Читать книгу Tatort Hunsrück, Sammelband 2 - Hannes Wildecker - Страница 10
6. Kapitel
ОглавлениеEs wurde spät an diesem Abend und Lisa schlief schon, als ich nach Hause kam. Ich legte mich ebenfalls zu Bett, doch ich fand keinen Schlaf. Mir gingen immer wieder die Bilder dieser grausamen Tat durch den Kopf. Was hatte der Täter für ein Motiv, so etwas zu tun? Dass man aus Rache, Eifersucht oder Habgier mordete, das kam auch in unseren Gefilden oft genug vor. Aber diese Tatausführung musste einen besonderen Hintergrund haben. Welchen nur? Ohne den Hinweis auf ein Motiv würden wir es sehr schwer haben, Schlüsse zu ziehen.
Ich bedauerte insgeheim Wittenstein, der dem Hagel der Fragen durch die Presse und dem Drängen der Staatsanwaltschaft permanent ausgesetzt sein würde.
Es hatte keinen Sinn, mich im Bett herumzuwälzen. Ich stand auf und setzte mich im Wohnzimmer vor den Fernseher. Es war inzwischen vier Uhr morgens. Ich überlegte, ob ich mit etwas Alkoholischem der Bettschwere etwas nachhelfen sollte, unterließ das aber. Irgendwann schlief ich dann doch ein, begleitet von den monotonen Melodien einer endlos wirkenden Weltraumbetrachtung via Satellit.
Das Telefon riss mich aus tiefstem Schlaf. Ich sah auf die Uhr. Es war kurz vor Sieben.
„Hallo Heiner!“ Es war Lenis Stimme. „Du wirst es nicht glauben. Wir haben schon wieder einen Toten. Gleiche Arbeitsweise, offensichtlich derselbe Täter. Ein Förster hat ihn gegen Sechs gefunden.
„Wieder am ‚Tirolerstein’?“ Ich rieb mir die Augen und versuchte, einigermaßen klar zu denken.
„Nein, ‚Lindenstein’ heißt dieses Wegekreuz oder Bildstock, oder wie man das Denkmal auch nennen möchte. Liegt gleich hinter Hermeskeil, auf der Strecke, die nach Nonnweiler führt. Kennst du dich da aus?“
„Nicht besonders gut. Wieso bist du schon im Dienst?“
„Der Kriminaldauerdienst hat mich verständigt. Der Erkennungsdienst ist schon unterwegs zum Tatort. Auch die Kollegen von der Polizeiinspektion Hermeskeil zur Absicherung des Tatortes. Du musst jetzt nichts überstürzen. Warte, bis ich bei dir bin! Wir fahren dann zusammen weiter.“
Ich konnte es nicht fassen. Da machte einer ganze Arbeit. Einer, dessen Hirn krank sein musste. Jemand, der in einer anderen Welt lebte. Was ging in einem solchen Menschen vor? Was veranlasste ihn zu solchen Taten?
Das erneute Klingeln des Telefons riss mich aus meinen Gedanken. Es war Wittenstein.
„Spürmann, Frau Schiffmann hat Sie ja inzwischen über den erneuten Mord informiert. So wie ich die Sache sehe, kann das doch nur derselbe Täter sein.“
„Oder eine Täterin!“, warf ich ein.
„Ja. Ja, wie auch immer. Kommen Sie bitte nach der Tatortaufnahme ins Präsidium. Ich werde eine Besprechung des gesamten Dezernates Kapitalverbrechen einberufen. Sie werden eine Mannschaft um sich brauchen.“
„Heute ist Sonntag, da werden Sie nicht viele Kollegen erreichen.“
„Das werden wir sehen. Sie als Sachbearbeiter brauche ich auf jeden Fall. Und natürlich Frau Schiffmann.“
„In Ordnung, Chef! Wir werden da sein!“
Wittenstein hatte Recht. Vielleicht waren die beiden Taten der Beginn einer Mordserie. Dann würde ich für jede Unterstützung dankbar sein
„Was ist denn hier schon am frühen Morgen los?“
Lisa stand in der Schlafzimmertür und reckte sich. Dabei hob sich ihr kurzes Negligee einige Zentimeter und ich war geneigt, Tatort Tatort sein zu lassen. Doch ich fing mich sofort wieder und ging auf Lisa zu. Ich nahm sie in den Arm und knabberte an ihrem Ohrläppchen.
