Читать книгу Seine Frau - Hanne-Vibeke Holst - Страница 30
ОглавлениеDie letzten selbst verlöschenden Kerzen gehen mit einem Ziiisch aus, die Stille der Nacht senkt sich über das Haus, und die beiden Brüder haben die Hälfte ihrer Cohiba-Zigarren geraucht und sind beim dritten Cognac von Léopold Gourmel angelangt, einem hellen, bernsteinfarbenen Gourmeterlebnis mit einem Hauch Vanille, den Ole-Stig in hohen Tönen lobt, als er sich sagt, dass jetzt der Moment gekommen ist. Jetzt, wo Linda ins Bett gegangen – oder besser geschickt worden – ist, nachdem sie in einem Rausch die Küche aufgeräumt hat, den man back home als skandalös bezeichnen würde. Und obwohl dänische Frauen auch in diesem Punkt freizügiger sind, ist ihm klar geworden, dass seine Schwägerin ganz offensichtlich ein Alkoholproblem hat. Den endgültigen Beweis hat er im Schuppen bekommen, als er das unglückselige Fahrrad geholt hat und beinahe über eine halb volle Flasche Schnaps gestolpert wäre, die über den Betonfußboden rollte. Nicht wenige seiner engsten Freunde, gar nicht erst zu reden von seinem geliebten Bob, haben einen Entzug gemacht – sowohl nach dem Minnesota-Modell wie auch in der Betty-Ford-Klinik –, und das mit positivem Resultat, trotz einiger Rückfälle. Die Prognosen sind vor allem dann vielversprechend, wenn das Problem rechtzeitig erkannt wird und der Süchtige sowie der Mitsüchtige sich ihm stellen. Ob Gert erkannt hat, dass seine Frau trinkt, ist die Frage, um die Ole-Stig wie ein Golfball um die Lochkante kreist, während sein großer Bruder ihm ein weiteres Mal den Provinzialismus der dänischen Innenpolitik im Allgemeinen und die populistische Kaffeekränzchenrhetorik der neuen Regierung im Besonderen darlegt. Er scheint sich nicht viele Gedanken über seine Ehe zu machen, doch Ole-Stig ist sein Ärger nicht entgangen, als er Linda gebeten hat, sich zurückzuziehen. Ja, eigentlich klang es mehr wie ein Befehl, dem sie auch prompt Folge geleistet hat. Im Großen und Ganzen kann Ole-Stig, der Gert freundlich zuhört, sich nicht entscheiden, ob er beruhigt sein oder seine bangen Ahnungen, was das Verhältnis seines Bruders zu seiner Schwägerin angeht, eher bestätigt sehen soll. Obwohl er sie mehr als forschend angesehen hat, hat er keine Spuren physischer Gewalt entdecken können. Außer dass ihr ein Zahn fehlt, oben rechts, den sie durch eine Krone ersetzen lassen sollte, aber das heißt nicht notwendigerweise, dass er ihn ihr ausgeschlagen hat. Allerdings steht außer Diskussion, dass Gert unfreundlich zu ihr ist. Zu unfreundlich, und es schneidet ihm ins Herz zu sehen, wie eingeschüchtert seine früher so toughe Schwägerin inzwischen ist. Wenn er mit ihr allein ist, ist sie noch immer süß, lustig und schlagfertig, und als Profi würde er auch sagen, dass sie sich auffallend gut gehalten hat. Würde sie ihn in seiner Klinik konsultieren, er würde sich damit begnügen, ihr ein blue peeling zu empfehlen, wie das, dem er sich selbst unterzogen hat, und später einmal ein umfassendes Lifting. Ja, erst Restylane, gefolgt von Botox. Doch wie er immer zu seinen Klienten sagt, an der Ausstrahlung lässt sich nichts machen. Die innere Schönheit kann nicht einmal der beste Arzt der plastischen Chirurgie hervorholen. Und die verliert sie langsam. Die Frische, die Vitalität, die sie zumindest früher so hot machte, dass es selbst ihn nicht kalt ließ. Linda war einfach sexy. Nicht verwunderlich, dass Gert, der in seinen von Akne geprägten Teenagerjahren – in denen ihm ein Peeling wirklich gutgetan hätte – nicht gerade der Liebling der Mädchen war, herumstolziert ist wie ein horny cat, als er sie erobert hatte. Miss Danmark, verdammt! Und jetzt haben sie getrennte Schlafzimmer. Traurig. Gert macht auch keinen besonders glücklichen Eindruck, aber das ist vielleicht verständlich, wenn einem gerade der Job vor der Nase weggeschnappt worden ist.
