Читать книгу Seine Frau - Hanne-Vibeke Holst - Страница 39
ОглавлениеMan kann eine Silvesterparty nicht vor zwölf verlassen. Das ist gegen die Etikette. Man muss mit dem Rest der Gesellschaft vor dem Fernseher stehen und die Rathausuhr zwölf schlagen sehen. Man muss die Champagnerkorken knallen lassen und – das ist das Schlimmste – Neujahrsküsse austauschen. Vielleicht ist es auch nur das Zweitschlimmste, jedenfalls wenn man mit einer Frau verheiratet ist, die »ein gutes, neues Jahr« zum Vorwand nimmt, jeden anwesenden Mann, bekannt wie unbekannt, abzuküssen. Und Gert Jacobsen ist mit so einer Frau verheiratet und hasst es deshalb, auf solche Feste zu gehen. Weil er sich so Lindas »Kussrunde« mit ansehen und sich damit abfinden muss, selbst von den Frauen der anderen Männer auf die Wange oder den Mund geküsst zu werden, was ungefähr so erregend ist wie die Oblate beim Abendmahl. Deshalb schaut er bereits seit elf nervös auf die Uhr und denkt darüber nach, wie sie rechtzeitig verschwinden können. Seine Unruhe wird dadurch nicht gemindert, dass er Linda schon seit einiger Zeit nicht mehr gesehen hat, obwohl die Zimmer trotz ihrer herrschaftlichen Dimensionen überschaubar sind. Wenn er einen langen Hals macht, kann er sehen, dass nicht sie, sondern Christina Maribo und der junge Sune Garde mit Freundin auf dem Sofa vor dem Kamin sitzen. Dort sitzt Linda sonst gern, wenn sie hier sind. Sie sieht gern ins Feuer, sagt sie. Vielleicht ist sie auf der Toilette, vielleicht ist ihr übel geworden? Wie viel hat sie getrunken? Während des Essens hat er drei Gläser gezählt, plus den Begrüßungsdrink. Aber man weiß schließlich nicht, was sie vorher in sich hineingeschüttet hat, und auch nicht, was sie getrunken hat, seit sie vom Tisch aufgestanden ist. Er lächelt seinen Gesprächspartner, Charlotte Damgaards Mann Thomas, zuvorkommend an, einen naiven jungen Menschen, der ihn eine ermüdende halbe Stunde lang davon zu überzeugen versucht hat, dass Afrika für eine das Leben verlängernde ARV-Behandlung von HIV-Patienten reif ist. In großem Maßstab. Das ist so dumm, dass er nicht einmal Energie darauf verschwenden mag, ihm zu widersprechen. Obwohl er sich beinahe hätte provozieren lassen, als der Idiot mit so einem feministischen Scheiß kam, dass die patriarchalische Dominanz der Männer an der ganzen Epidemie schuld sei und sich alle Probleme des Kontinents lösen ließen, wenn man den Frauen »die Kontrolle über ihren eigenen Körper ließe«.
»Ich muss zugeben, dass man sich als Mann schon seines Geschlechts schämt, wenn man erlebt, wie die Männer sich aufführen. Sie sind absolut verantwortungslos, stecken alle an und geben darüber hinaus noch den Frauen die Schuld!«
»Hmm«, brummt Gert und denkt an das Bordell im Dorf. So, wie er sich an Afrika erinnert, sind nicht nur die Männer promisk. Afrikanische Frauen haben schon immer ihr sexuelles Potenzial bis zum Äußersten ausgereizt. Seiner Meinung nach stehen die Männer unter der Fuchtel der Frauen und nicht umgekehrt. Was weitgehend auch für ihre weniger primitiven, aber nicht weniger durchtriebenen europäischen Mitschwestern gilt, hätte er gern gesagt. Aber so etwas darf man nicht laut sagen, deshalb lässt er den jungen Mann weiter von empowerment of women und male involvement plappern, und was er noch alles aus dem bodenlosen Fass der Sozialbranche herauszieht. Gert tut sich zwar ziemlich schwer mit Feministinnen und ihrer weinetliehen Opfermentalität, doch sie sind ihm immer noch lieber als ihre männlichen Nachbeter. Pfui Teufel, und der hier gehört zu den ganz schlimmen!
