Читать книгу Seine Frau - Hanne-Vibeke Holst - Страница 25
ОглавлениеDer Flug SK926 von Los Angeles mit Ankunft auf dem Copenhagen Airport um 6.50 Uhr hat aufgrund der neu eingeführten Sicherheitsvorschriften auf den amerikanischen Flughäfen knapp vierzig Minuten Verspätung. Dafür können die Passagiere sich freuen, dass sie einen komfortablen Flug hatten, da in allen Klassen ungewöhnlich viel Platz war. In der Businessclass konnte sich Ole-Stig über drei Sitze ausbreiten, und nachdem er als routinierter Kosmopolit eine Schlaftablette genommen und zusätzlich direkt nach dem Abflug eine Melatonintablette unter der Zunge zergehen lassen hat, hat er seit dem Take-off wie ein Baby geschlafen. Im Gegensatz zu den Passagieren, die in großer Anzahl ihre Weihnachtsreise über den Atlantik abgesagt haben oder nur notgedrungen an Bord gegangen sind, hat Ole-Stigs Nervenkostüm sich nicht durch Flugzeugentführer aus dem Mittleren Osten, al-Qaida-Bomben oder Pockenviren im Ventilationssystem erschüttern lassen. Er teilt nicht die Furcht der Amerikaner vor dem in ihren Augen naiv schutzlosen Europa; er ist überzeugt, in dem Flugzeug sicherer zu sein als in der immer wieder von Erdbeben erschütterten Bay Area oder in jeder beliebigen amerikanischen Großstadt. Und was Kopenhagen angeht – Dänemark insgesamt –, ist das seiner Meinung nach noch immer ein rührend unschuldiges Märchenland, bevölkert von freundlichen Zwergen jenseits the real world.
Eine Meinung, die nur noch bestätigt wird, als er sich während des Landeanflugs die Nase am Fenster platt drückt und, nachdem das Flugzeug eine Kurve über Schonen geflogen ist, sich Kopenhagen wie eine beleuchtete Insel in einem dunklen Meer unter ihm ausbreitet. Eine kleine Insel, denkt er zufrieden, denn wie alle Emigranten möchte er das Vaterland in einer versiegelten Zeittasche halten, und deshalb ist jede Veränderung oder Entwicklung nur von Nachteil. Trotzdem starrt er fasziniert auf den gestrichelten Lichtstreifen mitten im Sund, bei dem es sich, wie er sich ausrechnen kann, um die neue Brücke über den Øresund handeln muss. Die Brücke, deren politischer Vater zu sein Gert so stolz ist. Wüsste man es nicht besser, könnte man den Eindruck gewinnen, dass es allein sein Verdienst ist, dass überhaupt etwas aus der Brücke geworden ist. Dass es ihm und seinem politischen Weitblick zu verdanken ist, dass Dänemark und Schweden miteinander verbunden sind. Doch als sein kleiner Bruder hat Ole-Stig gelernt, die Kirche im Dorf zu lassen, wenn es um Gert geht. Denn sein großer Bruder ist ein Prahlhans, das ist er immer gewesen. Er ist auch ein Hitzkopf, ein arroganter s.o.b., ein silly old bastard, und seltsam ehrliebend. Alles in allem wäre er ziemlich unausstehlich, wäre er nicht noch so vieles andere. Superbegabt, intellektuell stimulierend und – das vor allem anderen – sein großer Bruder, der ihn immer beschützt hat. Ohne Gert hätte Ole-Stig die Kindheit in Tansania nicht überlebt. So einfach ist das. Ole-Stig hatte nicht nur eine weißere Haut als Gert und rötere Haare, was ihm an sich schon negative Beachtung einbrachte, um es mit einer erwachsenen Umschreibung auszudrücken. Er war auch eine Heulsuse und hatte nie gelernt, mit der Steinschleuder zu schießen, und kam selbst bei einer Schlägerei mit dem unterlegensten Gegner in Bedrängnis. Er verstand es einfach nicht, sich zu prügeln. Hatte nicht diesen killer instinct, der Gert zum Häuptling der Jungen machte, sowohl der weißen wie der schwarzen. Und obwohl Gert sich nicht zurückhielt und seinen kleinen Bruder wegen seiner mädchenhaften Neigung aufzog, mit Puppen zu spielen und schöne Damen aus den Wochenzeitschriften auszuschneiden, die sie aus Dänemark geschickt bekamen, duldete er es nicht, dass andere mit Fingern auf ihn zeigten. Auch nicht ihr Vater, der es nicht ertrug, dass sein jüngster Sohn sichtlich »entartet« war. Verstiegen wie er war, glaubte er, mithilfe von Strafen aus seinem Sohn »einen richtigen Jungen« machen zu können. Eine Erziehungsmethode, die er konsequent und mit harter Hand durchzog, bis Gert groß genug war, sich zwischen die beiden zu stellen und den Leiden seines kleinen Bruders ein für alle Mal ein Ende zu bereiten. Ob Gert jemals, in seinem tiefsten Inneren, die Homosexualität seines Bruders akzeptiert hat, ist zweifelhaft, aber zumindest hat er immer für dessen Recht gekämpft, homosexuell zu sein. Deshalb hat Ole-Stig trotz der offensichtlichen Fehler und Mängel seines großen Bruders eine Schwäche für ihn. Seinetwegen kann er gern die Ehre für sämtliche Brückenverbindungen, die er will, in Anspruch nehmen, darf prahlen und verschlossen sein, darf dozieren und irritieren. Er vergibt seinem großen Bruder alles.
Nur ein einziger Punkt stört ihn. Denn obwohl er seinen großen Bruder liebt, ja, ihn irgendwie sogar vergöttert und ihm alle Macht und Ehre dieser Welt gönnt, ist es nicht in Ordnung, not okay, dass er dort weitermacht, wo ihr Vater aufgehört hat. Nicht, dass sie jemals darüber gesprochen hätten. Aber er ist schließlich nicht blind – als Kind einer misshandelten Mutter sieht man so etwas. Die Unruhe, die Angst, die Nervosität. Und die klinischen Spuren natürlich. Er ist immerhin Arzt. Oft schon hat er zerschlagene Frauengesichter repariert und Frauen, die verzweifelt um eine neue Identität gekämpft haben in der Hoffnung, sich so vor ihrem Verfolger verstecken zu können, ein neues Gesicht gegeben. Er hat es sogar gratis gemacht. Für die finanziell Unterprivilegierten. Und das sind schließlich die meisten in dieser Situation.
Eine Stewardess tippt ihm auf die Schulter. Er hat vergessen, die Stuhllehne aufzurichten. Sie lächelt, blond und skandinavisch. Erinnert ein bisschen an Linda, vor zehn, fünfzehn Jahren. Er erwidert das Lächeln, drückt auf den Knopf und gelobt sich, diesmal etwas zu unternehmen. Mit Gert zu sprechen. Er muss aufhören, seine Frau zu schlagen.