„Ich muss weg, Lisa“, sagte ich leise und hörte selbst, wie enttäuscht es klang. „Es hat wieder einen Toten gegeben. Die gleiche Arbeitsweise wie vorgestern Abend. Du brauchst nicht mit dem Essen zu warten. Es wird wieder einmal spät werden.“
„Was ist mit deinem Haus? Wenn du so weitermachst, hat es einen anderen Käufer gefunden.“
Ich zuckte die Achseln. Das konnte natürlich passieren. Aber vielleicht bekam ich zwischendurch doch noch ein paar Minuten Zeit, um mich darum zu kümmern. Leni würde gleich eintreffen.
„Trink noch schnell eine Tasse Kaffee, so viel Zeit muss doch noch sein!“, sagte Lisa und goss heißes Wasser über das Kaffeepulver in der Tasse.
Ich hing schon wieder meinen Gedanken nach. Es war einfach unfassbar. Einen solchen Mord, in der Art und Weise, wie es heute Nacht offensichtlich zum zweiten Mal geschehen war, beging man entweder einmal oder es wurde eine Serie daraus. Ich hatte da so meine Theorie.
Meiner ersten Theorie würde ich das Motiv der Eifersucht zuordnen. Wenn dem so wäre, ein gehörnter Ehemann würde aber nicht auf eine solche Art und Weise vorgehen. Er würde seinen Rivalen entweder zur Rede stellen, um ihn dann auf eine konventionelle Art ins Jenseits befördern. Er würde ihn erschießen, erschlagen, von einer Brücke werfen oder etwas Ähnliches tun, nichts Spektakuläres, nur Effektivität würde zählen.
Ich wandte in meinen Vorstellungen diese erste Theorie auf eine Frau als Täterin an. Wie würde eine Frau vorgehen? Es käme sicherlich auf das Motiv an. Eifersucht? Da fiele mir Gift ein, eine typische Frauenwaffe, ein. Im schlimmsten Fall konnte ich mir auch vorstellen, dass eine Frau dieser Art von Verstümmelung fähig ist. Aber im vorliegenden Fall? Nein, diese Kraft konnte keine Frau aufbringen! Gut, sie hätte Helfer haben können! Aber es wäre bei dem einen Fall geblieben. Das Frauenmotiv wäre nach dem ersten Mord erloschen, alles andere würde zur Unlogik mutieren.
Nein, hier war ein Mann am Werk, vielleicht waren es auch mehrere. Mehrere? Nein, das glaubte ich nicht. Was hatten mehrere Männer für ein Motiv, eine derartige Tat zu begehen? Nein, wenn es eine Mordserie würde, und danach sah es tatsächlich aus, dann könnte man sich schon an den Untaten der Vergangenheit orientieren. Jack the Ripper war ein Einzeltäter, zumindest hatte es nie den Anhaltspunkt für eine weitere Täterschaft gegeben. Jack the Ripper war einer der wenigen, den ich mit der Grausamkeit der aktuellen Morde vergleichen konnte. Es war unvorstellbar. Ein Jack the Ripper hier im Hunsrück? Und es gab weitere Fragen. Warum das „Tirolerkreuz“, warum der „Lindenstein“, zu dem wir heute Morgen fahren würden?
Draußen hupte ein Auto. Drei Mal kurz. Das war Leni.
Lisa winkte mir kurz lächelnd zu und verschwand wieder im Schlafzimmer. Ich nahm noch einen Schluck Kaffee und schloss die Haustür hinter mir.
„Du hast ja heute Morgen alle Zeit der Welt!“, empfing mich Leni mit einem vorwurfsvollen Unterton. „Also, dieser zweite Mord, zu dem wir jetzt fahren, ist tatsächlich in seiner Ausführung identisch mit dem ersten, dem von Karl Leyenhofer. Aufgefunden wurde dieser Tote wiederum bei einem Wegekreuz. Was soll das bedeuten? Hast du inzwischen eine Ahnung?“
„Ich weiß es nicht, Leni. Ich weiß es nicht! Aber ich ahne etwas. Das wird nicht der letzte Mord dieser Art gewesen sein!“
„Unser Pressemann scheint auch verzweifelt zu sein. Sein Artikel heute war nicht sehr aufschlussreich für den Leser.“
Leni lenkte das Dienstfahrzeug des Präsidiums, eine Art Geländewagen, durch die Stadt Hermeskeil in Richtung Nonnweiler. Am Ortsausgang von Hermeskeil sahen wir schon zahlreiche Fahrzeuge am Straßenrand stehen. Wir brauchten niemanden mehr zu fragen und fuhren einfach einem Polizeifahrzeug nach, das nach links in den Wald einbog.
