chen an der Küs­te. Hier­auf be­gann er mit Ein­zel­hei­ten. Nur drei Fa­mi­li­en wohn­ten ziem­lich in der Nähe: der Mar­quis de Cou­te­lier, so­zu­sa­gen der Chef des Adels in der Nor­man­die; der Vi­com­te und die Vi­com­tes­se de Bri­se­ville, von aus­ge­zeich­ne­ter Ab­stam­mung, die sich aber so ziem­lich von Al­len zu­rück­zo­gen. End­lich sei noch der Graf Four­ville da, eine Art Blau­bart, des­sen Frau vor Gram über sein Le­ben ge­stor­ben sei. Er leb­te aus­sch­liess­lich der Jagd in der Um­ge­bung sei­nes Schlos­ses la Vi­let­te, wel­ches mit­ten in ei­nem großen Tei­che lie­ge. Ei­ni­ge Em­por­kömm­lin­ge, die aber kei­nen Zu­tritt zur Ge­sell­schaft fän­den, hät­ten hier und da sich an­ge­kauft. Der Vi­com­te kann­te sie auch nicht.

Nach ei­ni­ger Zeit ver­ab­schie­de­te sich der jun­ge Mann, nicht ohne einen letz­ten Blick auf Jo­han­na ge­wor­fen zu ha­ben, der wie ein be­son­ders zärt­li­ches sanf­tes Le­be­wohl aus­sah.

Die Baro­nin fand den Vi­com­te sehr nett und vor al­lem sehr »com­me il faut.« »Ja­wohl, ganz ge­wiss«, ant­wor­te­te ihr Gat­te, »es ist ein sehr wohl­er­zo­ge­ner jun­ger Mann.«

Man hat­te ihn für die nächs­te Wo­che zum Di­ner ein­ge­la­den. Von da an war er ein sehr häu­fi­ger Gast im Schlos­se.

Meis­tens kam er ge­gen vier Uhr Nach­mit­tags, such­te die Baro­nin in »ih­rer Al­lee« auf und bot ihr den Arm, um sie bei »ih­rer Übung« zu un­ter­stüt­zen. Wenn Jo­han­na ge­ra­de kei­nen Aus­flug mach­te, stütz­te sie die Baro­nin von der an­de­ren Sei­te und alle drei gin­gen nun lang­sa­men Schrit­tes in der ge­ra­den Al­lee hin und her. Er sprach fast nie­mals mit der jun­gen Dame. Aber sein dunk­ler ver­schlei­er­ter Blick traf häu­fig das achat­blaue Auge Jo­han­nas.

Mehr­mals gin­gen sie auch bei­de in Beglei­tung des Barons nach Yport.

Als sie ei­nes Abends am Ufer stan­den, trat Papa Las­ti­que auf sie zu, sei­ne Pfei­fe im Mun­de, de­ren Feh­len auf­fal­len­der ge­we­sen wäre, als das Feh­len sei­ner Net­ze.

»Bei die­sem Win­de, Herr Baron,« mein­te er, »müss­te man mor­gen ei­gent­lich nach Etre­tat fah­ren. Wir kämen be­quem hin und zu­rück.«

»Ach Papa!« sag­te Jo­han­na, die Hän­de fal­tend, »das wäre zu herr­lich.«

»Ma­chen Sie mit?« wand­te sich der Baron an den Vi­com­te. »Wir könn­ten da un­ten früh­stücken.«

Da die­ser zu­stimm­te, wur­de die Par­tie so­fort be­schlos­sen.

Mit dem Mor­gen­grau­en war Jo­han­na schon auf und war­te­te voll kind­li­cher Un­ge­duld auf ih­ren Va­ter, der et­was lang­sam im An­zie­hen war. Dann gin­gen sie durch den fri­schen Mor­gen­tau erst an dem großen Ra­sen­platz vor­bei, hier­auf durch das Holz, wel­ches vom Ge­sang der Vö­gel wi­der­hall­te. Der Vi­com­te und Papa Las­ti­que sas­sen auf ei­ner Schiffs­win­de.

Zwei an­de­re Schif­fer hal­fen bei der Ab­fahrt. Ihre Schul­tern ge­gen den Schiffs­rand stem­mend, scho­ben sie aus Lei­bes­kräf­ten; aber sie brach­ten den Kiel nur lang­sam von dem kie­si­gen Grun­de ab. Las­ti­que schob ei­ni­ge mit Fett be­schmier­te Rol­len un­ter den Kiel, dann nahm er sei­nen Platz wie­der ein und ließ mit ei­gen­tüm­li­cher Mo­du­la­ti­on sein un­auf­hör­li­ches »Ahoh hopp« er­klin­gen, mit dem er die Be­we­gun­gen sei­ner Ge­nos­sen lei­te­te.

Als aber dann der Bo­den schrä­ger wur­de, kam das Boot plötz­lich in eine ra­sche Be­we­gung und glitt über die Kie­sel mit ei­nem Tone, als wür­de ein Ge­we­be zer­ris­sen. Jetzt ruh­te es auf dem leicht ge­well­ten Was­ser und al­les nahm auf den Bän­ken Platz. Dann scho­ben die bei­den Schif­fer, die am Ufer ge­blie­ben wa­ren, es mit ei­nem mäch­ti­gen Sto­ss in die See.

Eine leich­te an­hal­ten­de Bri­se rief auf der Ober­flä­che des Was­sers klei­ne schau­mi­ge Wel­len her­vor. Das Se­gel wur­de ge­hisst, es bläh­te sich mehr und mehr, und von den Wel­len ge­wiegt, be­weg­te sich die Bar­ke lang­sam vor­wärts.

