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6.

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Seitdem ich zu neuem Leben erwacht war, brachte mir Karin, die mich fast jeden Tag besuchte, Zeitungen und Zeitschriften mit. Als die Muskulatur in Händen, Armen und Schultern sich langsam auf die vergessenen Funktionen besann, sah ich mir zunächst die erste und die letzte Seite der Blätter an. Die bunten Geschichten aus aller Welt, Autounfälle und Verbrechen reizten mich am ehesten, Buchstabe für Buchstabe Wort um Wort zusammenzusetzen.

Immer wieder ermahnte ich mich, die Gräuel dieser Welt wie eine Außerirdische zu betrachten. Das geschenkte Leben wollte ich nicht ernstnehmen. Nachdem ich freiwillig den Tod gewählt hatte, wäre beinahe alles zu Ende gewesen. Dass ich noch atmete, war ein Geschenk, das ich mal als Gabe Gottes und mal als Kunstbeweis der modernen Medizin wertete.

Vom Tod aus gesehen, gab es im Grunde genommen nichts, das schwer wog und einen Menschen unglücklich machen durfte. War diese Erkenntnis nicht eine wunderbare Weisheit? Daran wollte ich mich fortan klammern.

Ich lag im weißen Bett, hatte das Kopfteil hochgestellt, die Knie angezogen und blätterte in der Zeitung vom Vortag. Nach zähem Üben bildeten sich nun wieder wie früher beim Lesen Bilder vor dem geistigen Auge. Irgendwie - ich weiß nicht warum - faszinierte mich der Hautarzt, der Prostituierte in seine Wohnung verschleppt und ermordet haben sollte. Ausführlich wurde geschildert, wie er sie betäubt, benutzt und in der Badewanne umgebracht hatte, um sie als Tote ein weiteres Mal zu missbrauchen.

Handelt es sich eigentlich um eine Vergewaltigung, wenn die Frau bereits eine Leiche ist, fragte ich mich. Und überhaupt, kann eine Frau, die ihren Körper verkauft, vergewaltigt werden?

Lange starrte ich auf das Zeitungsbild des Doktors. Er blickte nett und ein wenig verlegen in die Kamera. Wer konnte ahnen, welche Abgründe sich hinter der unauffälligen Fassade verbargen?

Ich lächelte dem Konterfei zu - mit zusammengepressten Lippen, wie ich es mir als Kind angewöhnt hatte. Auch nachdem ich die Hasenzähne hatte ziehen lassen, hielt ich meinen Mund beim Lachen geschlossen. Zwar sehe ich vermutlich besser aus, aber zu meiner großen Enttäuschung brachten mir die Kunstzähne nichts. Ich fühlte mich genauso hässlich wie vorher.

Der Hautarzt war ein Mörder. Seine Opfer hatte er entsetzlich zugerichtet. Zerstückelt worden seien sie, hieß es. Ich stellte mir vor, wie er es tat. Blut sah ich und ein großes Küchenmesser. Das Messer war scharf. Bewegte man es ein wenig, sprang die Haut auf. Zuerst blieb sie weißlich. Dann traten Bluttropfen hervor. Ein Rinnsal entstand. Woran erinnerte es?

Ein lauter Knall riss mich hoch. Erschrocken blickte ich mich um. Der Wind hatte das Fenster aufgestoßen. Eine Tasse war heruntergefallen. Ich wusste nicht, wie sie auf die Fensterbank geraten war. Die Zeitung war auf den Boden gerutscht. Ich hatte geträumt.

Mein Körper war gereizt bis an den Rand einer Explosion. Mit der Hand drückte ich beinahe brutal zu und löste das wunderbare Gefühl aus.

Als ich mich wieder entspannte, verdrängte ich jeden beunruhigenden Gedanken. Ich hatte geträumt. Sonst war nichts geschehen. Doch das Bild von dem Messer, das die Haut ritzt, suchte mich heim. Es ließ mich nicht los und verstörte mich. Was hatte das Küchenmesser mit mir zu tun? Warum erregte mich der Schnitt auf der Haut, der zögerlich blutet?

Mein Herz klopfte spürbar. Mein Puls flog. Mein Kopf fühlte sich leer an. Ich konnte nicht ergründen, was mir geschah.

Das Koma hatte keine Erinnerungslücken hinterlassen.

Oder doch? Wusste ich wirklich alles, was gewesen war?

Ein Mensch über Fünfzig kann nicht mehr beliebig jedes Ereignis aus seinem Gedächtnis hervorkramen.

Ich bildete mir ein, alles über mich zu wissen. Aber wenn ich jetzt an den sommersprossigen Jungen dachte, der mit seiner Familie in der Kellerwohnung unter Blaugrüns hauste, verschwamm das Bild im Nebel. Warum fiel mir der unscheinbare Knabe ein?

Angestrengt versuchte ich mich zu erinnern. Ich wusste nicht, weshalb mir das wichtig erschien, geradezu lebenswichtig.

Doktor Blaugrün, der Medizinmann, deckte alles zu. Er schirmte mich ab, streng, mit drohender Gebärde. Unvermittelt hörte ich seine Stimme dröhnen: „Lass das, Beate! Tu das nie wieder!“ Das Nie klang langgezogen, als wollte es nie aufhören.

Blaugrün hatte mein Leben im Griff, sogar über den Tod hinaus. Bis ich nicht mehr hatte leben wollen unter seiner ungnädigen Fuchtel!

Mein Vater hatte mir vieles verboten. Unerbittlich mischte er sich ein. In der Schule beneidete mich niemand um den strengen Doktor. Geschrien hat er selten. Mit hochrotem Kopf „Tu das NIE wieder!“ gebrüllt hatte er vermutlich nur ein einziges Mal.

So sehr ich auch grübelte, ich konnte das Grau nicht durchdringen. Stattdessen spürte ich fast schmerzhaft eine Leere im Hirn. Es ist das Koma, dachte ich. Oder der geistige Abbau im Alter beginnt bereits.

Falls ich nicht erinnerte, was sich damals abgespielt hatte, würde es für immer verhüllt bleiben. Geschwister besaß ich nicht. Die Eltern waren tot. Nahe Verwandte gab es nicht hier in der Stadt. Auch keine entfernten. Die lebten seit Jahrzehnten in fernen Welten.

Ich streichelte mich. So konnte ich das Unbehagen verdrängen. Später malte ich mir meinen Traummann aus und stellte mich mutig dem Gedanken an sein Glied.

Ist einer bewusstlos - so dachte ich aus welchem Grund auch immer -, kann eine Frau wenig mit ihm anfangen. Hingegen vergeht sich mancher Mann sogar an einer toten Frau.

Zwar sah man in der Ehemaligen die Gleichberechtigung als verwirklicht an, aber biologisch gesehen waren Frauen in einer wichtigen Hinsicht benachteiligt.

Meine Theorie erschien mir überzeugend. Ich konzentrierte mich erneut auf angenehme Dinge, die ich mit kleinen Bewegungen untermalte.

Wie ein Engel auf Erden

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