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Hundert Westmark hatte mir Karin ins Portemonnaie gesteckt. Alles Gute hatte sie mir mütterlich gewünscht und verlangt, dass ich am Sonntagnachmittag zum Kaffeetrinken komme. Ein Pionierehrenwort musste ich ihr nicht geben.

Gegen meinen Willen war ich aufgeregt. Viel Auswahl hatte ich beim Anziehen nicht. Schwarz erschien mir geeignet, da es unauffällig ist. Schwarze Hose, schwarzer Pullover und eine dunkelgraue Jacke, die am treffendsten als DDR-Parka beschrieben werden dürfte, zog ich an. Draußen herrschte mildes Maiwetter. Ab und zu tröpfelte es. Die Sonne machte sich rar. Da kein kalter Wind wehte, war es ein angenehmer Tag. Vom Wetter her.

Ich hatte mir eine schwarze Baskenmütze aufgesetzt. Meine ungefärbten Haare sahen mit dem Nullachtfünfzehn-Schnitt von einem Frisör, der scherenklappernd von Zeit zu Zeit die Patienten scherte, so trostlos aus wie mein ganzes Ich. Angesichts dessen konnte die Mütze meines Vaters nichts verderben. Meinem Spiegelbild zog ich eine Fratze und setzte eine Sonnenbrille auf. Die Farbe der Gläser drohte zum Gradmesser meiner Stimmung zu werden. Ein so miesepetriges Gefühl durfte ich nicht zulassen. Aber ich wusste nicht, was ich dagegen tun sollte. Als ich den Gehstock nahm, den mir das Krankenhaus zur Verfügung gestellt hatte, verlor ich jeglichen Antrieb. Ich warf mich aufs Bett.

Zu meinem Leidwesen wurde an die Tür geklopft. Ich drehte mich zur Wand und reagierte nicht. Es war die kleine Hilfsschwester, die sich ausnahmsweise bemerkbar gemacht hatte. Sie sagte: "Ach nee!" und entschwand.

Ich gönnte mir noch einige Minuten auf dem Bett und dachte an Vormüller. Mit der Zeit fühlte ich mich besser und hätte fast einen lustvollen Laut von mir gegeben. So gestärkt, stand ich auf und blickte am Spiegel vorbei.

Ich stakste ungelenk durch die Korridore, die vertraut nach DDR rochen, was ich noch nie wahrgenommen hatte. Mit dem Stock konnte ich nicht umgehen. Mir fehlte die Übung. Ich brauchte ihn nicht, um meine Füße Schritt für Schritt zu bewegen, sondern weil mein Gleichgewichtssinn verrutscht war und ich gelegentlich schwankte, als sei ich betrunken. Zu Übungszwecken stapfte ich eine Runde um das Gebäude. Danach begab ich mich schnurstracks - in Maßen jedenfalls - aus dem sicheren Gelände auf die freie Wildbahn.

Zuerst sah ich vornehmlich auf das Pflaster. Von Zeit zu Zeit blieb ich stehen, um vom ungewohnten Tun auszuruhen. Während dieser Atempausen sah ich mich um. Ich war ganz sicher, dass auf der einen Seite der Ernst-Thälmann-Straße früher keine Häuser gestanden hatten. Jetzt hieß sie Kasseler Straße, und die neuen Häuser machten jeden Glasermeister glücklich. Stellenweise gab es Gehwege, auf denen die Augen den Füßen nicht wie ehemals zu helfen brauchten. Kaum schritt man froh dahin, folgte allerdings wieder ein Stolperstück.

Wo die Schaufenster nicht blind und mit "Zu vermieten"-Aufklebern versehen waren, kam ich mir vor wie im Westen. So jedenfalls hatte ich mir den Westen früher vorgestellt. Bunte Auslagen mit lauter Namen aus der Werbung.

Während ich ohne Bewusstsein dagelegen hatte, war der Westen über uns gekommen!

Als ich einen Bettler sitzen sah, wusste ich, dass ich recht hatte: Der Westen war über uns gekommen.

Ich hatte einen großen Fehler gemacht, indem ich weder Notizzettel noch Stift eingesteckt hatte. Über diesen falschen Stolz ärgerte ich mich und beschloss, beides zu kaufen. Irgendwann musste ich schließlich einen Versuchsballon starten und mit Westmark einkaufen. Also ging ich dahin, wo früher ein Konsum hartes Papier angeboten hatte, dessen hölzernes Vorleben sichtbar blieb. Den Platz hatte jedoch ein Imbissstand erobert. Nun machte ich mich auf den Weg zum früheren Centrum-Warenhaus. Plötzlich erschrak ich so heftig, dass ich an eine Ohnmacht dachte. Auf der anderen Straßenseite kam mir in der Fußgängerzone, die sich von der Grotewohl-Straße in den Steinweg verwandelt hatte, eine frühere Arbeitskollegin vom Bahnhof entgegen. Ich betete, nicht erkannt zu werden. Es klappte. Vermutlich würde es fast immer klappen, weil niemand mit meinem Auftauchen rechnete. Wer damals von meiner missglückten Aktion und dem Koma erfahren hatte, erwartete nicht, mir auf der Straße zu begegnen. Während ich mich beruhigte, war die ehemalige Kollegin vorbeigegangen.