Man fuhr an­fangs wei­ter in See. In der Fer­ne ver­schwamm das Blau des Him­mels mit dem Ozean. Wenn man zum Lan­de her­über­schau­te, so be­merk­te man deut­lich den tie­fen Schat­ten, den die hohe Küs­te auf das Meer zu ih­ren Füs­sen warf, wäh­rend man durch die Ver­tie­fun­gen zwi­schen den ein­zel­nen Hü­geln hin­durch die dar­un­ter­lie­gen­den Ra­sen­flä­chen im vol­len Son­nen­lich­te sah. Drü­ben im Hin­ter­grun­de ho­ben sich brau­ne Se­gel von dem wei­ßen Fle­cken ab, den Fe­camp bil­de­te, und fern da un­ten rag­te ein Fel­sen em­por, der wie ein Ele­phant aus­sah, des­sen Rüs­sel ins Meer ge­taucht ist. Das war das so­ge­nann­te klei­ne Tor von Etre­tat.

Jo­han­na, der das Schau­keln der Wo­gen an­fangs et­was un­heim­lich war, hat­te mit der einen Hand den Schiffs­rand ge­fasst und blick­te in die Fer­ne; es schi­en ihr, als ob es nur drei wirk­lich schö­ne Din­ge in der Welt gäbe: die Son­ne, den Him­mels­dom und das Was­ser.

Nie­mand sprach ein Wort. Papa Las­ti­que, der das Steu­er­ru­der führ­te und das Se­gel­tau hielt, nahm hin und wie­der einen Schluck aus der Fla­sche, die er un­ter sei­nem Wams ge­bor­gen hat­te. Da­bei rauch­te er un­abläs­sig sei­ne nie ver­lö­schen­de Pfei­fe, aus der fort­wäh­rend eine leich­te blaue Dampf­wol­ke auf­stieg, wäh­rend eine zwei­te aus sei­nem rech­ten Mund­win­kel her­vor­drang. Man sah den Schif­fer nie­mals die Pfei­fe von Neu­em an­zün­den oder frisch stop­fen, die, aus weißem Ton ge­brannt, durch den lan­gen Ge­brauch schwarz wie Eben­holz ge­wor­den war. Nur hin und wie­der nahm er sie aus dem Mun­de, um aus dem­sel­ben Win­kel, wo sonst der Rauch her­vor­drang, den brau­nen Saft in ei­nem wei­ten Bo­gen ins Meer zu schleu­dern.

Der Baron, der vorn sass, ver­trat die Stel­le ei­nes Boots­ge­hil­fen und über­wach­te das Se­gel. Jo­han­na und der Vi­com­te sas­sen ne­ben­ein­an­der und wa­ren alle bei­de et­was ver­le­gen. Nur hin und wie­der tra­fen sich, wie von ma­gi­scher Ge­walt an­ge­zo­gen, ihre bei­der­sei­ti­gen Bli­cke; hat­te doch zwi­schen ih­nen sich schon im Stil­len jene flüch­ti­ge zar­te Zu­nei­gung ent­wi­ckelt, wel­che bei jun­gen Leu­ten so leicht ent­steht, wenn der männ­li­che Teil nicht häss­lich und der weib­li­che hübsch ist. Sie wa­ren glück­lich, bei ein­an­der zu sit­zen, viel­leicht weil eins an den and­ren dach­te.

Die Son­ne stieg im­mer hö­her, als woll­te sie von oben her das un­ter ihr aus­ge­brei­te­te wei­te Meer be­trach­ten. Wie in ei­ner Art von Ko­ket­te­rie hüll­te sie sich in einen leich­ten Ne­bel­schlei­er, an dem sich ihre Strah­len bra­chen. Es war ein durch­sich­ti­ger Schlei­er, sehr nied­rig, gol­dig, der nichts ver­barg, aber al­les in ei­nem sanf­te­ren Lich­te er­schei­nen ließ. All­mäh­lich nahm der Glanz des Him­mels­ge­stir­nes zu, der Ne­bel senk­te sich tiefer und als die Son­ne ih­ren Hö­he­punkt er­reicht hat­te, ver­schwand er gänz­lich. Das Meer, jetzt glatt wie ein Spie­gel, glit­zer­te in dem strah­len­den Lich­te.

»Wie präch­tig das ist!« mur­mel­te Jo­han­na tief­be­wegt.

»Ja, in der Tat, es ist herr­lich« sag­te der Vi­com­te. Die­ser schö­ne kla­re Som­mer­mor­gen spie­gel­te sich wie ein Bild des Glückes in ih­rem ei­ge­nen Her­zen wie­der.

Und plötz­lich sah man vor sich die großen Fel­sen­bo­gen von Etre­tat, wie zwei Füs­se, die von der Küs­te aus ins Meer ge­streckt sind, hoch ge­nug, um den Schif­fen den Durch­gang zu ge­stat­ten. Vor dem ers­ten der­sel­ben starr­te eine wei­ße scharf­kan­ti­ge Fel­sen­spit­ze gen Him­mel.

Nach­dem man ge­lan­det war, stieg der Baron zu­erst aus und hielt die Bar­ke mit­tels ei­nes Tau­es am Ufer fest. Der Vi­com­te trug hier­auf Jo­han­na auf sei­nen Ar­men ans Land, da­mit sie kei­ne nas­sen Füs­se be­käme. Bei­de stie­gen dann lang­sam den stei­len Strand hin­an, noch ganz un­ter dem Ein­druck des ei­gen­tüm­li­chen Ge­füh­les, wel­ches das Hin­über­tra­gen bei ih­nen her­vor­ge­ru­fen hat­te. Sie hör­ten noch, wie Papa Las­ti­que zum Baron sag­te: »Das gäbe ein präch­ti­ges Paar ab.«

Das Früh­stück in ei­nem klei­nen Wirts­haus am Stran­de mun­de­te vor­treff­lich. Bei dem ge­wal­ti­gen Ein­druck, den der Ozean auf alle ihre Sin­ne mach­te, hat­ten sie wäh­rend der Fahrt kei­ne Wor­te ge­fun­den; jetzt lös­te der gut­be­setz­te Tisch ihre Zun­ge und sie plau­der­ten wie Kin­der auf ei­ner Fe­ri­en­rei­se.