Wenn er wollte, könnte er ihn wie einen Moskito auf einem Negerarm zerquetschen, aber das ist er, ehrlich gesagt, nicht wert. Außerdem beschäftigt ihn vor allem seine verschwundene Frau und der Countdown, der laut wie eine Uhr in seinem Schädel tickt. Er beugt sich mit den Händen auf den Oberschenkeln vor, um aufzustehen, doch in dem Moment lässt Charlotte Damgaard sich neben ihm nieder. Sie war unten auf der Straße und hat Raketen mit den Kindern abgeschossen, die jetzt »sicher« vor Pers DVD-Player installiert sind, dem Weihnachtsgeschenk, das er sich selbst gemacht hat.
»Was sehen sie sich an?«, fragt Gert.
»Das Motorsägenmassaker«, lacht sie und nimmt einen geräuschvollen Schluck aus dem Weinglas ihres Mannes. »Und, Gert, wie sieht es mit deinen Neujahrsvorsätzen aus?«
»Im Moment interessiert mich viel mehr, wo meine Frau ist«, sagt er und will aufstehen.
»Sie ist draußen in der Küche. Sie spült. Und sie will keine Hilfe. Du kannst ruhig hierbleiben! Nun, was ist? Irgendwelche Neujahrsvorsätze?«
Als sie wieder nach dem Glas ihres Mannes greift, steht der bereitwillig auf, um ein sauberes Glas für sie und weiteren Wein zu holen. Pantoffelheld.
»Ich habe keine«, sagt er ausweichend, während ein »Ist sie allein?« über seine Lippen will.
»Come on!«, lacht sie. »Weniger rauchen, weniger Alkohol, gut zu den Tieren sein!«
Er sieht sie forschend an, normalerweise äußert sie sich nicht so freimütig ihm gegenüber. Bezweckt sie etwas oder hat sie nur einen leichten Schwips? Sie hat etwas Walkürenhaftes, Kriegerisches an sich. Doch ihre großen, grünen Augen schwimmen leicht, und schielt sie nicht ein bisschen auf dem einen Auge? Eigentlich müssten sie miteinander reden. Die Fronten ein wenig aufweichen. Dass sie nicht gerade Busenfreunde sind, ist kein Geheimnis. Für keinen in der Fraktion. Sie standen von Anfang an auf Kriegsfuß, und im Herbst haben sie sich regelrecht überworfen. Über so wichtige Themen wie das Verhältnis zu ihren amerikanischen Alliierten und die Einwandererpolitik. Obwohl er die Kompetenz anerkennt, die sie bei der Handhabung der Krise unmittelbar nach dem 11. September bewiesen hat, und auch Respekt für ihren Einsatz im Wahlkampf hat, ist und bleibt sie die allzu rote Megafonhalterin, die nie auch nur ansatzweise die Essenz dänischer Politik begreifen wird: sich an die Mitte zu halten und die schwere Kunst der Zuteilungspolitik zu meistern. Gewürzt mit der besonderen Raffinesse, selbst das zu bekommen, was man haben will, ohne den Gegner merken zu lassen, dass man im Wesentlichen nicht nachgegeben hat. In aller Bescheidenheit ist das eine Kunst, in der er recht souverän ist, und vielleicht könnte er sie diese Kunst lehren, wenn sie sich von ihren beiden Marionettenspielern Meyer und Vittrup befreien würde. Denn zugegeben, sie hat etwas. Eine mächtige Naturkraft und eine ungewöhnliche Ausstrahlung, worin bestimmt ein gewisses Potenzial liegt. Dumm ist sie auch nicht, im Gegensatz zu gewissen anderen jungen Genossinnen, mit denen Per sich umgibt. Wenn sie sich nur eine Zeit lang bedeckt halten und nicht auf den Fraktionssitzungen auffahren und die »lammfromme proamerikanischen Linie« der Parteispitze kritisieren würde. Mehr als einmal hat sie darüber gewettert, dass sie nicht den nötigen Abstand zu der »primitiven Cowboy-Rhetorik« der