Eigentlich hat er erst jetzt das Gefühl, dass Gert ein wenig auftaut, wo sie sich mit den Cognacgläsern in der Hand in den tiefen Ledersesseln in Gerts Arbeitszimmer entspannen, das in unangenehmem Ausmaß an das Herrenzimmer ihres Vaters in einer anderen Villa in Frederiksberg erinnert, von den Mogens-Koch-Regalen, dem Børge-Mogensen-Sofa und dem Kaare-Klint-Sessel bis hin zu den Geweihen an der Wand. Er hat Schuhe und Strümpfe ausgezogen, was er immer tut, wenn er entspannen will und sich sicher und wohl fühlt. Gert hat sich nie daran gewöhnt, Schuhe zu tragen. Ole-Stig lächelt ihm wissend zu, löst auch die eigenen Schnürsenkel und streift die Schuhe mit einem ah! ab. Jetzt, wo die Ruhe sich endlich eingefunden hat, ist es da nicht schade, eheliche Scharmützel zur Sprache zu bringen? Von denen Gert zu Recht behaupten kann, dass sie nicht babybrother’s business sind.
»Kannst du dir vorstellen, wieder einmal auf Safari zu gehen?«, fragt er stattdessen mit einem Nicken zu den ausgestopften Großwildtrophäen hin.
»Nee, eigentlich nicht«, sagt Gert und folgt seinem Blick. Einem Blick, der sie viele Tausend Kilometer weiter südlich führt bis hinunter in die Massai-Ebene an einem warmen, sonnenflimmernden Tag vor langer Zeit. Einem Blick, der sie zu dem Punkt in der Geschichte zurückführt, an dem sich alles wendete und Gert die Oberhand gewann. Dem Punkt in der Geschichte, als Gert in der Massai-Ebene einen Löwen mit einem Schuss erlegte und ihr Vater anschließend behauptete, ihn selbst erlegt zu haben, obwohl die ganze Jagdgesellschaft Zeuge geworden war, dass er vorbeigeschossen hatte.
»Hättest du ihn wirklich erschossen?«, fragt Ole-Stig und erinnert sich an den Augenblick, in dem Gert das Gewehr gehoben, auf seinen Vater angelegt und mit einer Stimme wie Trockeneis gesagt hatte, dass die nächste Kugel für ihn sei, wenn er nicht sofort zugab, dass das gelogen war.
»Ja«, Gert schwenkt den Cognac im Glas. »Das hätte ich.«
»Tough guy«, nickt Ole-Stig.
»Meinst du ihn oder mich?«, fragt Gert säuerlich.
»Ihn! Unseren Vater. Er war ein harter Mann«, sagt Ole-Stig.
Gert zuckt mit den Schultern.
»Für Mutter war es schlimm. Und für dich.«
»Du hast es doch auch abbekommen!«, wirft Ole-Stig ein.
»Aber ich konnte es aushalten.«
Schweigend ziehen sie an ihren Zigarren. Ole-Stig hat Schwierigkeiten, seine am Brennen zu halten; als integrierter Lifestyle-Amerikaner hat er schon vor Jahren das Rauchen aufgegeben. Das sollte Gert auch. Zwanzig King ohne Filter pro Tag fordern ihren Preis. Falten, Krebs und Raucherlunge, schön wird das nicht. Hinzu kommen noch die Sonnenschäden aus der Kindheit. Er sollte sich auch auf Hautkrebs testen lassen. Ole-Stig hat damit angefangen, sich Muttermale entfernen zu lassen. Prophylaktisch.
»Eigentlich glaube ich nicht, dass irgendein Kind das aushalten kann«, ermannt er sich zu sagen. Sie haben noch nie darüber gesprochen. Über die Misshandlungen, die Gewalt. Den Gürtel, die Kleiderbügel. Die Demütigungen. Die Verwirrung darüber, dass der eigene Vater Arzt, Christ und gleichzeitig gewalttätig war. Das passte nicht zusammen. Schon gar nicht in Ole-Stigs empfindsamem Gemüt. Er ist geneigt, seinem shrink recht zu geben, dass seine eigene Entscheidung für die Medizin mit seinem lebenslangen Versuch zu tun hat, einen Zusammenhang zu schaffen. Er hätte ein Arzt für die Armen und nicht für die Reichen werden müssen, hätte etwas in der großen Rechnung begleichen sollen.