Selbst die harm­lo­ses­ten Din­ge er­weck­ten ihre Lus­tig­keit.

Papa Las­ti­que ver­barg sei­ne noch rau­chen­de Pfei­fe in sei­ner Schif­fer­müt­ze, wor­über man lach­te. Eine Flie­ge, zwei­felsoh­ne von sei­ner ro­ten Nase an­ge­zo­gen, kam im­mer wie­der, um sich dar­auf zu set­zen. Als er sie mit ei­ner Hand­be­we­gung ver­geb­lich zu ha­schen such­te, nahm sie in der Nähe auf ei­nem Vor­hang Platz, der deut­li­che Spu­ren von ihr und ih­ren Ge­fähr­tin­nen auf­zu­wei­sen hat­te. Von dort aus lau­er­te sie un­abläs­sig auf den leuch­ten­den Zin­ken des Fi­schers, wo sie sich stets aufs Neue nie­der­zu­las­sen streb­te.

Bei je­dem Ver­such des klei­nen In­sek­tes er­scholl ein dröh­nen­des Ge­läch­ter, und als der Alte schliess­lich, durch das ewi­ge Kit­zeln är­ger­lich ge­wor­den, vor sich hin­mur­mel­te: »Die ist ver­teu­felt hart­nä­ckig«, da hät­ten der Vi­com­te und Jo­han­na fast Trä­nen ge­lacht. Sie wan­den und krümm­ten sich or­dent­lich und hiel­ten die Ser­vi­et­te vor den Mund, um nicht laut auf­zu­schrei­en.

Nach dem Kaf­fee schlug Jo­han­na einen Spa­zier­gang vor. Der Vi­com­te sprang so­fort auf; der Baron hin­ge­gen zog es vor, in der Son­ne am Stran­de sein Schläf­chen zu ma­chen.

»Geht nur, Kin­der«, sag­te er, »in ei­ner Stun­de wol­len wir uns hier wie­der tref­fen.«

Sie gin­gen ge­ra­de­aus an den we­ni­gen Stroh­dä­chern des Or­tes vor­über. Nach­dem sie ein klei­nes Schloss, wel­ches schon mehr ei­nem großen Pacht­ho­fe ähn­lich sah, hin­ter sich ge­las­sen hat­ten, sa­hen sie plötz­lich ein of­fe­nes Tal vor sich lie­gen.

Die See­fahrt mit ih­ren aus­ser­ge­wöhn­li­chen Ein­drücken hat­te sie sprach­los ge­macht, und die leich­te salz­hal­ti­ge Luft war die Ur­sa­che ei­nes ge­sun­den Ap­pe­tits für sie ge­we­sen, den sie beim Früh­stück reich­lich still­ten, des­sen schmack­haf­te Zu­be­rei­tung ih­nen ihre vol­le Lus­tig­keit zu­rück­gab. Nach­dem sie sich gründ­lich aus­ge­lacht hat­ten, fühl­ten sie jetzt wie­der eine Art Er­schlaf­fung und das Be­dürf­nis, ziel- und zweck­los im Frei­en um­her­zu­schwei­fen. Jo­han­nas Pul­se klopf­ten un­ter dem Ein­dru­cke neu­er und schnell­wech­seln­der Ge­müts­s­tim­mun­gen un­will­kür­lich stür­mi­scher.

Die Son­ne brann­te heiss am Him­mel. Zu bei­den Sei­ten der Stras­se wog­ten die rei­fen Ge­trei­de­fel­der im Win­de. Heuschre­cken hüpf­ten mun­ter im Gra­se; über­all, im Korn, im Strauch­werk, in den Bin­sen am Stran­de ver­nahm man ihr kur­z­es schril­les Zir­pen.

Sonst war al­les still un­ter dem heis­sen Him­mels­zelt, des­sen Blau hin und wie­der ins gelb­lich-rote her­über­spiel­te, wie Stahl, den man zu lan­ge in die Glut ge­hal­ten hat.

Sie gin­gen zu ei­nem klei­nen Ge­hölz, wel­ches sie et­was wei­ter rechts be­merk­ten.

Zwi­schen zwei Tal­wän­den ein­ge­keilt, lag das­sel­be durch sei­ne ho­hen dich­ten Bäu­me völ­lig vor den heis­sen Son­nen­strah­len ge­schützt; nur ein schma­ler Weg führ­te hin­durch. Eine dump­fe Küh­le, wel­che un­will­kür­lich die Haut schau­dern mach­te, um­fing sie beim Ein­tre­ten. Da das Ta­ges­licht nur spär­lich durch­fiel, so war das Gras bei dem Man­gel an frei­er Luft ver­schwun­den; aber wei­ches Moos be­deck­te statt sei­ner den Bo­den.

