Читать книгу Seine Frau - Hanne-Vibeke Holst - Страница 23
ОглавлениеEs ist seine verdammte Schüchternheit, die ihn zögern lässt. Als er sich endlich zusammenreißt, um ihren Namen zu rufen, ist sie in einem Schneeschleier verschwunden. Dafür weiß er jetzt, wo er sie mit langen, wiegenden Schritten Richtung Kapelle gehen sieht, endgültig, dass es wirklich Linda war, die er vorhin im Urnenhain gesehen hat. Seine Linda von damals. Linda Lykke, die Glückliche, an die er jedes Mal denkt, wenn er die Grabstätte ihrer Familie in Ordnung bringt und sie nahezu aus den Gräbern zu ihm herauszuspringen scheinen. Lebendig. Sonny und Max. Sonny auf seinem Motorrad, mit dem Stahlkamm, der aus der Tasche seiner Lederjacken guckt, und Max, warum auch immer, mit einem Würfelbecher in der Hand unten im Las Vegas sitzend. Eigentlich ungerecht, dass gerade dieses Bild hängen geblieben ist. Denn so oft ist er nicht ins Wirtshaus gegangen, der alte Max, und so viel gewürfelt hat er auch nicht. Aber er muss in diesem Moment etwas Lustiges gesagt haben, da er ihm so in Erinnerung geblieben ist. Vielleicht war es aber auch Linda, die die Zeit hat stillstehen lassen. Vielleicht hat sie gerade eine ihrer gescheiten Bemerkungen von sich gegeben. Vielleicht hat sie genau in diesem Augenblick fest seinen Oberschenkel gedrückt oder die Beule in seiner Hose mit ihren langen, schnellen Fingern unter dem Tisch gestreift, die überall und nirgends zugleich sein konnten.
Bjarne war verrückt nach Linda, wer war das nicht. Der ganze Südhafen konkurrierte darum, Linda ins Enghave-Kino einzuladen, bei der Tombola auf dem Mozarts Plads Rosetten für sie zu schießen, sie auf getunten Mopeds zur Bavnehøj-Schule zu bringen oder abzuholen und ihr in der Engelbert-Petersen-Konditorei Kuchen zu kaufen. Die Frühreifsten luden sie sogar in den Vergnügungspark Bakken ein oder – was auch vorkam – ins feine Tivoli. Doch der Unterschied zwischen Bjarne und den anderen Jünglingen war der, dass er sie geliebt hat. Alles an ihr hat er geliebt. Ihr lautes Lachen, ihr schiefes Lächeln und ihre Tollkühnheit. Er hat sie geliebt, weil sie ein kluger Kopf war. Weil sie dem Teufel ein Ohr abquatschen und wiederum ganz still sein konnte. Weil sie ihn, Bjarne, verstand, obwohl er sich nicht richtig ausdrücken konnte. Jedenfalls nicht mit Worten. Er hat sie geliebt, weil sie Sonnys kleine Schwester war. Na schön, auch weil sie eine flotte Biene war und keine Angst hatte, das zu zeigen. Seit er zwölf war, hat er sie heiraten wollen, und seit er siebzehn war, waren sie zusammen. Ein Jahr oder zwei war er im siebten Himmel, wie man so sagt. Aber dann ... ja, was dann? Das ist die LP, die sich seitdem auf seinem Plattenteller dreht, mit dem Tonabnehmer immer in derselben Rille. Was ist da passiert? Warum hat er sie verloren?