Bush-Regierung wahren. Sie hat auch ihre »Skepsis« angesichts des »gnadenlosen Rachefeldzugs gegen die Talibanstellungen in Afghanistan« durch die Amerikaner geäußert, der leider allzu viele zivile Opfer gefordert und Tausende von Demonstranten in den europäischen Großstädten auf die Straße gerufen hat. Wie zu erwarten, haben große Teile des sozialdemokratischen Hinterlands auch ihren Widerwillen gegen die Unterstützung der harten Linie der Amerikaner zum Ausdruck gebracht, doch er persönlich ist überzeugt, dass viele der gemeinen Parteimitglieder nachts ruhiger schlafen würden, wenn der inzwischen weltberühmte »most wanted«-Anführer des al-Qaida-Netzwerks, Osama bin Laden, gefasst wäre, tot oder lebendig. Nicht weil er so einfältig ist zu glauben, dass mit dem saudischen Mastermind hinter Gittern Ruhe und Frieden einkehren würden. So, wie er die Situation versteht, befindet sich die Welt inmitten eines Wertekampfs zwischen dem Westen und dem Islam, der viele Jahre lang die politische Tagesordnung prägen wird. Es wird zu weiteren Terrorakten kommen, und es gibt keine rationale Begründung, warum Dänemark in dieser Hinsicht verschont bleiben sollte. Es hat einfach eine epochale Wende gegeben, einen historischen Bruch, was viele noch nicht begriffen haben. Und was er natürlich nicht einmal im Traum laut aussprechen würde. Denn Führung hat schließlich in hohem Grad damit zu tun, Sicherheit zu schaffen, das heißt, die Illusion von Sicherheit. Und wie schafft man diese Illusion? Indem man die Muskeln spielen lässt.
Und als die radikale Jugendorganisation Hizb ut-Tahrir während einer Versammlung in der Nørrebro-Halle den USA und allem, was an westliche Werte erinnert, den Dschihad erklärt hat, hat er auch nicht mit einer ausdrücklichen Verurteilung der radikalen Muslime gezögert, die er mehr oder minder direkt aufgefordert hat, das Land zu verlassen. Was – aus verschiedenen Gründen – zu gewissen Unstimmigkeiten in der Fraktion geführt hat, von Pers und Meyers Brüskiertheit über seinen Sologang bis hin zu Charlottes hitziger Anklage des Rechtsopportunismus. Vielleicht hätte sie die Diskussion sogar gewonnen, denn große Teile der Fraktion teilten ihren Standpunkt, hätte sie nicht, wie üblich, in ihrer Hitzigkeit zu viele Bälle ins Spiel gebracht. Sie war wie vor den Kopf geschlagen, als er sie, ohne die Stimme zu erheben, abgekanzelt und als »himmelschreiend naiv, an der Grenze zur Dummheit« bezeichnet hat. »Sich einzubilden, diese Art von Extremisten mithilfe sozialpädagogischer Maßnahmen und Kaffeekränzcheneinladungen eliminieren zu können, ist nicht nur falsch, sondern unverzeihlich mit dem Wissen, über das wir heute verfügen«, hat er geschmettert. Und sie lag völlig falsch, als sie glaubte, die Oberhand durch die Frage zurückzugewinnen, ob er den frustrierten Einwandererjungen überhaupt etwas anderes zu bieten habe als »null Toleranz« und »Auge um Auge, Zahn um Zahn«. »Wird das deiner Meinung nach präventiv wirken in Bezug auf die Front zwischen ›ihnen‹ und ›uns‹, die für alle sichtbar langsam aufgebaut wird, nicht zuletzt durch die Mitwirkung der Sozialdemokratie! Soll ich unseren kurdischen Gemüsehändler jetzt als potenziellen Terroristen betrachten?« Und als er knapp mit einem »Ja, das sollst du« geantwortet hat, war das Match gewonnen. Sie schwieg.