»Se­hen Sie, dort drü­ben könn­ten wir uns et­was set­zen« sag­te Jo­han­na im Weiter­schrei­ten. Dort stan­den zwei alte ab­ge­stor­be­ne Bäu­me, und durch die so ge­bil­de­te Öff­nung des Laub­da­ches fiel der Ta­ges­schim­mer auf den Bo­den. Er hat­te das kei­men­de Gras neu be­lebt, Lö­wen­zahn und Schlüs­sel­blu­men her­vor­ge­zau­bert; auch die zar­ten klei­nen Ver­giss­mein­nicht und der Fin­ger­hut wa­ren dort zu fin­den. Schmet­ter­lin­ge gau­kel­ten um­her, Bie­nen und die di­cken kur­z­en Hum­meln summ­ten von Blu­me zu Blu­me, große Mücken, die wie Flie­gen-Ge­rip­pe aus­sa­hen, tanz­ten im Son­nen­licht; es wim­mel­te von In­sek­ten al­ler Art. Da sah man sol­che mit glän­zen­den bunt­ge­fleck­ten Flü­gel­de­cken, dann wie­der an­de­re mit grün­li­chem Schim­mer, tief­schwar­ze mit ei­nem klei­nen Horn ver­se­hen; und das al­les leb­te, wog­te, krab­bel­te und tanz­te auf die­sem lich­ten war­men Plätz­chen in­mit­ten des ei­si­gen Dun­kels, wel­ches sonst das dich­te Laub­dach her­vor­rief.

Sie setz­ten sich so, dass ihre Ge­sich­ter noch Schat­ten er­hiel­ten, wäh­rend sie die Füs­se in die war­men Son­nen­strah­len streck­ten. Mit In­ter­es­se be­trach­te­ten sie das klei­ne an­zie­hen­de Bild voll Le­ben und Le­bens­lust, das sich vor ih­ren Au­gen ab­spiel­te.

»Wie schön!« sag­te Jo­han­na. »Es ist doch gar zu herr­lich auf dem Lan­de. Ich möch­te zu­wei­len eine Flie­ge oder ein Schmet­ter­ling sein, um in die Kel­che der Blu­men zu tau­chen.«

Sie spra­chen dann von sich selbst, von ih­ren Ge­wohn­hei­ten und Nei­gun­gen, in je­nem lei­sen ver­trau­li­chen Ton, in dem man sich sol­che Mit­tei­lun­gen macht. Er be­haup­te­te, das Le­ben in der großen Welt, de­ren läp­pi­sches Trei­ben ihn an­wi­de­re, schon müde zu sein. Es sei im­mer die­sel­be Ge­schich­te, nir­gends fän­de man Wahr­heit, nir­gends Auf­rich­tig­keit.

Die Welt! Sie hät­te die­sel­be frei­lich schon gern mal ken­nen ge­lernt; aber sie war von vorn­her­ein über­zeugt, dass sie ihr das Land­le­ben nicht er­set­zen kön­ne.

Und mehr und mehr schlu­gen ihre Her­zen zu­sam­men; im­mer fei­er­li­cher klang ih­nen das »mein Herr« und »mein Fräu­lein«, mit dem sie sich an­re­de­ten, und im­mer öf­ter ver­senk­ten sich ihre lä­cheln­den Bli­cke in­ein­an­der. Es schi­en ih­nen bei­den, als ob sich ein grös­se­res ge­gen­sei­ti­ges Wohl­wol­len zwi­schen ih­nen ent­wi­cke­le, eine in­ni­ge­re Zu­nei­gung, ein ge­mein­schaft­li­ches In­ter­es­se an tau­send Din­gen, wie sie es bis­her nie­mals emp­fun­den hat­ten.

Als sie zu­rück­ka­men, war der Baron zu Fuss nach der Da­men-Kam­mer, ei­ner Fel­sengrot­te an der Küs­te, ge­gan­gen. Sie war­te­ten also beim Wirts­hau­se auf ihn.

Erst ge­gen fünf Uhr abends, nach ei­nem lan­gen Spa­zier­gang an der Küs­te, kehr­te er zu­rück.

Man be­stieg wie­der die Bar­ke. Ganz sanft, den Wind im Rücken, ohne je­den Sto­ss und je­des Schau­keln glitt sie vor­wärts; man be­merk­te kaum, dass sie sich be­weg­te. Nur mit Ab­sät­zen bläh­te ein leich­ter sanf­ter Wind­hauch die Se­gel, um sie gleich dar­auf wie­der schlaff am Mas­te her­un­ter­hän­gen zu las­sen. Das Was­ser war wie ab­ge­stor­ben, wäh­rend die Son­ne nach Vollen­dung ih­rer Bahn lang­sam ins Meer un­ter­zut­au­chen schi­en.

Wie­de­r­um herrsch­te all­ge­mei­nes Schwei­gen un­ter dem über­wäl­ti­gen­den Ein­dru­cke die­ser abend­li­chen Mee­res­s­til­le.

»Ich wür­de sehr gern ’mal auf Rei­sen ge­hen«, sag­te end­lich Jo­han­na.

»Ja­wohl«, mein­te der Vi­com­te, »die­ser Wunsch ist nur zu sehr be­rech­tigt. Aber ich fin­de es zu trau­rig, al­lein zu rei­sen. Man muss we­nigs­tens zu zwei­en sein, um sich ge­gen­sei­tig sei­ne Ein­drücke mit­tei­len zu kön­nen.«

»Das stimmt …« sag­te sie nach ei­ni­gem Nach­den­ken, »ich lie­be es zwar auch, al­lein spa­zie­ren zu ge­hen, in­des­sen …; man ist aber bes­ser al­lein, wenn man träu­men will …«

»Man kann auch zu zwei­en träu­men«, sag­te er, je­des Wort be­to­nend und sie da­bei lan­ge an­se­hend.

Sie schlug die Au­gen nie­der. Soll­te das eine An­spie­lung sein? Sie be­trach­te­te den Ho­ri­zont, als weil­ten ihre Ge­dan­ken in der Fer­ne.