Bjarne holt eine senffarbene Schnupftabakdose aus der Außentasche seines Blaumanns und klemmt sich einen Klumpen Schnupftabak unter die Oberlippe. Eine Angewohnheit, die er aus den nordschwedischen Wäldern mitgebracht hat, in denen er als Waldarbeiter gearbeitet und sich allzu viele Jahre Gedanken gemacht hat, ohne der Antwort sonderlich näher gekommen zu sein. War es Sonny oder war es die Abtreibung? Dass diese beiden Dinge nicht voneinander getrennt werden können und entweder zusammen oder jedes für sich entscheidend waren, das hat er längst begriffen. Doch obwohl er das Rechenexempel immer wieder und aus immer wieder unterschiedlichen Perspektiven aufmacht, kommt er nie zu einem Schluss, an den er selbst glauben kann. Alles ist leicht und unkompliziert bis zu diesem Augusttag 1966, an dem Sonny gegen einen Laternenpfahl fährt. Er und Linda sind zusammen; sie sitzt hinten auf seinem Motorrad und schmiegt sich eng an ihn, die Arme um seine Taille, während er, Sonny und die anderen Jungen am Samstagabend ihre Paradefahrt die Vesterbrogade auf und ab machen. Lindas Röcke werden immer kürzer, ihre Haare immer länger und seine Lust auf sie immer größer. Doch obwohl sie so kess tut und ihn absichtlich scharf macht, darf er nicht. Nicht »das Freche«. Sie tauscht gern Zungenküsse mit ihm und tanzt eng mit ihm und lässt ihn seinen Unterleib gegen ihren pressen, wenn sie zu Are you Lonesome Tonight knutschen, doch obwohl er sich ein Jahr lang mit Haken und Hüfthalter abmüht, hält sie die Beine fest geschlossen. Sehr viel fester, als manche meinen. Denn der ganze Südhafen glaubt, dass er es von morgens bis abends mit Linda treibt. Und sie lässt sie natürlich in dem Glauben, aber eigentlich macht das alles nur noch schlimmer. Zuletzt ist er so verzweifelt, dass er ihr einen Antrag macht. Ihr vorschlägt, sich mit ihm zu verloben. Falls es das ist. Doch das will sie auch nicht. Sie lacht nur und sagt, dass er die Ruhe bewahren soll.
Sonny, dem er als Einzigem seine Qualen anvertraut, lacht ihn aus und sagt, dass ihr Lindamädchen eben nicht »so eine« ist. Denn Linda ist schlau. Im Gegensatz zu so vielen anderen ist sie sich durchaus darüber im Klaren, was es für den Marktwert bedeutet, einen Ruf als »abgelutschtes Bonbon« zu haben. Außerdem ist sie nicht der Typ, der mit sechzehn schwanger wird. Linda hat Mumm, sie wird studieren und all das. Sonny sagt das nicht direkt. Aber auf die eine oder andere Weise schwingt eine Warnung in dem kameradschaftlichen Lachen mit. Wie ein im Stahlkamm verstecktes Sprungmesser. Er darf nicht zu weit gehen mit Linda. Sie ist ihr Mädchen. Sonnys und Max’.
So wartet er diesen ganzen Sommer, ohne zu wissen worauf. Darauf, dass Linda erwachsen wird, vielleicht. Sie braucht nur noch ein Jahr bis zum Realschulabschluss, und ein Jahr hat schließlich nur dreihundertfünfundsechzig Tage – und Nächte! –, sagt er sich. Aber was, wenn sie bis zum Abitur warten will? Das sind noch weitere drei Jahre! Und wem sie da alles begegnen kann! Auf so einem Gymnasium. Wird sie ihn überhaupt noch beachten, wenn sie erst so weit gekommen ist? Obwohl er seine Lehre als Schlosser bald beendet und einen festen Job bei B&W hat?