Per hat sich nicht eingemischt, Meyer hat auch den Mund gehalten, und danach erstarben die Proteste. Zumindest für dieses Mal. Seitdem hat es nur vereinzelte Zusammenstöße gegeben, doch die Einwandererpolitik wird zweifelsohne für Turbulenz in der Fraktion sorgen. Und Susanne Branner, die Sprecherin, lässt sich auch langsam nötigen. Sie müssen so schnell wie möglich zu einem Kompromiss kommen, der die Flügel sammelt. Ließe sich Charlotte besänftigen und von der Notwendigkeit überzeugen, den berechtigten Ängsten der Bevölkerung entgegenzukommen, könnte sie eine richtig nützliche Spielerin werden. Doch das erfordert, dass sie zumindest mit ihm spricht. Dass sie einsieht, dass sie sich nicht auf Per verlassen kann. Er wird sie, falls nötig, für einen Schilling verkaufen, und hat sie mehr als einmal hängen- und an einem dünnen Faden über dem Abgrund baumeln lassen. Das kann sie doch nicht vergessen haben, und falls sie es hat, hilft er ihr gern, die Erinnerung aufzufrischen, und wird seinen Beitrag dazu leisten, dass sie die Konflikte der Vergangenheit hinter sich lassen und zu einem freundschaftlichen Umgang finden. Will sie zu einer Toppolitikerin werden, muss sie lernen, dass die persönlichen Beziehungen in der Politik notwendigerweise fließend sind. Man wechselt die Tanzpartner, trennt sich und findet zueinander zurück, wenn neue Konstellationen das erfordern. Anpassungsvermögen ist eine Notwendigkeit, in Feindschaften wie in Freundschaften. Keep your friends close, but your enemies closer. So sind die Regeln auf der Burg. Man muss flexibel sein, sonst lassen sich neue Öffnungen weder sehen noch nutzen.
»Hast du denn Vorsätze für das neue Jahr«, fragt er deshalb entgegenkommend und bietet ihr eine Zigarette an.
»Endgültig mit dem Rauchen aufzuhören!«, sagt sie mit einem vielsagenden Blick auf die filterlose Kings. »Außerdem habe ich schon lange den Vorsatz, dir zu sagen, was für ein riesengroßes Arschloch du warst, als du mich bei den Haushaltsverhandlungen hintergangen hast. Wie viele Millionen hast du dem Umweltministerium gestrichen? Ohne mich vorzuwarnen? Zweihundert?«
»Einhundertachtundneunzig«, berichtigt er sie und gibt ihr Feuer.
»Lässt sich das noch etwas präzisieren?«, fragt sie und inhaliert, noch immer mit diesem herausfordernden Blick.
»Wenn du es genau wissen willst: 198 243 314 dänische Kronen«, antwortet er und lächelt.
»Du bluffst. Du kennst das Budget nicht auf Punkt und Komma auswendig.«
»Du kannst es gern überprüfen.«
Sie schlägt mit der Hand auf das Kissen aus Seehundfell neben sich.
»Das ist doch krank!«
»Das ist meine Spezialität. Ich liebe Zahlen. Und entschuldige, aber zweihundert Millionen sind nicht viel bei einem Budget von 3,7 Milliarden!«
Sie zuckt mit den Schultern. Stößt Rauch aus.
»Was sagst du dann zu 29,2?«, fragt sie herausfordernd.
»Ein historisch niedriges Wahlergebnis!«
»Wer trägt die Verantwortung?«
»Da sind wir uns doch einig.«
»Was sollen wir jetzt machen?«
»Aus unseren Fehlern lernen.«
»Welche Fehler haben wir begangen?«
»Verschiedene.«
»Welcher war der größte?«
»Sag mal, ist das ein Verhör? Mit einem Lügendetektor!«, ruft er und rutscht unruhig auf dem Stuhl hin und her. Beobachtet, wie die Leute sich im Fernsehzimmer nebenan sammeln.
Sie lacht. Richtet ihren Ausschnitt. Er ist so tief, dass er den Blick auf einen recht einladenden Brustansatz freigibt. Er mag ihren roten Lippenstift. Und die schwarze Strumpfhose mit Goldschimmer.
»Vielleicht. Wann sind wir wieder an der Macht?«
»Das kommt darauf an ...«
»Worauf?«, fragt sie und lehnt sich ganz über den Sofatisch, sodass er noch tiefer in ihren Ausschnitt sehen kann.