»Ich möch­te nach Ita­li­en rei­sen …« be­gann sie wie­der lang­sam. »Und nach Grie­chen­land … ach ja! nach Grie­chen­land! … und nach Kor­si­ka! das muss so wildro­man­tisch sein.«

Er hät­te der Al­pen und Seen we­gen die Schweiz vor­ge­zo­gen.

»Nein«, sag­te sie, »ich möch­te ent­we­der nach ganz un­be­kann­ten Ge­gen­den wie Kor­si­ka oder nach ganz al­ten Län­dern, wie Grie­chen­land, wo je­der Fleck Erde sei­ne Ge­schich­te hat. Es muss so hübsch sein, die Spu­ren der Völ­ker zu ver­fol­gen, von de­nen wir schon in der Ju­gend ge­le­sen ha­ben und die Orte zu se­hen, wo sich die großen Er­eig­nis­se ab­ge­spielt ha­ben.«

»Was mich be­trifft«, ent­geg­ne­te der et­was we­ni­ger schwär­me­ri­sche Vi­com­te, »so zieht mich Eng­land aus­ser­or­dent­lich an. Dort kann man vie­les ler­nen.«

So durch­wan­der­ten sie ge­mein­sam den Erd­kreis, in­dem sie die ein­zel­nen Län­der und ihre Vor­zü­ge leb­haft er­ör­ter­ten und selbst die we­ni­ger be­kann­ten Völ­ker, wie die Chi­ne­sen und Lapp­län­der mit ih­ren zum Teil noch un­er­forsch­ten Sit­ten und Ge­bräu­chen da­bei nicht über­gin­gen. Sch­liess­lich aber ei­nig­ten sie sich in der An­sicht, dass Frank­reich mit sei­nem ge­mäs­sig­ten, im Som­mer nicht zu heis­sen, im Win­ter nicht zu rau­en Kli­ma, mit sei­nen üp­pi­gen Trif­ten und grü­nen Wäl­dern, sei­nen herr­li­chen Strö­men, mit sei­nem Kunst­sinn, der kaum von der Blü­te­zeit Athens über­trof­fen wäre, das präch­tigs­te Land der Welt sei.

Hier­auf schwie­gen sie auch wie­der.

Die Son­ne, schon halb im Mee­re ver­sun­ken, sand­te über die stil­le Was­ser­flä­che ihre letz­ten Strah­len, wel­che bis zum Schif­fe einen glän­zen­den Strei­fen auf der­sel­ben bil­de­ten.

Die letz­ten Wind­stös­se hat­ten auf­ge­hört. Kei­ne Fur­che war auf dem Was­ser mehr zu se­hen; das schlaf­fe Se­gel schim­mer­te in ro­si­gem Lich­te. Eine un­be­grenz­te Ruhe schi­en den wei­ten Him­mels­raum zu um­fas­sen. Wie eine keu­sche Braut schi­en das ge­wal­ti­ge Meer sei­nen feu­ri­gen Lieb­ha­ber zu er­war­ten, der, wie von dem Ver­lan­gen nach sei­ner Umar­mung, mit Pur­pur­glut über­gos­sen sich zu ihm nie­der­neig­te, um end­lich ganz in dem­sel­ben zu ver­schwin­den.

Dann be­gann all­mäh­lich eine er­qui­cken­de Küh­le ein­zu­tre­ten. Ein Schau­er wölb­te den Bu­sen des Was­sers, als wenn das un­ter­ge­gan­ge­ne Ta­ges­ge­stirn einen Seuf­zer stil­len Frie­dens über die Welt aus­ge­stos­sen hät­te.

Die Däm­me­rung währ­te nicht lan­ge. Die Nacht mit ih­rem fun­keln­den Ster­nen­heer brach an. Papa Las­ti­que griff zu den Ru­dern und man be­merk­te beim Ein­schla­gen der­sel­ben, dass das Meer phos­pho­ris­zier­te. Jo­han­na und der Vi­com­te be­trach­te­ten mit­ein­an­der die tan­zen­den Licht­strei­fen, wel­che die Bar­ke hin­ter sich ließ.

Sie wa­ren aus ih­ren Träu­me­rei­en wie­der auf­ge­wacht und at­me­ten mit Be­ha­gen die fri­sche er­qui­cken­de Abend­luft ein. Jo­han­na hat­te die eine Hand auf die Bank ge­stützt, und wie zu­fäl­lig be­rühr­te sie da­bei die Fin­ger des Vi­com­te. Aber sie zog die Hand nicht zu­rück; die leich­te Berüh­rung flöss­te ihr ein ei­gen­tüm­li­ches won­ni­ges Ge­fühl ein.

Als sie an die­sem Abend ihr Zim­mer be­trat, fühl­te sie sich selt­sam be­wegt; sie hät­te am liebs­ten wei­nen mö­gen. Sie be­trach­te­te die Uhr auf dem Ka­min und dach­te, dass die Be­we­gung der klei­nen Bie­ne dem Schla­ge des Her­zens gli­che, ei­nes Her­zens, das ihr nahe stand. Sie dach­te, dass sie die Zeu­gin sei­nes gan­zen Le­bens sein wür­de, dass sie die Freu­den und Lei­den die­ses leb­haf­ten und doch so re­gel­mäs­si­gen Tik-Tak’s tei­len wür­de. Und plötz­lich hielt sie die ver­gol­de­te Bie­ne an, um einen Kuss dar­auf zu drücken. Sie hät­te am liebs­ten die gan­ze Welt ge­küsst. Es fiel ihr ein, dass sie un­ten in ei­ner Schieb­la­de eine ih­rer al­ten Pup­pen ver­wahrt hat­te. Sie hol­te sie her­vor mit ei­ner Freu­de, als trä­fe sie eine lie­be alte Be­kann­te wie­der; und in­dem sie das teu­re Spiel­zeug zärt­lich an ihre Brust drück­te, be­deck­te sie die rot­ge­färb­ten Lip­pen des­sel­ben mit zahl­rei­chen heis­sen Küs­sen.