»Man wird vermutlich abgehärtet. Lernt, Widerstand zu ertragen, zurückzuschlagen. Ziemlich nützlich in der Politik«, sagt Gert und schneidet hinter dem Zigarrenrauch eine sarkastische Grimasse.
»Ist das so?«, fragt Ole-Stig.
»Ist was so?«
»Die Politik? Geht es nur darum, sich schlagen zu können?«
Gert legt die Zigarre in den Aschenbecher, pult Tabak von der Zunge.
»Mmm. Im primitiven Sinn, ja. Wenn du dich nicht schlagen kannst, hast du in der Politik nichts verloren. Das ist hart. Brutal. Genau wie damals im Dorf. Dort konnten die Schwachen auch nicht überleben, oder? Sie gingen drauf. Das wärst du auch ...«
»Wenn ich dich nicht gehabt hätte! Ich war schließlich nur ein kleiner, rothaariger Jammerlappen, sag es ruhig.«
Ole-Stig hält lächelnd eine abwehrende Hand hoch. Jetzt sind sie zurück in der Welpenzeit. Zwei gleichaltrige Brüder, die einander aufziehen, miteinander streiten und aufeinander eifersüchtig sind, letztendlich aber Zusammenhalten.
»Kannst du dich erinnern, wie wütend er geworden ist, als du dein Fahrrad verliehen hast? Wie viel hast du noch mal zusammenbekommen? Du bist steinreich geworden!«
Gert lacht.
»Zuerst habe ich es gratis gemacht ...«
»Um sie auf den Geschmack zu bringen! Du warst schon immer ein Finanzgenie!«
»Danach habe ich zehn Cent die Minute genommen! Das war billig! Und die Ärmsten bekamen Rabatt. Ich habe das Geld für einen edlen Zweck gespart! Kannst du dich nicht mehr erinnern? Ich wollte Geld für Ekomodo verdienen ...«
Ole-Stig schaudert. Ekomodo war das Ungeheuer des Dorfs. Ein von der Syphilis zerfressener Krüppel, der mit seinem entstellten Gesicht und dem in Fäden aus den Mundwinkeln hängenden Speichel durch die Gegend trottete. Sein kleiner Neffe hat ihn herumgeführt, alle anderen hatten entweder Angst vor ihm oder schossen mit der Steinschleuder Steine nach ihm. Außer Gert, der sich als Einziger von den weißen Kindern herabließ, mit ihm zu reden. Manchmal gab er ihm sogar Zigaretten, die er dem Vater gestohlen hatte, oder Mais aus ihrem Küchengarten hinter dem Haus.
»Ich hatte viele Jahre Albträume von ihm«, murmelt Ole-Stig.
»Ja, und doch war er so friedlich wie nur ... Ein armer Ausgestoßener. Dafür brauchte ich das Geld. Kannst du dich erinnern, wie arm er war? Er hatte nicht einmal eine Decke zum Schlafen.«
»Mutter hat ihm doch einmal eine gegeben, nicht wahr?«
»Ja. Und ich wollte ihm ein Radio kaufen. Ihm die Überraschung seines Lebens bereiten, verstehst du?« Gert sieht auf seine Zehen hinunter. Bewegt sie hin und her. Sie sind schön und wohlgeformt wie seine Finger.
»Aber das zu erklären, habe ich nie geschafft, nicht? Die Prinzipien hinter der Umverteilung ... Vater hat geglaubt, dass ich die kleinen Negerkinder ausgebeutet habe, nicht?«
Die beiden Brüder drehen ihre Zigarre zwischen den Fingern. Auch Ole-Stig pult sich etwas Tabak aus dem Schnäuzer. Er färbt ihn seit Kurzem. Lächerlich. In Skandinavien ganz besonders.
»Großvater war wohl auch kein großer Pädagoge«, meint er schließlich. Als eine Art Verteidigung.
»Der Pfarrer?«, sagt Gert spöttisch. »Noch so ein selbstloser Humanist.«
»Erinnerst du dich an die Geschichte mit dem Betttuch?«, fragt Ole-Stig schaudernd, während der Albtraum der Kindheit sich rührt.
