Читать книгу Wie ein Engel auf Erden - Hannelore Kleinschmid - Страница 11
10.
Оглавление"Sie müssen sich mehr bewegen und anstrengen." sagte die Physiotherapeutin. "Sie müssen Ihre schützende Höhle, will sagen Bett und Zimmer, häufiger verlassen." sagte der behandelnde Arzt, als er vorbeikam. "Sie müssen in den Park gehen, wo die Sonne so wunderbar scheint." sagte die Stationsschwester.
"Ist Ihnen nicht langweilig?" fragte die Hilfsschwester, als sie mit dem Tablett zur Tür hereinstürmte.
Es war ein gutes Gefühl, all diesen Eindringlingen nur einfach mein Gesicht entgegenzuhalten, ohne dass sie meiner Miene irgendeine Antwort entnehmen konnten.
Mir ging es gut in meinem weißen Bett. Noch ging es mir gut. Solange ich noch dableiben durfte.
Ich hatte nur ein einziges Problem. Wie würde ich Karin dazu bringen, mich am Wochenende nicht zu bemuttern? Wenn ich schon gezwungen wurde, die schützende Höhle zu verlassen, wollte ich die Stunden unbeobachtet überstehen.
Noch auf der Türschwelle brachte Karin es fertig, gleichzeitig mit dem GutenAbend und dem Wiegehtesdir zu versprechen, dass sie mich am Sonnabend um halb zehn Uhr morgens abholen werde. Ich schüttelte den Kopf. Meine beste Freundin ging sofort zur hörbaren Wörtertrennung über:
"Du-musst-unbedingt-versuchen, wenigstens-einen-Tag-lang-das-Krankenhaus-zu-verlassen. Du brauchst keine Angst zu haben. Wir können einen Ausflug machen.“
Unwillig schüttelte ich den Kopf. Jedenfalls hoffte ich, dass meine Miene unwillig aussah.
Wie immer im strengen Kostüm mit heller, bis oben zugeknöpfter Bluse angetan, trat Karin an mein Bett, nahm mild lächelnd meine Hand, drückte sie liebevoll und versicherte, dass ich wirklich keine Angst haben müsste.
"Glaub mir, dass Leben da draußen ist nicht so schlimm, wie du denkst. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Für dich ist bestens gesorgt."
Ich sah sie ohne zu zwinkern an.
"Ich bin doch da." versicherte sie.
Ich nickte.
"Also bist du einverstanden, dass ich dich um halb zehn Uhr abhole?"
Ich schüttelte den Kopf.
"Was hast du denn? Du brauchst dich nicht zu ängstigen. Glaub mir, du musst nienienie wieder am Schalter Fahrkarten verkaufen."
Davon war ich überzeugt. Wie sollte jemand, der nicht redete, etwas verkaufen? Nickend stimmte ich Karin zu.
"Also hole ich dich ab." schlussfolgerte sie.
Mein Kopfschütteln nervte sie sichtlich, gab mir jedoch im Augenblick ein irres Gefühl von Überlegenheit. Ich wusste, was ich wollte. Doch sie musste sich nach meinen Bedürfnissen durchfragen.
Im ersten Leben war ich allen Menschen, die freundlich zu mir waren, zu Diensten gewesen und hatte mich krampfhaft bemüht, ihnen zu gefallen. Jetzt kümmerten sie sich um mich!
Karin war eine Helfernatur. Das hatte ich, solange wir uns kannten, an ihr bewundert. Also ließ ich sie nur einige Augenblicke zappeln. Sie wartete ungeduldig, bis ich zum Zettelchen griff. Sorgfältig schrieb ich auf:
ICH MÖCHTE AM SAMSTAG ALLEIN SEIN. NICHT BÖSE SEIN! WO IST MEIN WOHNUNGSSCHLÜSSEL? VIELLEICHT AM SONNTAG?
Ernsthaft und viel zu lange schaute sie auf den Zettel. Dann traf mich ein besorgter Blick. Schließlich sagte sie:
"Wie wollen wir uns für Sonntag verabreden?"
Seitdem von Entlassung die Rede war, hatte ich mir überlegt, dass ich in meiner Wohnung kein Telefon dulden wollte. Was soll eine Stumme mit einem Sprechgerät anfangen? Altmodisch würde ich Briefe schreiben und mir Zeit nehmen für alles, was zu erledigen war. Wie oft hatte ich mich früher unter Zeitdruck gefühlt! Ständig hatte ich ein schlechtes Gewissen, dieses oder jenes nicht rechtzeitig getan zu haben. Jetzt würde ich mir Muße gönnen, zum Beispiel für Briefe. Ich hatte sie immer gern verfasst. Aber auch dabei stand ich früher unter Druck, weil so viele Briefe unbeantwortet herumlagen oder ungeschrieben blieben.
Taktisch erschien es klüger, dass ich so tat, als wüsste ich hundertprozentig, was ich am Sonnabend und Sonntag unternehmen wollte. So griff ich ein zweites Mal zum Zettel. Ausnahmsweise tue ich das, versprach ich mir. Nie wollte ich mich hinreißen lassen, Schweigen durch Zettel zu überbrücken.
Nachdrücklich schrieb ich also:
ICH MÖCHTE IRGENDWANN AM NACHMITTAG KOMMEN.
Basta, schrieb ich nicht dazu, aber ich dachte es. Offensichtlich sah Karin mir das an. Sie nestelte an ihrem Lederaktenkoffer und holte meinen Wohnungsschlüssel heraus. Sie war eine ordentliche Person. In ihrer Tasche gab es nie ein geordnetes Chaos, sondern überhaupt keines.