Schon nach rund zwanzig Metern hatten wir unser Ziel erreicht. Da stand er nun vor uns auf einer Lichtung im Epplerswald, an der Grenze zum Saarland, gerade noch in unserem Zuständigkeitsbereich: Der „Lindenstein“, ein rund zwei Meter hoher Sandstein-Obelisk, dessen Sockel etwa einen halben Meter über der Grasnarbe endete, um sich dann, gleich einer Messerklinge, nach oben zu verjüngen.
Viel war von dem Gedenkstein nicht zu sehen, denn die Kollegen der Spurensicherung mit ihren weißen Overalls verdeckten einen Teil des Steines und das, woran sie in Kniehöhe arbeiteten.
Zahlreiche Gaffer standen hinter der großräumig angelegten Absperrung des Tatortes und versuchten sensationshungrig einen Blick zu erhaschen. Doch die Kollegen machten es ihnen schwer. Nun schienen sie mit ihrer Arbeit fertig, denn sie legten mehrere Decken über den Toten, den Leni und ich bisher auch noch nicht zu Gesicht bekommen hatten.
Einer der Kollegen drehte sich zu uns um und wer konnte es schon anderes sein als Peters. Heinz Peters, der Tag und Nacht Dienst zu haben schien, so kam es mir jedenfalls vor, denn er war fast an jedem außergewöhnlichen Tatort präsent.
„Hallo, Ihr beiden. Da seid Ihr ja. Sieht stark danach aus, dass wir uns in Zukunft unter den gleichen Umständen wiedersehen werden. Zwei Tote innerhalb von zwei Tagen, an denen man eine Geschlechtsverpflanzung vorgenommen hat…“
Ich ignorierte seine Bemerkung. „Kannst du etwas über die Tatwaffe, ein Messer oder ähnliches, sagen. Ich meine, war es ein scharfer Schnitt oder ein stumpfer?“
„Du willst wissen, wie die Entmannung stattgefunden hat. Also, ich vermute, dass es ein sehr scharfes Messer war, vielleicht sogar ein Skalpell, aber das bleibt eine Vermutung. Wir sind mit unserer Arbeit fertig. Der Doktor hat die Leiche auch schon untersucht. Ist bereits wieder weg. Hat irgendetwas von einem dringenden Termin erzählt. Wie auch immer, den Totenschein hat er mir dagelassen.“
„Und?“ Ich bewegte den Kopf in die Richtung des abgedeckten Toten.
„Werdet ihr euch selbst ansehen müssen. Das gleiche Auffindungsprofil wie bei dem Toten in der Nähe von Neuhütten.“
„Ist schon etwas über den Toten bekannt?“
„Nein.“ Peters schüttelte den Kopf. Dürfte so um die Fünfzig gewesen sein, schätze ich. Hatte keine Papiere bei sich, das heißt, in seiner Kleidung wurden überhaupt keine persönlichen Sachen gefunden. Der Täter scheint an jede Kleinigkeit zu denken. Ich habe dem Mann vorsorglich Fingerabdrücke abgenommen. Werde sie heute noch dem LKA weiterleiten. In einem solchen Fall kann man nur hoffen, dass es irgendwann eine erkennungsdienstliche Behandlung gegeben hat“
„Spuren?“
„Zertrampeltes Gras. Ach, ja, die Hände sind auch wieder mit dem gleichen Panzerband gefesselt. Auf der Erde, vor der Leiche, lag auch ein Stück davon. Zehn Zentimeter lang etwa.“
„Offensichtlich wurde dem Opfer der Mund zugeklebt. Leni, kümmerst du dich um den Leichenwagen.“
„Nicht nötig, haben die Kollegen von der PI bereits veranlasst“, sagte Peters. „So, jetzt gehört euch die Leiche alleine. Unsere Arbeit ist getan. Fotos und Spurenbericht bekommst du wie immer.“
„Wir sehen uns nachher sowieso. Wittenstein hat eine Dringlichkeitssitzung einberufen, wird man dir auch noch sagen. Bis dann.“ Dann fiel mir noch etwas ein. „Wann, sagte der Arzt war die Todeszeit?“
„Steht hier drauf.“ Peters übergab mir die Todesbescheinigung und trottete mit seinen Kollegen von dannen, zu seinem Fahrzeug, das er hinter dem Pulk der etwa zehn Meter entfernt stehenden Neugierigen geparkt hatte. Meine Blicke folgten ihm noch eine kurze Weile und wanderten dann über die neugierige Menge. Und dann sah ich sie, die dunkelblaue Basecap. Die Filzlaus! Steiner! Hatte der Mensch immer Dienst? Es war Sonntag!
Ich erkannte, wie er mit dem Teleobjektiv Aufnahmen vom Tatort machte und musste innerlich grinsen. Viel konnte dabei nicht herauskommen. Ein Wegekreuz mit einem unter Decken liegenden Bündel.