»Das kommt darauf an, ob wir die richtige Antwort finden.«
»Die Antwort worauf?«
»Die Antwort, warum es so schiefgelaufen ist«, er zieht bewusst eine Augenbraue nach oben.
»Und du hast sie, nicht wahr? Die Antwort?«
»Warum sollte ich sie haben?«
»Weil du auf alles eine Antwort hast. Immer. Deshalb wirst du auch so bewundert. Und gefürchtet«, sie kneift die Augen zusammen.
»Mag sein.« Er lächelt zurückhaltend. »Aber jetzt will ich eine Antwort darauf, wie es meiner Frau geht«, sagt er und reißt sich aus dem Zauberkreis los, den sie plötzlich um ihn gelegt hat. Er hat nicht gewusst, dass sie derartige Fähigkeiten besitzt.
»Es geht ihr super! Ganz ruhig. Sie amüsiert sich. Per hält draußen Hof. Thomas scheint auch in der Küche hängen geblieben zu sein, da er nicht mehr zurückkommt.«
»Hm! Das klingt beruhigend«, sagt er, macht aber trotzdem Miene, aufzustehen.
»Du, darf ich dich etwas fragen?«
Wieder beugt sie sich mit entblößtem, milchweißem Dekolleté vor.
»Das tust du doch die ganze Zeit.«
»Okay, aber darf ich dich etwas Persönliches fragen?«
»Nur zu.«
»Magst du Frauen?«
»Was?«, diesmal schießen die Augenbrauen spontan nach oben. »Was für Frauen?«
»Frauen. Ganz allgemein. Frauen als Kategorie«, fragt sie und schwenkt die Zigarette.
»Ich liebe Frauen.«
»So wie du Zahlen liebst?«
»Hör mal, habe ich nicht für eine Verlängerung des Mutterschaftsurlaubs plädiert? Zum Preis von einer Milliarde? Unter anderem deshalb musste dein Budget gekürzt werden!«
»Und deshalb konnte ich auch den Plan von einem grünen Dänemark nicht weiterverfolgen!«, schießt sie zurück. »Aber lassen wir das jetzt. Jetzt stehen wir schließlich beträchtlich größeren Problemen gegenüber!« Sie verdreht die Augen. »Wenn sie die Vereinbarungen des Mifresta-Abkommens brechen, gibt es Krieg! Was denkst du?«
Er nickt zustimmend. Obwohl er der Meinung ist, dass dem Umweltministerium eine kräftige Rasur nicht schaden könnte, gibt er ihr recht, dass die von der Regierung angekündigten Kürzungen, vor allem was die Investitionen in erneuerbare Energien angeht, völlig kopflos sind. Und wenn man die spezielle Bewilligung für Umwelt, Frieden und Stabilität streicht, ist das ein glasklarer Vertragsbruch. Er drückt seine Zigarette im Aschenbecher aus und schielt ins Fernsehzimmer, um zu sehen, ob Linda inzwischen dort aufgetaucht ist.
»Dann gehen wir zum Angriff über! Darüber habe ich mit den Radikalen gesprochen. So!«, sagt er, um den Schluss dieses seltsamen, aber nicht ganz unstimulierenden Gesprächs zu markieren.
»Nein, nein!«, protestiert sie. »Wir sind noch nicht fertig! Liebst du Frauen genauso sehr wie Zahlen?«
»Das kann man absolut nicht vergleichen, Charlotte!«
»Ja, aber trotzdem!«, beharrt sie. »Was liebst du mehr? Frauen oder Zahlen?«
»Frauen, natürlich! Ich bin schließlich nicht so ein abgestumpfter Zahlenheini, der ein intimes Verhältnis zu seinem Taschenrechner hat!«, sagt er aufgebracht. Trotz seines guten Willens spürt er den Ärger.
»Okay! Wie groß ist deine Frau?«, fragt Charlotte, als im gleichen Moment Linda mit einer Flasche Rotwein und einem sauberen Glas für Charlotte in der Doppeltür auftaucht. Mit einem schönen Gruß von Thomas, der Jens auf der Toilette hilft.
»Ungefähr ein Meter siebzig«, antwortet er und hört selbst, dass seine Antwort wie ein ungeduldiges Zischen klingt. »Sollen wir das Spiel jetzt nicht beenden, es ist gleich zwölf!«
»Ein Meter fünfundsiebzig«, antwortet Linda auf Charlottes auffordernden Blick hin.
