Читать книгу Wie ein Engel auf Erden - Hannelore Kleinschmid - Страница 15

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Als Karin an mir rüttelte, tauchte ich wie aus einem Koma auf.

Mit Bedacht wähle ich den Vergleich.

Es dauerte eine Weile, bis ich mich orientierte. Erstaunlicherweise lag ich in meinem Bett. Mein Kopf fühlte sich an wie eine Wattekugel. Warum war Karin hier? Was bedeutete das aufgeregte Schütteln und nervöse Reden?

Ich versuchte herauszufinden, was geschehen war. Vage begann ich mich zu erinnern. In meinem Wohnzimmer lag ein nackter Mann auf der Couch. Ich war mit einem Bettler und seiner Rotweinflasche hierhergekommen. Inzwischen hätte ich längst nach Pfaffi zurückkehren müssen. Vermutlich war Karin deswegen herbeigeeilt. Scham stieg in mir auf, die sich allerdings mit angenehmen Gefühlen verband. Unter Karins Redeschwall kam ich mir wie ein ertappter Pennäler vor.

In der Erweiterten Oberschule hatte ich mich immer ertappt gefühlt, wenn der Pauker die Stimme hob. Ich errötete bis an die Haarwurzeln, obwohl ich nie schuld und fast nie gemeint war. Sprach mich der Lehrer an, senkte ich den Kopf und stotterte. Dafür erntete ich mitleidige Blicke. Nie erfüllte ich die Erwartungen anderer. So empfand ich es jedenfalls. Dass meine Ansprüche an mich selbst zu hoch waren, weil sie sich mit denen meines Vaters deckten, konnten mir weder gutmeinende Lehrer noch die wenigen Wohlgesinnten klarmachen.

Mein Vater war stadtbekannt. In den fünfziger Jahren wurden die Honoratioren alten Stils noch nicht gänzlich von Parteifunktionären verdrängt. Ärzte galten auch unter den Kommunismus-Gläubigen als Götter in Weiß. Herr Doktor Blaugrün genoss das sichtlich. Er ließ sich auf die neuen Herren ein. Sie dankten es ihm, indem er zum stellvertretenden Chef der Poliklinik aufstieg. Zeitgleich beantragte er das Mitgliedsbuch der SED. Meine Mutter kritisierte seinen Karrierismus.

Die beiden stritten, wobei Irene Blaugrün, geborene Schwetzinger, die neutrale Österreicherin herauskehrte, die sich nicht kaufen ließ. In Linz geboren und aufgewachsen, kam sie als junge Frau noch vor ihrem Land heim ins Reich und zu meinem Vater, so dass sie 1949 ohne Wenn und Aber DDR-Bürgerin wurde. Seit dem Mauerbau, den sie um vier Jahre überlebte, sah sie ihre Heimat nicht wieder.

Meine Mutter brachte österreichische Begriffe in unser Familienleben. Vergebens, aber unermüdlich fragte sie im Laden nach Karfiol und Paradeisern. Dabei gab es im Konsum gelegentlich sogar Blumenkohl oder Tomaten. Zu Hause wurden Palatschinken, Schmarrn und Nockerl zubereitet, und stets führte eine Bedienerin den Haushalt.

Alles in allem mischte sich Mutter wenig in das Leben anderer ein. Zu den anderen gehörte auch ich, ihre Tochter, von der alle Welt annahm, sie sei ein verhätscheltes Einzelkind. In meiner Erinnerung tritt die Mutter als freundliche Frau auf, die sich oft leidend in ein abgedunkeltes Zimmer zurückzog. In Gedanken schien sie ausdauernder im fernen Österreich zu weilen als bei uns. Ich vermute, dass sie, auf die Vierzig zugehend, nur ihrem Mann zuliebe ein Kind bekam.

Irene Blaugrün blieb eine Fremde, die fremden Dialekt sprach und die Blicke der Mitmenschen auf sich zog. Mir war es peinlich, wenn sie angestarrt wurde. Ich glaube, sie hat nie bemerkt, dass hinter ihrem Rücken getuschelt wurde, sie sei die komische Frau vom Doktor. Jedenfalls wollte das Kind an ihrer Hand im Erdboden versinken, während sie geistesabwesend dahinschritt.

Beim Blick zurück erscheint mir die Schule als Ort des Schreckens, wenngleich ich eine durchschnittliche Schülerin war.

Nach der achten Klasse durfte zur Erweiterten Oberschule wechseln, wer sich zusätzlich zu guten Leistungen für den Sozialismus engagierte. Arbeiterkinder wurden bevorzugt. Vor dem Mauerbau erhielten auch Ärzte zeitweise Privilegien, damit sie sich nicht in den Westen absetzten. So ebnete mir Vitamin B wie Beziehungen den Weg zum Abitur. Ich dachte damals, dass mich deswegen alle verachten müssten.

Jetzt war ich verachtenswert, weil ein nackter Mann auf meiner Couch schnarchte.

"Was hast du dir eigentlich gedacht," fragte mit Erzieherstimme Karin, "dass du hier einpennst.“

Ich schloss die Augen. Die Stimme wurde noch strenger:

"Ahnst du, was für Gedanken wir uns alle gemacht haben?"

Ich öffnete die Augen.

"Auf dem Weg hierher bin ich fast verrückt geworden." klagte Karin, ohne dass ich mich um ihren Geisteszustand sorgte. Sie war viel zu vernünftig und beherrscht, um je Zweifel an ihrem Verstand zu wecken.

"Du musst vernünftig sein." sagte sie, noch immer über mich gebeugt. Es erleichterte mich, nicht antworten zu müssen. Ich ließ die Augen offen und wartete, was weiter geschähe. Die Moralpredigt dauerte an, ohne dass mein Besucher erwähnt wurde. Ich begann zu hoffen, er habe die Wohnung rechtzeitig verlassen. Mir fiel auf, wie sehr ich noch immer dazu neigte, mein Verhalten erklären zu wollen. Dabei durfte ich tun und lassen, was mir gefiel. Niemandem war ich Rechenschaft schuldig. Immerhin war ich schon ziemlich lange erwachsen und überdies ein medizinisches Wunder, das niemandem mehr Rede zu stehen brauchte in diesem Leben.

Der Hunderter war verschwunden, meine Hausbar leergeräumt. Eine Reisetasche aus Kunstleder fehlte oben vom Kleiderschrank. Gottseidank fehlten auch mein Begleiter und seine Klamotten. Karin wunderte sich einige Sätze lang, warum ich zwei Gläser, zwei Bestecke und zwei Teller benutzt hatte. Über die Unordnung im Bad und in der Küche äußerte sie hingegen kein Wort. Vom Verlust des Westgeldes erwähnte ich nichts und schrieb auch sonst nichts auf.

Wie ein Engel auf Erden

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