Vermutlich erinnert er sich falsch, doch in seiner Erinnerung ist es ein besonders warmer und schwüler Sommer, in dem der süßliche Gestank des Hopfens über der Brauerei hängt. Sie hat einen Sommerjob drüben bei Carlsberg bekommen, arbeitet im Dreischichtbetrieb in einer der neuen Kolonnen in der neuen Zapfhalle, wo sowohl seine wie auch ihre Mutter die Bierkästen kontrollieren. Doch während die älteren Frauen immer müde sind und sich grau und erhitzt aus dem Tor schleppen, ist Linda verblüffend frisch, ob er sie nun um sechs nach der Nachtschicht abholt oder nach der Abendschicht um zweiundzwanzig Uhr. Nachmittags ist er selbst auf der Arbeit und kann nicht da sein. Aber ansonsten ist er zur Stelle, sowohl was das Bringen als auch was das Abholen angeht. Jedes Mal schwillt er vor Stolz an, sodass er aus seinen eigentlich durchschnittlichen Dimensionen herauswächst und sich wie ein amerikanischer Filmheld fühlt, wenn sie ihm winkend entgegengelaufen kommt und ihre langen Beine vor den Augen von Hunderten schwitzender Männer über den Sattel schwingt, die sich alle wünschen, dass sie so ein Motorrad hätten und Linda ihr Mädchen wäre. Dieses verliebte Ziehen im Bauch hat er seitdem nie mehr erlebt, und so war dieser Sommer – schwindelerregend, erregend. Trotzdem hat er die ganze Zeit diesen unheilverkündenden Druck empfunden, gespürt, dass die Wolken sich zusammenzogen und der Himmel bald von Blitzen zerrissen sein und das Unwetter losbrechen würde. Über seinem sündigen Haupt, denn seine Gedanken kreisten unentwegt um die fleischliche Vereinigung mit Linda, nach der er sich so sehr sehnte. Und das Unwetter kam. An einem Samstag im August wurde die Hitzewelle, die, auch nachdem sie wieder mit der Schule begonnen hatte, weiter anhielt, jäh von einem plötzlichen Wolkenbruch abgelöst, der alle überraschte. Unter anderem die Campingtouristen auf dem Tomtelli-Campingplatz am Mosede-Strand, zu dem die ganze Bande regelmäßig fuhr, um von Samstag auf Sonntag zu zelten, Bier zu trinken und laute Rockmusik auf den mitgebrachten Koffergrammofonen zu spielen. Es waren immer viele Mädchen da draußen, doch Linda bekam nur selten die Erlaubnis mitzufahren. Und an jenem Wochenende musste sie einen Aufsatz schreiben und ihrer Mutter bei der Wäsche helfen, und deshalb hatte er auch keine Lust zu fahren. Aber Sonny fuhr. Dieser Junge war, um es mit Max’ Worten zu sagen, mit einer hohen Oktanzahl im Blut geboren, sein Motto lautete leb intensiv, stirb jung, und deshalb schwang er sich gleich nach Feierabend in der Autowerkstatt, in der er gerade eine Lehre als Mechaniker gemacht hatte, auf seine Yamaha YDS3 und preschte dröhnend davon. Eine Stunde später als die Kameraden, weil die Werkstatt einen Wagen des Taxiunternehmens Sydhavnsbiler hereinbekommen hatte, bei dem hier und jetzt der Kühler abgedichtet werden musste. Doch er holte schnell einen Teil der Verspätung ein, denn man konnte rekonstruieren, dass er die Strecke von der Bådehavnsgade bis zum Kilometerstein 24 bei Tomtelli in weniger als zwanzig Minuten zurückgelegt hatte. Was bei dem Wetter viel, viel zu schnell war. Mithilfe schockierter Zeugen und der Polizei konnte man auch rekonstruieren, was passiert war. Sonny war im strömenden Regen, der die ohnehin schlechten Sichtverhältnisse noch weiter verschlechterte, mit hoher Geschwindigkeit den Gl. Køge Landevej entlanggerast, der auch die Landstraße des Todes genannt wurde. Deshalb hat er den ihm entgegenkommenden Lieferwagen nicht gesehen, der in dem Augenblick den Hügel herunterkam, in dem er sich angeberisch in die Kurve legte, um nach links auf den Campingplatz abzubiegen, ein Kunststück, das dazu gedacht war, den Eisessern am Kiosk zu imponieren. Im Übrigen umsonst, weil an diesem Tag niemand dort stand. Alle hatten vor dem Regen Schutz gesucht. Um einen Zusammenstoß zu vermeiden, bremst er gewaltig, doch wie jeder Motorradfahrer weiß, ist es fast unmöglich, eine jähe Bremsung auf einer regennassen Fahrbahn vorzunehmen, ohne die Gewalt über die Maschine zu verlieren. Er kommt ins Rutschen und wird in die Luft geworfen und direkt gegen einen Laternenpfahl geschleudert, der erst Jahre später entfernt wird. Es zertrümmert ihm die Schädeldecke; Helme sind etwas für Schlappschwänze.