Traum­ver­lo­ren hielt sie es lan­ge so in ih­ren Ar­men.

War das wirk­lich »Er«, den ihr tau­send­fach eine in­ne­re Stim­me ver­spro­chen, den ihr eine gü­ti­ge Vor­se­hung so in den Weg ge­führt hat­te? War er wirk­lich das für sie be­stimm­te We­sen, dem sie ihr gan­zes Da­sein op­fern wür­de? Wa­ren sie bei­de dazu be­stimmt, sich in in­ni­ger Zärt­lich­keit zu ver­ei­nen, für im­mer zu ver­bin­den, die »Lie­be« zu kos­ten?

Sie emp­fand noch nicht jene stür­mi­schen Re­gun­gen der See­le, jene tie­fen Ge­füh­le, un­ter wel­chen sie sich die Lei­den­schaft vor­stell­te; es schi­en ihr aber, als be­gin­ne sie doch, ihn zu lie­ben. Denn so­bald sie an ihn dach­te, schlug ihr Herz hö­her; und sie dach­te un­auf­hör­lich an ihn. Sei­ne Ge­gen­wart ließ ihre Pul­se hef­ti­ger klop­fen, sie wur­de ab­wech­selnd bleich und rot, wenn sie sei­nem Blick be­geg­ne­te; und sie zuck­te zu­sam­men, wenn sie sei­ne Stim­me hör­te.

In die­ser Nacht schlief sie we­nig.

Von da an nahm das un­ru­hi­ge Lie­bes­seh­nen sie im­mer mehr ge­fan­gen. Sie er­forsch­te un­auf­hör­lich sich selbst, be­frag­te die Mar­ghe­ri­ten, die Wol­ken und warf Geld­stücke in die Luft, um aus ih­rem Fall sich die Ant­wort zu ho­len.

»Mach’ Dich hübsch, Kind, mor­gen Vor­mit­tag«, sag­te dann ei­nes Abends der Baron zu ihr.

»Wa­rum denn, Papa?« frag­te sie neu­gie­rig.

»Das ist ein Ge­heim­nis«, ant­wor­te­te er.

Und als sie am an­de­ren Mor­gen her­un­ter­kam wie eine frisch er­blüh­te Rose in ih­rer lich­ten Toi­let­te, fand sie den Tisch im Sa­lon mit Bon­bo­nie­ren be­deckt und auf dem einen Ses­sel ein mäch­ti­ges Bou­quet.

Im Hof fuhr ein Wa­gen vor, auf dem man die In­schrift las: »Le­rat, Ku­chen­bä­cker in Fe­camp. Hoch­zeits­di­ners.« Lu­di­vi­ne, wel­che in Beglei­tung ei­nes Kü­chen­jun­gen her­bei­ge­eilt kam, hol­te aus dem In­nern des­sel­ben ver­schie­de­ne ver­deck­te Schüs­seln her­aus, die sehr gut ro­chen.

Jetzt er­schi­en der Vi­com­te de La­ma­re. Sei­ne Bein­klei­der spann­ten sich über zier­li­chen Lackstie­fe­let­ten, wel­che die Klein­heit sei­ner Füs­se noch mehr her­vor­tre­ten lies­sen. Aus der Bru­st­öff­nung sei­nes eng­an­sch­lies­sen­den Über­rockes tra­ten die Spit­zen sei­nes Fal­ten­hem­des her­vor, wäh­rend eine ele­gan­te Hals­bin­de, drei­fach ge­schlun­gen, ihn zwang, den Kopf hö­her als ge­wöhn­lich zu tra­gen, was sei­nem ge­bräun­ten Ant­litz einen ge­wich­ti­gen Ein­druck ver­lieh. Er hat­te eine an­de­re Mie­ne wie sonst, je­nen be­son­de­ren Aus­druck, den eine ge­wähl­te Toi­let­te auch dem be­kann­tes­ten Ge­sicht gibt. Jo­han­na war er­staunt und be­trach­te­te ihn wie einen völ­lig Frem­den. Sie fand üb­ri­gens, dass er das Mus­ter­bild ei­nes Edel­man­nes, ei­nes großen Herrn, vom Schei­tel bis zur Zehe war.

»Nun, Ge­vat­te­rin, sind Sie be­reit?« sag­te er, sich lä­chelnd ver­beu­gend.

»Aber zu was denn?« stam­mel­te sie. »Was gibt es denn?«

»Du wirst es gleich er­fah­ren« sag­te der Baron.

Der Wa­gen fuhr vor und Ma­da­me Ade­laï­de in großer Toi­let­te stieg die Trep­pe her­un­ter, ge­stützt von Ro­sa­lie. Letz­te­re war so über­rascht von der Ele­ganz des Vi­com­te, dass die Baro­nin ihm zu­flüs­ter­te:

»Hö­ren Sie, Vi­com­te, ich glau­be, un­ser Kam­mer­mäd­chen ist ent­zückt von Ih­nen.«

Er wur­de rot bis über die Ohren; aber er tat, als habe er nichts ge­hört. Er be­mäch­tig­te sich des großen Bou­quets und über­reich­te es Jo­han­na, wel­che es er­staun­ter noch als vor­her an­nahm. Alle vier be­stie­gen jetzt den Wa­gen. Die Kö­chin Lu­di­vi­ne, wel­che der Baro­nin eine Tas­se Fleisch­brü­he zur Stär­kung brach­te, konn­te sich nicht ent­hal­ten zu sa­gen:

»Aber, gnä­di­ge Frau, das ist ja wie eine Hoch­zeit.«

In Yport stieg man aus, und so­bald sie das Dorf be­tra­ten, tra­ten die Fi­scher in ih­ren bes­ten An­zü­gen aus den Tü­ren, grüss­ten, drück­ten dem Baron die Hand und folg­ten pro­zes­si­ons­wei­se dem Zuge, den der Vi­com­te, mit Jo­han­na am Arm, an­führ­te.