Leni hatte inzwischen mit der Tatortarbeit begonnen, das heißt, mit der Tatortaufnahme. Sie sprach alle Einzelheiten der Tatortsituation in ihr Diktaphon und musste natürlich auch die Lage und die Fundsituation der Leiche beschreiben. Ich hob dabei eine der Decken an, die Peters über die Leiche gelegt hatte.
Beim Anblick des Toten lief es mir eiskalt den Rücken hinunter. Vor mir kniete ein Mann, die Altersschätzung von Peters konnte ich bestätigen, in seinem Blut. Die Hose war herabgelassen und lag auf der Erde, um seine Knie und war blutdurchtränkt. Auch diesem Mann fehlte das Geschlechtsteil und ohne hinzusehen wusste ich, wo es sich befand, nämlich genau unterhalb seines riesigen, nach oben gezwirbelten Schnurrbartes, der die Prozedur offensichtlich Dank einer Intensivfestigung schadlos überstanden hatte.
Die Beine waren leicht gespreizt und beide Knöchel mit Klebeband versehen, das hinter dem „Lindenstein“ zusammengeknotet war. Das gleiche hatte man mit seinen Armen gemacht. Der Mann hatte keine Möglichkeit gehabt, sich zu wehren. Zumindest nicht in diesem Zustand. Unter welchen Umständen er hierher gelangt war, das mussten die Ermittlungen ergeben.
Auch diesem Toten stand der Schrecken ins Gesicht geschrieben. Die blutunterlaufenen Augen waren aus dem Kopf getreten, Schmerz, Angst und das Grauen hatten sein Gesicht gezeichnet. Der Tod musste für ihn eine Erlösung gewesen sein.
Ich legte die Decke wieder über die Leiche und sah Leni an, die während der gesamten Zeit, als ich die Decke hochhielt, ihre Feststellungen in das Diktiergerät sprach.
Der Förster, der die Leiche gefunden hatte, stand abwartend in der Nähe. Ich ging auf ihn zu.
„Haben Sie außer dem Toten etwas Ungewöhnliches feststellen können?“, fragte ich den Mann, der sich mit Forstamtmann Karl Schumacher aus Hermeskeil vorstellte.
„Nein, das alles hier ist mir ungewöhnlich genug!“
Der Leichenwagen traf ein und ich gab Anweisung, den Toten ebenfalls in die Gerichtsmedizin ins Hermeskeiler Krankenhaus zu bringen. Für den Obduzenten, der wahrscheinlich von Mainz aus anreisen würde, bliebe es bei einer Fahrt. Ob die Leichenöffnung allerdings in Hermeskeil stattfinden würde, bezweifelte ich. Die Möglichkeiten dort waren doch zu sehr begrenzt.
Steiner fotografierte immer noch. Langsam verließen auch die Zuschauer nach und nach den Schauplatz und, gingen, sich angeregt unterhaltend, in Richtung Bundesstraße, wo viele ihre Autos abgestellt hatten, davon.
Dann kam er auf uns zu.
„Ich glaube, heute werden Sie mir doch einiges sagen, Herr Hauptkommissar? Sie wollen doch nicht, dass ich Fotos einer von der Polizei als Sack getarnten Leiche veröffentliche, oder? Können Sie sich vorstellen, wie der Text unter einem solchen Foto aussehen würde?“
Während er das sagte, lächelte er mich liebenswürdig an und ich wusste nicht, ob ich ihm meine Freundschaft anbieten oder ihm gegen das Schienbein treten sollte.
„Ich kann doch noch eins und eins zusammenzählen“, begann Steiner zu kombinieren. „Zwei Tote in zwei Tagen, beide aufgefunden an Wegekreuzen und, das vermute ich mal, alle an der gleichen Todesursache verstorben. Richtig?“
„Richtig. Alle beide sind den Verletzungen von Verletzungen mit einem Messer erlegen. Einen weiteren Kommentar gibt es nicht. Noch nicht.“
„Haben Sie schon Hinweise auf einen Täter?“
„Kein Kommentar!“
„Glauben Sie an eine Serie? Wird der Täter weiter morden?“
„Auf Wiedersehen, Herr Steiner!“ Ich wandte mich ab und ging zum Wagen, wo Leni auf mich wartete.
„Ich glaube, Wittenstein wartet. Die Besprechung!“, sagte Leni.
„Und ich glaube, die Tatortarbeit geht vor!“, gab ich unwirsch zur Antwort. „Wenn wir im Präsidium sind, ist es noch früh genug, die Kollegen zusammenzutrommeln.“