Читать книгу Wie ein Engel auf Erden - Hannelore Kleinschmid - Страница 5
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ОглавлениеAls Karin mich nach dem ersten Besuch in meiner Wohnung wieder nach Pfaffi fuhr, starrte ich aus dem Fenster, schweigend, wie es meine neue Art war. In der Beziehung zu Karin fiel das nicht weiter auf. Wenn ich mich auf den Erinnerungspfad in die DDR begebe, höre ich Karin reden, sehe mich von Zeit zu Zeit nicken und zu einem wehleidigen Aber ansetzen, dem selten ein vollständiger Satz folgte.
Im Laufe unserer Bekanntschaft wurde ich zu ihrem dritten Kind. Darin lag wohl der wahre Grund für unsere wunderbare Freundschaft. Das Mutter-Kind-Verhältnis war der Leim für unsere Bindung. Dabei war sie, seitdem ich sie kannte, nicht nur Hausfrau und Mutter, sondern zusätzlich für das Wohl und Wehe einer ganzen sozialistischen Kinderkombination zuständig, die Krippe und Kindergarten vereinte in einem Bauwerk, wie es sich überall in der Republik zweckgebunden wiederfand.
In Karins Herz war so viel Raum, dass sie mich im zarten Alter von vierzig Jahren als Vollwaise in ihren Familienkreis aufnahm.
Wir liefen zusammen. Wir joggten hintereinander her oder nebeneinander, und es war die schönste Zeit in meinem Leben. In meinem ersten Leben, füge ich zur Unterscheidung hinzu, denn das neugewonnene soll - wie ich mir selbst dauernd denke - nichts als genussreiche Zeiten bringen. Die Depressionen schicke ich sonst wohin, lasse sie den Bach runter und allein in die Hölle gehen. Im neuen Leben schlucke ich alle Pillen, derer ich habhaft werden kann. Wenn sie mir zu rosiger Stimmung verhelfen, muss nicht eine einzige von ihnen durch die Abflussrohre in die Kanalisation schwimmen.
Dass ich mit Karin joggte, machte Fritz zwar manchmal eifersüchtig - sofern ein wortkarger Mann das überhaupt zu zeigen vermag -, in mir weckte der Dauerlauf jedoch Begeisterungsschübe. Übrigens bin ich keineswegs lesbisch. So zu denken, wäre falsch. Unter Karins Fittichen war ich zehn Jahre lang Kind und durfte es sein! Mehr war da nicht. Das schwöre ich.
Bei dieser ersten Ausfahrt wurde mir nicht klar, ob Erinnerungslücken oder die Veränderung der Welt bewirkten, dass ich mich fremd fühlte. Energisch musste ich mich gegen die Angst wehren, die sich ausbreiten wollte und hohnlachend all meine Hoffnungen auszulöschen drohte, ich nähme von nun an das Leben auf die leichte Schulter.
"Na, erkennst du die alte Stadt wieder?" fragte Karin plötzlich. "Hat sie sich seit der Wende nicht mächtig verändert?" Ein hilfloses Lächeln erschien mir als Antwort angebracht.