Danach war der Sommer vorbei, obwohl er noch endlose Wochen weiterging. Ja, in gewisser Weise war alles vorbei, als der Sarg im Flammenmeer des Krematoriums verschwand. Jedenfalls was Bjarne anging. Auf dem Begräbnis biss er die Zähne zusammen, während Linda hemmungslos schluchzte. Dafür war sie diejenige, die die Zeit danach am besten durchstand. Die sich um das Praktische kümmerte. Die sich des erst vierjährigen Niller annahm und den Haushalt führte, als Åse, die Mutter, zusammenbrach und nach Dianalund kam. Linda war diejenige, die sich von der Schule beurlauben ließ und mit Max im Brauereiwagen herumfuhr und allen Gastwirten und Kneipenbesitzern auf ihrer Route erzählte, was passiert war. Sie war diejenige, die ihren Vater aufmunterte und ihm das Bier rationierte, als er allzu viel zu trinken begann. Und sie war auch diejenige, die ihn, Bjarne, tröstete. Sie ließ ihn abends bei sich weinen; sie strich ihm übers Haar und versicherte ihm, dass ihn keine Schuld traf. Aber sie widersprach ihm nie, wenn er sagte, dass es besser ihn, Bjarne, getroffen hätte statt Sonny. Bestenfalls konnte er sie dazu bewegen, einen ihn zum Schweigen bringenden Finger auf seine Lippen zu legen oder zu flüstern, dass er so etwas nicht sagen durfte. Allmählich wurde die Verzweiflung darüber, dass sie ihn, der er am Leben war, weniger liebte als Sonny, der tot war, zu einem größeren Schmerz als die Trauer um den verlorenen Freund. Und unreif, wie er war, endete es damit, dass er sie eines Abends so fest an den Oberarmen packte und eine Antwort verlangte, dass sie stöhnte. Wünsche sie sich, dass nicht Sonny, sondern er, Bjarne, bei dem Unfall umgekommen wäre? Als sie wieder mit ihrem »so kann man das nicht sehen« auswich und er mit immer härterem Griff eine Antwort verlangte, ob sie ihn mehr liebe als ihren toten Bruder, antwortete sie mit einem fremden, einschüchternden Fauchen, wie eine Katze aus der Unterwelt, dass sie nie jemanden lieben würde, wie sie Sonny geliebt hatte.
Sie war sechzehn, er achtzehn, sie waren nur ein Junge und ein Mädchen; trotzdem hat er nie aufgehört, sich Vorwürfe zu machen, dass er nicht klüger gewesen ist. Denn an diesem Abend hat er sie verlassen. Ist aus der Tür gestürmt und hat sie hinter sich zugeschlagen, dass der Putz im Treppenhaus von den Wänden rieselte. Wahrscheinlich ist er da passiert, der Bruch. Selbst wenn der Vorhang nicht hier fiel, denn, wie sich zeigen sollte, gab es noch mehrere Akte in diesem Drama. Erst bereute er, rief sie von der Telefonzelle an der Ecke aus an. Aber sie legte ihn auf Eis, wollte ihre Meinung nicht ändern und weigerte sich mehrere Wochen, ihn zu sehen. Er ließ den Kopf hängen, spielte jedoch den Stolzen und ging mit anderen Mädchen aus, die hinten auf dem Rücksitz sitzen durften, als er die Paradefahrerei wieder aufnahm. Ob das schließlich den Ausschlag gab, ob es ein Ausdruck von Eifersucht oder Besitzanspruch war, darüber ist er sich nie klar geworden, aber plötzlich, an einem Dienstagabend im September, rief sie ihn an und fragte, ob er kommen und sie abholen mochte. Sie würde gern eine Tour machen. Sie würde gern raus nach Tomtelli fahren und sich die Stelle ansehen.
