Читать книгу Wie ein Engel auf Erden - Hannelore Kleinschmid - Страница 3
2.
ОглавлениеZunächst landete ich im Irrenhaus.
„Du gehörst nach Pfaffi!“ war eine der übelsten Beschimpfungen meiner Kindertage gewesen. „Von den Idioten dort“ redeten die Leute, wenn sie die Patienten der Nervenheilanstalt Pfaffenroda meinten. Die braven Bürger schämten sich auch als Genossen der „Klapsmühle“, zu der die Kranken, Lahmen und Bedürftigen des ganzen Bezirkes in unsere Stadt gebracht wurden. Naja, in ihren Randbereich. Bereits im vergangenen Jahrhundert hatte man die Backsteinhäuser und -Villen hinter einer hohen Mauer verborgen, die mit Glasscherben und Stacheldraht obenauf in den bösen tausend und den nachfolgenden rosaroten Jahren von Büschen und Bäumen überwuchert wurde. Um die Anstalt zog sich parkähnliches Gelände, das dank des Mangels an Arbeitskräften den allmählichen Übergang vom sozialistischen Gärtnereiwesen zum Urwald veranschaulichte. Der Ort blieb tabuisiert, obgleich er fußläufig vom Stadtzentrum entfernt war.
Als Kinder wagten wir uns gelegentlich bis in die Nähe der Mauer, und die erhoffte Begegnung mit einem Patienten jagte schon vorab eine Gänsehaut über den Rücken. Bei unzähligen Geschichten über Geisteskranke gruselte es uns wunderbar.
Behutsam versuchte Karin, mich auf die Zeit in der Irrenanstalt vorzubereiten. Die Medizinmänner und -frauen priesen das wunderbare Wunder und meinten mich. Sie zogen im Laufe der Zeit alle Schläuche aus mir heraus und erklärten meine Körperfunktionen für weitestgehend normal. Dass ich mich nur unzureichend bewegen und gar nicht laufen konnte, schien nur mir unangenehm aufzufallen. Keiner störte sich daran, dass mein Mund stumm blieb. Oder doch? Warum wollte man mich in die Klapse abschieben?
Ich traute meinen Ohren nicht, als Karin, ohne zu stottern, vom Rehabilitationszentrum Pfaffenroda sprach und die Wendungen erklärte, die die Nervenheilanstalt vollbracht habe, um zu überleben. Meine grauen Zellen hatten dereinst gelernt, dass Kliniken zum Überleben von Patienten da sind und nicht umgekehrt die Patienten für das Überleben der Kliniken. Doch ich stufte diesen Gedanken als rückwärtsgewandt ein. Er war wohl sozialistisch geprägt.
„Pfaffi!“ dachte ich und ließ über mich ergehen, was ich nicht verhindern konnte. Zu meinen Lebenserfahrungen gehört, dass man als Patient so gut wie nichts verhindern kann. Es gibt keinen Zustand, in dem der Mensch mehr ausgeliefert ist.
Zum Abschied legte mich das Krankenhauspersonal auf eine Trage, und die Sanitäter schnallten mich fest, weil das den Vorschriften entspricht, wie mir erklärt wurde, obgleich ich nicht gefragt hatte.
Ohrensausen zeigte mir, wie sehr ich mich aufregte entgegen meiner Absicht, gelassen zu sein. Unter dem Torbogen der Heilanstalt, den ich vom Krankenwagen aus nicht sehen konnte, schwanden mir die Sinne, während der Fahrer mit dem Pförtner verhandelte und der Schlagbaum geöffnet wurde. Mein Kopfinneres fiel in Ohnmacht. Mein angeschnallter Körper fiel nicht, er blieb liegen.
„Aber das Kind ist nicht verrückt!“ Ich hörte die erregte Stimme meines Vaters.
„Das sagen sie alle.“ wurde energisch erwidert. „Alle Eltern sagen das!“
„Ich bin Arzt, und ich sage Ihnen, dass meine Tochter nicht geisteskrank ist.“ Mein Vater brüllte so laut, dass ich mich am liebsten verkrochen hätte.