Vor der Kir­che wur­de Halt ge­macht. Ein Chor­kna­be mit dem hoch­ge­hal­te­nen sil­ber­nen Kreuz trat her­aus, dem ein an­de­rer im ro­ten Chor­rock und weißem Ro­chet­te folg­te. Letz­te­rer trug den Weih­was­ser­kes­sel mit dem We­del dar­in.


Dann ka­men drei alte Chor­sän­ger, von de­nen ei­ner hin­k­te, dann der Or­ga­nist, end­lich der Pfar­rer, die gold­ge­stick­te Sto­la über der Brust ge­kreuzt. Er wünsch­te lä­chelnd durch ein Nei­gen des Haup­tes »Gu­ten Mor­gen.« Dann folg­te er mit halb­ge­schlos­se­nen Au­gen, ein Ge­bet auf den Lip­pen, das Ba­rett in die Stirn ge­drückt, sei­nem Sta­be, der sich nach dem Mee­re hin be­weg­te.

Am Stran­de um­stand eine dicht­ge­dräng­te Men­ge eine neue blu­men­ge­schmück­te Bar­ke. Ihr Mast, die Se­gel, das Tau­werk, wa­ren mit lan­gen Bän­dern ge­schmückt, die im Win­de flat­ter­ten. Am Steu­er­bord er­glänz­te in gol­di­gen Buch­sta­ben der Name »Jo­han­na.«

Papa Las­ti­que, der Pa­tron die­ses mit dem Gel­de des Barons er­bau­ten Schif­fes trat aus der Men­ge vor. Alle Men­schen ent­blöss­ten beim An­blick des Kreu­zes mit der­sel­ben Hand­be­we­gung gleich­zei­tig ihre Häup­ter und knie­ten in ei­ner drei­fa­chen Rei­he nie­der. Es war ein selt­sa­mer An­blick: Alle die­se An­däch­ti­gen, ein­gehüllt in die gleich­ar­ti­gen, wei­ten schwar­zen Schul­ter­män­tel.

Der Pfar­rer mit den bei­den Chor­kna­ben be­gab sich in das eine Ende des klei­nen Fahr­zeu­ges, wäh­rend an dem an­de­ren sich die drei al­ten Chor­sän­ger auf­stell­ten. Ihre wei­ßen Chor­hem­den wa­ren nicht mehr ganz sau­ber, das Kinn un­ra­siert; aber sie schau­ten mit ih­rer wich­tigs­ten Mie­ne in das Ge­sang­buch und de­to­nier­ten in Fol­ge der kla­ren Mor­gen­luft recht be­denk­lich.

Je­des Mal, wenn sie Atem schöpf­ten, setz­te der Küs­ter al­lein sei­nen Ge­sang fort, und sei­ne klei­nen grau­en Au­gen ver­schwan­den fast hin­ter den dick auf­ge­bla­se­nen Ba­cken. Sei­ne Stirn und sein Na­cken wa­ren von der An­stren­gung so rot ge­wor­den, dass man hät­te mei­nen kön­nen, die Haut wäre ihm dort ab­ge­zo­gen.

Das Meer selbst in sei­ner kla­ren un­be­weg­li­chen Ruhe schi­en an der Tau­fe sei­nes Fahr­zeu­ges Teil zu neh­men. Kaum eine leich­te Re­gung des Was­sers war zu be­mer­ken, lei­se nur knirsch­te der Kies des Ge­sta­des un­ter den Wel­len, die nicht ’mal eine Hand­breit hoch wa­ren. Und die großen wei­ßen Mö­ven zo­gen mit aus­ge­brei­te­ten Schwin­gen ihre Krei­se am blau­en Him­mel; bald schos­sen sie pfeil­schnell da­von, bald ka­men sie lang­sam durch die Luft ge­se­gelt auf die Men­ge der An­däch­ti­gen zu, als woll­ten sie schau­en, was es da ei­gent­lich gäbe.

Jetzt schloss der Ge­sang mit ei­nem mi­nu­ten­lan­gen Amen und der Pries­ter sprach mit tiefer Stim­me ein la­tei­ni­sches Ge­bet, von dem man im All­ge­mei­nen nur die schär­fer be­ton­ten End­sil­ben ver­stand.

Als­dann mach­te er einen Gang über die gan­ze Bar­ke und be­spreng­te sie mit Weih­was­ser; hier­auf sprach er das Pa­ter no­s­ter, wo­bei er an der Lang­sei­te des Schiff­chens den Tauf­pa­ten ge­ra­de ge­gen­über stand. Die­se blie­ben un­be­weg­lich Hand in Hand.

Der jun­ge Mann we­nigs­tens be­hielt ganz sei­ne erns­te wür­de­vol­le Mie­ne bei; aber die jun­ge Dame wur­de schliess­lich doch von ei­ner plötz­li­chen in­ne­ren Re­gung er­fasst und fühl­te sich so er­schüt­tert, dass ihr die Zäh­ne klap­per­ten. Der Traum, der sie schon so lan­ge ver­folg­te, nahm plötz­lich eine fes­te Ge­stalt an; we­nigs­tens glaub­te sie sei­ne Er­fül­lung vor sich zu se­hen. Man hat­te von ei­ner Hoch­zeit ge­spro­chen und ein Pries­ter war da, um zu seg­nen; from­me Lie­der und Ge­be­te tön­ten zum Him­mel. War das nicht in der Tat, als wenn es ihre Hoch­zeit wäre?

