Читать книгу Seine Frau - Hanne-Vibeke Holst - Страница 35

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Charlotte Damgaard sieht grauenhaft aus, als sie vor der Kühltheke steht und darüber nachdenkt, was zum Teufel sie am vorletzten Tag des Jahres essen sollen. Aber nicht weil sie ungeschminkt und nicht zurechtgemacht ist und ihren Teint irgendwie in Richtung gekochte Weihnachtsbratwurst beschreiben würde, denkt sie, »Oh, nein! Warum muss er ausgerechnet hier einkaufen!«, als sie aus dem Augenwinkel Per Vittrup ausmacht, der einen der großen Einkaufswagen vor sich herschiebt. Sie schämt sich für diesen Gedanken, aber sie würde ihm lieber nicht begegnen. Dead Man Walking, ein schrecklicher Ausdruck, aber einer, der sich einprägt. Auch ihr. Seit dem Zeitungsartikel hat sie nicht mehr von diesem Bild abstrahieren können, das sie mehrere Nächte hintereinander wachgehalten hat. Sie, die die Albträume der Kindheit endlich losgeworden ist, liegt jetzt wach und dreht und wendet sich, um nicht an eine ganz spezielle Episode aus dem Wahlkampf erinnert zu werden, den sie und Per ansonsten souverän gehandelt haben, als das klassische Duo – der erfahrene ältere Mann und die jüngere, aber clevere Frau.

Das Bild, das sie im Zeitlupentempo vor sich sieht, zeigt Per Vittrup, der an diesem Wahltag vor dem Storchenbrunnen steht und rote Rosen verteilt. Oder richtiger – es zeigt Per Vittrup, der vergebens versucht, die Rosen aus dem Korb, der an seinem Arm hängt, an den Mann beziehungsweise an die Frau zu bringen. Denn die Leute wollen sie nicht. Entweder machen sie einen großen Bogen um ihn oder sie schütteln abwehrend den Kopf und hasten weiter. Während ihr eigener Korb schnell leer wird, bleibt seiner voll. Und während sich die Panik unter den vom Parteibüro ausgesandten Truppen ausbreitet, wird seine Stimme immer schriller, während er unschuldige Kopenhagener anspricht, die ihm nur schwer wieder entkommen, wenn sie sich seiner erst einmal erbarmt haben. Kindern im Strampelanzug wird die Wange getätschelt, Rentner werden gedrückt, junge Hip-Hoper mit Skateboards unter dem Arm bekommen einen Schlag auf die Schulter und so weiter. Doch was er auch tut, es lässt sich nicht verbergen: Der Staatsminister wird zurückgewiesen. Die Leute weichen ihm aus, als hätte er eine Krankheit.

Niemand will die Beinstümpfe des Bettlers sehen. Auch Charlotte nicht. Als sie wie erstarrt in vorgebeugter Haltung über den diversen Packungen mit Fleisch von Freilandschweinen steht, schämt sie sich, dass auch sie von Schwäche abgestoßen und von Stärke angezogen wird. Denn Charlotte betrachtet sich als anständigen Menschen. Sie will ein anständiger Mensch sein. Und ein anständiger Mensch wendet dem Verlierer nicht den Rücken zu. Ein anständiger Mensch verhält sich nicht wie die Fraktion im Folketing, die ihn seit dem Wahlabend mit der Niederlage alleingelassen hat. Bei jeder Fraktionssitzung hat sie es gespürt, wenn auch nur an ihren eingerollten Zehen. Sie ertragen ihn nicht. Sie reagieren wie eine Frau, die ihren Geliebten verstoßen hat und seine Berührung nicht länger aushält und seinen Namen nur noch mit Ekel ausspricht. Es ist keine rationale, sondern eher eine emotionale Zurückweisung, die sie teilt, aber nicht leben will. Deshalb richtet sie sich auf, und als er sie sieht und sofort auf sie zusteuert und laut und energisch das Wort an sie richtet, »Charlotte! Gute Weihnachten gehabt zu haben!«, ist sie gezwungen, sich überrascht zu geben und lächelnd »Hi Per!« zu sagen. Und weil sie so ein schlechtes Gewissen wegen ihrer Unehrlichkeit hat, bleibt ihr keine Wahl. Sie muss die Silvestereinladung annehmen. Die Kinder können sie ruhig mitbringen, das ist kein Problem. Er ist gerade dabei, alle anzurufen; er findet, sie könnten ein bisschen Aufmunterung brauchen.

»Die Idee kam mir ganz spontan, deshalb werden natürlich nicht alle können. Und Marienborg wird es auch nicht werden, aber in meiner Wohnung ist viel Platz!«

»Das klingt gut«, sagt sie und gibt zu bedenken, dass sie das natürlich noch mit Thomas besprechen muss.

»Ist er aus Afrika zurück?«, fragt Vittrup und scannt den Supermarkt auf aufmerksame Blicke ab. Sie gucken noch, die Leute. Obwohl das Gedächtnis kurz ist.

Charlotte erklärt, wie sie es schon einige Male hat tun müssen, dass Thomas zu Weihnachten aus Sambia nach Hause gekommen ist und laut Plan seinen Vertrag mit der MS, der Organisation für Internationale Zusammenarbeit, im kommenden Jahr auch erfüllen kann, indem er nur zu mehreren kürzeren Aufenthalten hinunterfliegt.

»Super«, sagt er und sieht ihr erneut in die Augen. »Wir brauchen dich in den kommenden Monaten. Alle guten Kräfte müssen zusammenstehen.«

Auf was oder wen der Gebrauch des Pluralis Majestatis hinweist, ist nicht ganz klar, aber sie fragt nicht nach. Sie mag nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen und wirft einen Seitenblick auf das Fleisch in der Kühltheke.

»Um acht oder etwas früher. Dann können wir noch die Königin sehen, nicht?«, sagt er und lächelt wieder. Das Lächeln wirkt künstlich oder zumindest ungewohnt. Vielleicht weil sie ihn bisher noch nie in Zivil gesehen hat? Allein, ohne sein Gefolge von Aktenträgern.

»Das wird bestimmt nett«, nickt sie. »Sollen wir etwas mitbringen?«

»Nein, nein! Wenn ein Westjütländer etwas kann, dann einen Dorsch kochen!«, lacht er.

Jetzt greift er nach einer Packung Schinkenstückchen für den Wok. Rührt sich aber nicht von der Stelle; offenbar möchte er doch noch etwas loswerden.

»Hast du etwas von den anderen gehört?«, fragt er mit der gleichen unnatürlichen Lässigkeit wie ein Teenager, der wissen will, ob »jemand« angerufen hat.

»Nee, wir waren in Nordjütland. Ich habe ein einziges Mal mit Meyer telefoniert. Sie waren in Norwegen auf der Hütte eingeschneit, aber das war bestimmt gemütlich. Mit Grog und einem Kaminfeuer, du weißt schon.«

Er lacht wieder.

»Das kann ich mir vorstellen. Was ist mit Gert? Hast du ihn gesprochen?«, fragt er leichthin.

»Gert?«, sagt sie und zieht die Augenbrauen zusammen. »Nein, das habe ich nun wirklich nicht. Sollte ich?«

»Nein, nein. Sie kommen morgen auch. Er und Linda. Wie dem auch sei, ich muss weiter. Grüß zu Hause«, sagt er und setzt sich mit dem fast leeren Einkaufswagen in Bewegung. Er wirkt irgendwie linkisch mit dem Wagen. Als ginge er mit einem Kinderwagen ohne Kind spazieren.

Seine Frau

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