»Nicht wirklich. Wie war das noch?«
Ole-Stig seufzt. Eigentlich ist das keine Geschichte, an die er sich erinnern möchte. Da sie paradoxerweise seine eigene bedingt.
»Vater hat ins Bett gemacht, bekam Prügel, damit er aufhört, aber es hat nicht geholfen. Dann hat Großvater Großmutter verboten, seine Unterhose, seine Schlafanzughose und sein Betttuch zu wechseln. Vater hatte die Wahl, seine stinkenden, vollgepinkelten Sachen zu tragen oder nach draußen zu gehen und sie in einem Eimer auf dem Hofplatz zu waschen. Er hat sich zu Letzterem entschlossen, und da stand der kleine fünfjährige Knirps mitten im Winter mit nacktem Hintern und wusch seine Sachen im eiskalten Wasser. Keiner durfte ihm helfen, und obwohl Großmutter und das Dienstmädchen in der Küche standen, weinten und die Hände rangen, wagten sie nicht, ihm beizustehen. Er musste selbst das Betttuch auf die Wäscheleine hieven, und bevor er fertig war, war er natürlich selbst klatschnass und durchgefroren. Und als er eine Lungenentzündung bekam, war das die Strafe Gottes!«
»Der Mann war ein Sadist!«, entscheidet Gert kategorisch, als ginge es um eine besondere, prähistorische und seit Langem ausgestorbene Rasse, die in keiner Weise etwas mit ihm zu tun hat.
»Ja«, gibt Ole-Stig zu. »Er war ein Sadist. Aber das Unheimliche ist doch, dass der Fluch sich weitervererbt hat, nicht?«, sagt Ole-Stig zu spät, um sich in die Zunge zu beißen. So war das nicht gemeint. Aber so wird es auch nicht aufgefasst, denn Gert scheint in seine eigenen Gedanken versunken.
»Anyway«, fährt Ole-Stig fort und sieht wieder seinen Vater vor sich, an diesem Tag in der Ebene, unmittelbar vor Sonnenuntergang, die Sonne als rote Scheibe im Hintergrund. In seinem kakifarbenen Anzug mit dem breitkrempigen Lederhut auf dem Kopf, das Gewehr im Triumph erhoben. »Es war trotzdem gut, dass du ihn nicht erschossen hast. Trotz allem.«
»Hmm. Darüber könnte man diskutieren.«
Ole-Stig klinkt sich in Gerts Gedankenreihe ein, jedenfalls glaubt er das. Er spürt, dass Gert über die Kausalrelation nachdenkt. Denn hätte er damals ihren Vater erschossen, wäre ihre Mutter später nicht an der Tollwut gestorben, als sie von einer Fledermaus in den Nacken gebissen wurde, denn derselbe Vater – der einzige weiße Arzt in dem Distrikt – war zu stur, seine eigenen Grenzen zu akzeptieren und die Flying Doctors zu rufen. Wäre sie rechtzeitig von dem verlassenen Tabora ins internationale Krankenhaus in Dar Es Salaam oder nach Nairobi geflogen worden, hätte sie eine faire Chance gehabt zu überleben. Ergo kommt man mit dieser Logik zu dem Schluss, dass Gert – indem er seinen Vater nicht erschossen hat – Schuld am Tod seiner Mutter trägt.
Ob diese schwindelerregende Einsicht, das Trauma um den dramatischen Tod seiner Mutter, noch dadurch verschlimmert wurde, dass Gert zu diesem Zeitpunkt schon aufs Internat in Dänemark geschickt worden war, oder das Nikotin den kalten Schweiß auf Ole-Stigs Stirn austreten lässt, ist unklar. Jedenfalls ist ihm plötzlich übel und unwohl, er braucht Wasser und frische Luft.
»Puh«, sagt er und steht leicht wankend auf. »Ich muss mal ...« Gert lächelt spöttisch. Irritierend großbrüderlich.
»War das zu starker Tobak?«
Ja, das war es wohl. Allzu starker Tobak.
Noch bevor er das Wohnzimmer verlassen hat, hat Gert die Fernbedienung des Fernsehers in der Hand und CNN eingeschaltet. Der Moment ist vorbei. Er konnte Linda nicht einmal erwähnen, geschweige denn die kleinste Bemerkung fallen lassen, dass eine elektronische Badezimmerwaage wohl nicht das optimale Weihnachtsgeschenk für eine Frau ist, die so offensichtlich just a little hit of love braucht.