»Wie viel wiegt sie?«, wieder wandert Charlottes Blick von Gert zu Linda und wieder zurück zu Gert.
»Das weiß ich doch nicht! Fünfundfünfzig Kilo?«
»Das war vor zwanzig Jahren, honey. Vierundsechzig!«
Nachdem sie Gert und Charlotte Wein eingeschenkt hat, steht sie in der Türöffnung und kichert Charlotte auf eine Weise verschworen zu, die seinen Ärger nur noch weiter schürt.
»Welche Kleidergröße hat sie? Welche Schuhgröße?«
»Keine Ahnung! Schluss jetzt mit dem Unsinn!«, sagt er und steht so abrupt auf, dass die Flasche, die Linda auf den Tisch gestellt hat, beinahe umkippt. Charlotte gelingt es gerade noch, sie festzuhalten, während sie versucht, ihn mit einem »Gert, verdammt! Das war doch nur Spaß!« zurückzuhalten.
Sein Über-Ich sagt ihm, dass er tief durchatmen, bis zehn zählen und sich wieder hinsetzen sollte. Doch die mühsam aufgebaute Vernunft fällt in sich zusammen wie ein Kartenhaus im Sturm, da er es nicht erträgt, dass jemand sich über ihn lustig macht. Und erst recht keine Frau. Dass er sich nur noch mehr zum Gespött macht, als er Linda mit einem »Komm, wir gehen!« am Arm packt, ist ihm durchaus bewusst, doch sein Temperament siegt über den kühlen Verstand, sodass er genau das tut. Die Silvesterparty in einem Wutanfall verlässt, der alle Hindernisse aus dem Weg fegt, sei es der Gastgeber mit seinem Baumkuchen oder Linda mit ihrem quäkenden »Wir können doch jetzt nicht gehen! Es ist fünf vor zwölf!«.
»Dann bleib!«, zischt er und reißt seinen Lammfellmantel vom Bügel in der Diele. Aber natürlich geht sie mit, ein paar Schritte hinter ihm, da sie ihre Tasche holen muss und er den Fahrstuhl nicht warten lässt und bereits unten auf der Straße ist und in sein Auto steigt, als sie schließlich auftaucht.
»Gert, du kannst nicht fahren!«, wendet sie ein und bleibt auf der Haustürstufe stehen. »Du hast zu viel getrunken. Wir müssen ein Taxi rufen!«
»Willst du mit oder nicht?«, faucht er wütend und zieht die Autotür zu.
Einen Augenblick zögert sie. Als überlege sie, ihm zu trotzen. In dieser Sekunde wünscht er, dass sie es tut. Dass sie einmal Nein sagt. Sich weigert, mit ihm zu fahren, den Kopf in den Nacken wirft und zurück auf die Party geht. Doch sie fügt sich, wie immer. Setzt sich stumm auf den Beifahrersitz und kann gerade noch ihren Rockschoß retten, bevor er hart auf das Gaspedal tritt und den Wagen einen Satz in den Verkehr machen lässt. Ohne vorher zu blinken. Wenn er in eine Alkoholkontrolle gerät, ist er geliefert. Ein Gedanke, der ihn, eingekapselt in seine Wut, höchstens leicht wie die kalte Nachtbrise streift. Er hat sich auch nicht angeschnallt und hasst es, dass sie den Gurt anlegt. Fühlt eine fast unbezwingbare Lust, frontal gegen einen Laternenpfahl oder einen Straßenbaum zu fahren, nur um ihr Angst zu machen. Stellt sich den Krach vor, den knirschenden Laut des Metalls, das aufreißt; sieht sie verunstaltet in dem Glasscherbenhagel. Spürt eine solch gewaltsame Sehnsucht nach Grausamkeit, Schiffskatastrophen und plötzlichem Tod, dass er sich für seine Feigheit verhöhnt, als er mit ihrem Schrei in den Ohren auf die Bremse tritt und bei Rot mitten auf der Kreuzung hält, als ein Bus quer über die Øster Farimagsgade kommt.