In den Wochen, die vergangen waren, waren die Tage kürzer geworden und die Abende dunkler und kühler, und Linda war nicht länger ein helles, sonnengebräuntes Sommermädchen mit nackten Beinen. Ganz im Gegenteil haftete ihr etwas Winterhaftes an, wie sie in den engen Jeans und dem Anorak, dessen Reißverschluss ganz hochgezogen war, unter der Straßenlaterne im Borgbjergvej auf ihn wartete. Das Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden, und sie hatte kein Make-up aufgelegt. Er konnte sich nicht erinnern, sie jemals so zugeknöpft gesehen zu haben – und auch nicht so blass, mit dunklen Rändern unter den Augen. Doch als er erschrocken fragte, ob es ihr nicht gut gehe, versicherte sie ihm, dass es ihr ausgezeichnet gehe, schnipste ihre Zigarette fort und setzte sich mit der üblichen, leicht schwingenden Bewegung auf dem Sitz zurecht. Sie bestand auch darauf, nach Tomtelli hinauszufahren, obwohl er ihr das auszureden versuchte. Sie wirkte so zerbrechlich, und er war sich auch nicht sicher, ob er selbst das schaffen würde.
Sie brach in Tränen aus, und er musste kräftig schlucken, als sie nach Tomtelli hinauskamen und das Motorrad an dem nach der Saison geschlossenen Kiosk abstellten. Der Laternenpfahl hatte ordentlich etwas abbekommen, wie sie sagte, als sie sich die Augen trocken gewischt hatte. Es lagen noch immer verwelkte Blumen da, und der Asphalt stank noch immer nach Blut, und am Mast selbst waren in den morschen Ritzen des Holzes bräunliche Spritzer zu sehen. Er ließ sie allein, während sie die Stirn gegen den Pfahl lehnte und die Lippen bewegte, als würde sie beten. Anschließend suchten sie am Straßenrand nach weiteren Spuren, welcher Art auch immer, und als er nach einer intensiven Suche im Schein der Laterne einen zerbrochenen Seitenspiegel entdeckte, hatte er ein Gefühl, als hätte er die Goldenen Hörner gefunden. Sie lächelte das erste Mal an diesem Abend und steckte den Schatz in ihre Anoraktasche.
Und dann ... Ja, dass es mit diesem Abend enden sollte, kam völlig überraschend für ihn. Ebenso wie er ganz anders verlief, als er sich vorgestellt hatte. So hatte er beispielsweise immer vor sich gesehen, dass sie einen Rock anhaben würde, wenn es endlich passierte. Einen Rock und einen Hüfthalter und dünne Nylonstrümpfe. Und dann musste er sich mit ein paar beschwerlichen Röhrenhosen abmühen, die sie ihm selbst half herunterzuziehen, als sie nach einer kalten Fahrt im Gegenwind, auf der er sie gegen seinen Rücken gepresst weinen spürte, zurück in die Stadt kamen und verfroren und durchgepustet in dem Schrebergartenhaus drüben in Frederikshøj landeten. Der Vorschlag kam von ihr. Sie wollte nicht nach Hause. Das wollte sie einfach nicht. Nachdem sie den Kirschwein aus dem Schrank geteilt und den größten Teil einer Packung North State unter einer klammen, grauen Wolldecke geraucht hatten, passierte es. Sie gab ihm nicht nur die Erlaubnis. Sie nahm ihn. Es war äußerst verwirrend und traurig, und sie weinte erneut, als er durch die enge Öffnung in sie eindrang, und er kam zu schnell, obwohl er meinte, aufgepasst zu haben. Denn Kondome hatte er dieses eine Mal nicht parat.