War das ner­vö­se Zu­cken ih­rer Hand, der er­reg­te Schlag ih­res Her­zens durch ihre Adern zum Her­zen ih­res Nach­barn ge­drun­gen? Ver­stand er sie, er­riet er ihre Ge­dan­ken; wur­de er wie sie von ei­nem Ge­fühl zärt­lichs­ter Lie­be be­seelt? Oder wuss­te er nur aus Er­fah­rung, dass kein weib­li­ches We­sen ihm zu wi­der­ste­hen ver­moch­te? Sie fühl­te plötz­lich, wie er ihre Hand drück­te, an­fangs ganz sanft, dann im­mer stär­ker, so­dass sie fast hät­te auf­schrei­en mö­gen. Und ohne im Min­des­ten sei­nen erns­ten Ge­sichts­aus­druck zu ver­än­dern, so­dass nie­mand es be­merk­te, sag­te er zu ihr, ja, er sag­te es ganz deut­lich:

»Ach, Jo­han­na, wenn Sie woll­ten, könn­te das un­se­re Ver­lo­bungs­fei­er wer­den!«

Sie neig­te ganz lang­sam das Haupt, so­dass es wie ein lei­ses »Ja« gel­ten konn­te; und in die­sem Au­gen­bli­cke fie­len ei­ni­ge Trop­fen des Weih­was­sers, wo­mit der Pries­ter sie be­spreng­te, auf ihre zu­sam­men­ge­press­ten Hän­de.

Die Ze­re­mo­nie war be­en­digt. Die Frau­en er­ho­ben sich von den Kni­en. Der Rück­weg wur­de in Un­ord­nung an­ge­tre­ten. Der Chor­kna­be trug das sil­ber­ne Kreuz nicht mehr fei­er­lich; das­sel­be schwank­te in sei­nen Hän­den bald nach rechts und links, bald neig­te es sich vorn­über, so­dass man fürch­ten muss­te, es fie­le hin. Der Pfar­rer eil­te jetzt ohne Ge­bet hin­ter dem Kna­ben drein; die Chor­sän­ger ver­schwan­den in ei­ner Sei­ten­gas­se, um sich schnel­ler aus­zie­hen zu kön­nen, und auch die Fi­scher stürm­ten grup­pen­wei­se da­von. Sie emp­fan­den schon im Voraus et­was wie einen gu­ten Kü­chen­duft, der ih­nen von der Nase bis zum Ma­gen drang, so­dass ih­nen das Was­ser im Mun­de zu­sam­men­lief und ein leich­tes kol­lern­des Geräusch in ih­rem In­nern er­tön­te.

In Peup­les er­war­te­te sie näm­lich ein gu­tes Früh­stück.

Auf dem Hofe un­ter den Obst­bäu­men war eine große Ta­fel ge­deckt, an der sech­zig Per­so­nen, Fi­scher und Land­leu­te, Platz nah­men. Die Baro­nin, wel­che in der Mit­te sass, hat­te die bei­den Pfar­rer von Yport und Etou­ve­nt rechts und links ne­ben sich. Der Baron sass ihr ge­gen­über zwi­schen dem Maire und des­sen Gat­tin. Es war dies eine ma­ge­re, be­reits et­was be­jahr­te Frau von länd­li­chen Sit­ten, die nach al­len Sei­ten leb­haft grüss­te. Ihr schma­les run­ze­li­ges Ge­sicht war ganz in ih­rer großen nor­män­ni­schen Müt­ze ver­steckt; ein rich­ti­ges Hüh­ner­ge­sicht mit ei­nem wei­ßen Kamm dar­über, un­ter dem ein run­des Auge stets ver­wun­dert und neu­gie­rig in die Welt schau­te. Sie ass mit klei­nen has­ti­gen Schlu­cken, als hät­te sie mit ih­rer Nase auf dem Tel­ler ge­pickt.

Jo­han­na schwelg­te an der Sei­te des Vi­com­te im vol­len Glücke. Sie sah und hör­te nichts; schwei­gend gab sie sich ih­ren se­li­gen Ge­dan­ken hin.

»Wie ist doch Ihr Vor­na­me?« frag­te sie end­lich den Vi­com­te.

»Ju­li­us«, sag­te er, »das wuss­ten Sie nicht?«

Aber sie gab kei­ne Ant­wort. »Wie oft wer­de ich mir die­sen Na­men im Stil­len wie­der­ho­len« war das ein­zi­ge, was sie dach­te.

Als das Mahl be­en­det war, über­liess man den Hof den Fi­schern und Land­leu­ten; die Üb­ri­gen be­ga­ben sich an die an­de­re Sei­te des Schlos­ses. Die Baro­nin schick­te sich, auf den Gat­ten ge­stützt und von den bei­den Geist­li­chen be­glei­tet, zu »ih­rer Übung« an, wäh­rend Jo­han­na und Ju­li­us zu dem Bos­quet gin­gen. Kaum hat­ten sie die ver­schlun­ge­nen Pfa­de des­sel­ben be­tre­ten, als der Vi­com­te ihre Hand er­griff und zu ihr sag­te:

»Jo­han­na, wol­len Sie mei­ne Gat­tin wer­den?« An­fangs senk­te sie das Köpf­chen; als aber der Vi­com­te sie noch­mals frag­te: »Ant­wor­ten Sie mir, ich bit­te Sie«, da hob sie sanft die Au­gen zu ihm auf und er konn­te die Ant­wort in ih­rem Bli­cke le­sen.

*

Guy de Maupassant – Gesammelte Werke

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