Aus dem sozialistischen Warenhaus war ein kapitalistischer Konsumtempel geworden namens Herstadt-Kaufhaus.

Dort ging es mir überhaupt nicht gut. Verwirrt stapfte ich mit dem Korb in der einen und dem Stock in der anderen Hand an Regalen vorbei und verlor die Übersicht. Besser gesagt, gewann ich sie gar nicht erst. Als sich der Boden zu drehen begann, lehnte ich mich an einen Wühltisch. "Sie stehen im Weg." blaffte mich ein Mann an. Ich taumelte gehorsam einige Schritte zur Seite. "Komm" sagte ein dickbäuchiger Mann zu seiner Frau, "die ist besoffen. Gehen wir!" Ich ließ den Korb fallen und hielt mich am Regal fest. Ein bunte Kartonpyramide widerstand meinen Bemühungen, auf den Beinen zu bleiben, nicht. "Was machen Sie denn da! Können Sie nicht aufpassen!" schimpfte eine Verkäuferin. Ich fühlte mich unversehens in vertrauter Umgebung. Trotz des bunten Angebots waren die Menschen dieselben geblieben: Eine Menschengemeinschaft im Ausmeckern - das dachte ich aber erst viel später im Bett.

Ich nahm mich zusammen, um bei der Flucht nach draußen nicht panisch mit dem Stock um mich zu schlagen. Unvermittelt stand ich wieder bei dem Bettler. Da mir schlecht war, weil ich auch früher schon in Kaufhäusern Zustände bekommen hatte, setzte ich mich mit dem Rücken an die Wand neben ihn.

"Waswillsten? MeinPlatzhier!" knurrte er. Ich drehte ihm mein Gesicht zu, deutete mit dem Finger auf meinen Mund, bewegte die Lippen, als wollte ich etwas sagen, und schüttelte den Kopf. Ich weiß nicht, ob er verstanden hatte. Es war mir egal. Um keinen Preis wollte ich mich anbiedern. Er grinste und reichte mir die Rotweinflasche, nachdem er selbst einen kräftigen Zug gemacht hatte. Sein schmutziges Gesicht mit den Bartstoppeln sah jung aus. Im Vergleich zu mir! Vielleicht Mitte Dreißig, dachte ich.

Mein Hintern wurde kalt auf den Steinplatten. Ich atmete auf, als mir das Wort "ratlos" einfiel. Ich war ratlos. Aber ich wollte nicht unglücklich sein oder verzweifelt. Also nahm ich einen großen Schluck aus der Rotweinflasche. Das letzte Mal hatte ich im vorigen Dasein Alkohol getrunken. Deshalb stieg er mir direkt in den Kopf, was ich angenehm fand. Lächelnd nickte ich dem Mann zu und gab die Flasche zurück.

Zum ersten Mal wagte ich, den Blick über die Kniehöhe der vorbeigehenden Leute zu heben. Zufrieden stellte ich fest, dass sie über uns hinwegsahen. Ich entspannte mich und nahm auch beim zweiten Mal die dargebotene Flasche an. Der Wein stieg ins Hirn und ließ den Hintern kalt. So musste ich handeln, wenn ich keinen Schnupfen bekommen wollte. Kurzentschlossen fasste ich nach der Hand des Mannes, ließ den Stock einen Augenblick lang los und nestelte die hundert Mark West aus Geld- und Jackentasche. Nachdem ich sie ihm gezeigt hatte, steckte ich sie wieder ein. Mit Hilfe des Stockes stand ich auf. Das war immerhin eine so schwierige Aktion, dass ich die Hand loslassen musste. Auf den Füßen angelangt und auf den Stock gestützt, hielt ich dem Bettler meine Hand wieder hin. Unerwartet landete die Rotweinflasche darin. Ich trank mir Mut an mit einem weiteren Schluck und ging mit der Flasche in der Hand davon. Mit einem Schrei und einem Riesensatz folgte mir der Mann, wie ich beabsichtigt hatte. Nickend und lächelnd gab ich ihm die Flasche zurück. Noch einmal zeigte ich ihm die hundert Mark und musste nicht allein in meine Wohnung wanken.

Wie ein Engel auf Erden

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