Obwohl er nicht sehr erfahren war, war es nicht sein erstes Mal. Er war mit einigen der Willigen, die dadurch zu den »Billigen« wurden, im Keller und drüben im Gebüsch bei dem Fußballfeld gewesen, und deshalb ärgerte es ihn furchtbar, dass er ihr kein besseres »erstes Mal« hatte bieten können. Denn ganz offensichtlich hatte sie nicht einmal annähernd etwas davon. Sie lag einfach da auf dem Sofa und weinte ihr ruhiges, unablässiges Weinen, das nicht auszuhalten war. Natürlich bot er ihr an, sie nach Hause zu fahren, aber nein, sie wollte bleiben, und was Max anging, würde es keine Probleme geben. Sie bestimmte jetzt selbst. Irgendwann in der Nacht schliefen sie eng umschlungen auf dem schmalen Lager ein. Am nächsten Morgen wachten sie erst gegen neun auf, und vielleicht nutzte er sie aus, denn diesmal ging die Initiative von ihm aus. Sie war weicher und nicht so angespannt, aber wenn er ehrlich war, schien es auch diesmal nicht das große Vergnügen für sie zu sein. Er selbst kam auf ihrem Bauch in dem irrtümlichen Glauben, dass das sicher wäre. Edel wischte er den Samen mit seinem Taschentuch ab, das er im Stillen beschloss, nie mehr zu waschen. Denn jetzt gehörte sie ihm.
Das flüsterte er ihr unter der Decke zu, und sie lächelte, und es war herrlich. Obwohl es bald zehn war, hatte er es noch immer nicht eilig, nach Hause zu kommen. Und wenn es ihr gleichgültig war, zu spät in die Schule zu kommen, konnte es ihm dieses eine Mal auch gleichgültig sein, zu spät zur Arbeit zu erscheinen. Deshalb lud er sie zum Frühstück ein, und auch in der Kaffeebar in der Toftegårds-Allee blieben sie hängen, bis die Kellnerin lange Blicke in ihre Richtung warf. Sie sagten nicht viel; er, weil er so voller Gefühle war, dass er sie unmöglich in Worte fassen konnte. Er glaubte oder hoffte, dass sie aus dem gleichen Grund schwieg: weil sie überwältigt war, dass sie jetzt zusammengehörten. Dass jetzt alles wieder gut war. Von Reue merkte er nichts, ganz im Gegenteil, sie klebte die ganze Zeit an ihm. Noch nie hatte er sie so verletzlich erlebt und noch nie einen solchen Drang gespürt, sie zu beschützen. Zärtlich hatte er den Arm um sie gelegt, sie an sich gezogen und mit belegter Stimme gemurmelt, dass er sie liebe. Dass sie nicht antwortete, machte nichts. Sie hatte seine Hand gedrückt, und ihre Augen waren wieder blank geworden, und das hatte ihm als Antwort gereicht. Sie tranken noch eine Kanne Kaffee und teilten sich die letzte Zigarette, und dann hatte er sie still und ruhig nach Hause in den Borgbjergvej gefahren. Max stand lauernd hinter der Gardine, wie er sehen konnte, doch sie küsste ihn wie immer zum Abschied schnell auf den Mund, dann war sie im Haus.
An diesem Tag hatte er Lust, ihr alle Blumen Kopenhagens zu kaufen, die Goldschmiede zu bestürmen und sich als frisch verlobt zu erklären. Doch etwas hielt ihn zurück, denn sein Glück basierte auf Unglück, und das machte ihn unruhig. Und ganz richtig, schon am selben Abend nahmen seine bangen Ahnungen zu. Sie hatte »Kopfschmerzen«, sagte Max, der ihm mit finsterem Gesichtsausdruck aufmachte. Und auch am nächsten Tag kam sie nicht heraus. Am dritten Tag bekam er einen Brief, in dem sie mit ihm brach. Ihre Beziehung beendete. Ohne Erklärung. Und fünf Wochen später schrieb sie ihm noch einen Brief, in dem sie ihm ebenso kurz mitteilte, dass sie schwanger war. Er hatte nicht aufgepasst.
Natürlich war er bereit, sie zu heiraten. Trotz der Panik, mit neunzehn Vater zu werden. Sie konnten eine Heiratserlaubnis bekommen, zu Hause bei ihm und seiner Mutter wohnen, da war Platz genug. Aber sie wollte von ihm nichts wissen und von dem Kind auch nicht. In die Abtreibung sollte er sich nicht einmischen, das würde sie selbst erledigen, und damit war er eigentlich aus dem Spiel. Was Max ihm vollkommen klarmachte. Er solle sich einfach von ihr fernhalten. Linda wolle mit so einem Schuft nichts mehr zu tun haben, und wenn er sich ihr jemals wieder näherte, würde er eine solche Tracht Prügel beziehen, dass er das nie mehr vergäße.
Am ersten November war er mit der Lehre fertig, und am zweiten November fuhr er nach Hamburg und heuerte auf einem Kohlenschiff an, auf dem sein Onkel Steuermann war. Er schrieb ihr in seiner Koje einen Brief nach dem anderen, aber sie antwortete nie, und als er auf Landurlaub nach Hause kam, war er zu stolz, sie aufzusuchen. Später, als sie zur Miss Danmark gewählt worden war, bekam er einen Zeitungsausschnitt über sie zugeschickt. In den Jahren, die folgten, erhaschte er immer wieder einmal einen Blick auf sie, einmal am Storchenbrunnen, wo sie in einer Gruppe von Hippies mit indischen Gewändern und Stirnbändern in den Haaren saß, und ein anderes Mal im Drop Inn, wo sie an irgendeinem bärtigen Künstlertypen hing. Nie gab er sich zu erkennen, sondern machte auf dem Absatz kehrt und flüchtete vor ihrem Anblick, von Grauen erfüllt, diesem Mädchen von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen, das er einmal gekannt und doch nicht gekannt hatte.
Der Rest ist Geschichte, wie man so sagt. Er hielt sich von ihr fern, zog als Gelegenheitsarbeiter durch Europa, wandte sich dann nordwärts und ließ sich als Waldarbeiter in Norrbotten nieder, bis er nach dem Tod seiner Mutter vor vier Monaten mit einem Hörschaden und einer nie gestillten Sehnsucht nach Hause kam. Ist verheiratet gewesen, hat sogar einen jetzt erwachsenen Sohn mit einer finnisch-schwedischen Frau, mit der er einige lange, tiefe Winter verbracht hat. Doch im Grund genommen, ist er allein geblieben, und obwohl das pathetisch ist, möchte er gern, dass sie das weiß. Dass er es als eine Art Sühnegabe versteht für eine Schuld, die er gern auf sich nimmt. Die Schuld, dass er sie damals nicht verstanden hat. Dass er sie im Stich gelassen hat. Er möchte gern, dass sie weiß, dass es nie eine andere gegeben hat. Dass Linda immer die Frau in seinem Leben gewesen ist. Die einzige Eine.
Er greift nach der Harke, die er neben ihre Familiengrabstätte gelegt hat. Das erste Mal, als er wieder neben dem bescheidenen Grabstein stand, hatte eine riesige Erleichterung ihn erfasst, dass sie nicht hier lag. Dass es nicht zu spät war. Obwohl es das natürlich ist. Er hat sich informiert. Weiß, dass sie diesen Sozialdemokraten geheiratet hat, der durch die Gegend gelaufen ist und drüben bei Carlsberg den Cleveren gespielt hat und später als Finanzminister bekannt geworden ist. Linda ist die Frau eines bekannten Mannes geworden, das wäre sie mit ihm nicht. Vielleicht ist es einfach so. Dass Linda aus dem Südhafen fortwollte, fort von ihm. Vielleicht ist es überhaupt kein Mysterium.
Er zieht den Schnupftabak hoch. Beugt sich über die Grabstätte und entfernt einen kleinen Ast. Seltsam. Hier riecht es ganz unverkennbar nach Bier. Nach Starkbier. Er zieht den rechten Handschuh aus und steckt einen Finger in die Erde. Sie ist nass. Er hebt den Finger unter die Nase und riecht daran. Ja, das ist Bier! Das verrückte Frauenzimmer hat Starkbier über das Grab ihres Vaters gegossen!
Bjarne Husted richtet sich auf, stützt sich auf die Harke und wirft lachend den Kopf in den Nacken, während die Schneeflocken auf seiner Zunge schmelzen, und er laut ruft, was er sofort hätte rufen sollen, als er sie gesehen hat:
»Lindaaaa! Komm zurüüüück!«
Eines Tages wird er sie anrufen. Bald. Bevor es auch dazu zu spät ist.