Читать книгу Tatort Hunsrück, Sammelband 2 - Hannes Wildecker - Страница 24
20. Kapitel
ОглавлениеDer Mann schleicht durch die Parkanlagen der Klinik für psychisch Kranke in Merzig. Sein Gesicht scheint versteinert, seine Augen sind verengt. Seine Lippen bewegen sich ständig, der Mann scheint mit sich zu sprechen. Ja, es sieht aus, als diskutiere er mit sich selbst und seine Arme rudern entsprechend in der Luft. Er steigt die Treppen zum Klinktor hinauf und geht gezielt den Gang entlang zu den Räumen, in denen die schweren Fälle hinter verschlossenen Türen ihr Dasein fristen.
Niemand hält den Mann auf, denn man kennt ihn hier als ständigen Besucher, der mindestens einmal die Woche nach seiner Mutter sieht.
„Ein Sohn, auf den man stolz sein kann, der seine Eltern noch zu ehren und zu schätzen weiß“. Die Ärzte und Wärter achten den jungen Mann, denn so etwas sehen sie nicht allzu oft. Viele ihrer Patienten sind seit ihrer Einlieferung sich alleine mit ihrer Krankheit überlassen. Niemand besucht sie, obwohl die meisten von ihnen noch Angehörige haben. Doch, wen kümmern Menschen, deren Gehirne ausgelaugt sind, die in fernen Welten leben und die eigenen Lieben nicht mehr erkennen?
Der junge Mann im dunklen Anzug gehört nicht zu ihnen. Er war seiner Mutter zeitlebens eng verbunden und keine Krankheit konnte diese Bindung durchtrennen.
Der Mann bleibt vor dem Zimmer mit der Nummer 232 stehen, überlegt kurz und atmet tief ein. Dann drückt er die Klinke nach unten und tritt ein.
Es bietet sich ihm das gewohnte Bild, das ihn Woche für Woche, Monat für Monat erwartet. Die Frau mit den grauen Haaren ist kaum sechzig Jahre alt, doch sie wirkt uralt. Leid und Krankheit haben ihr Gesicht durchfurcht, doch ihr Blick ist trotz aller Leiden lieblich geblieben und ihre großen Augen blicken wie erwartungsvoll ins Nichts.
Die Frau sitzt im Rollstuhl, der vor dem Fenster abgestellt ist und schaut in die Ferne. Sie hört nicht, dass der Mann ihr Zimmer betritt. Sie hört nie, wenn jemand kommt oder geht. Zu sehr ist sie in ihrer Welt beschäftigt.
Der Mann legt seine Hände von hinten auf die Schultern der Frau und schaut, ihrem Blick folgend, ebenfalls aus dem Fenster, in die Ferne, dahin, wo die Sonne in wenigen Minuten hinter der Erde versinkt.
„Man hat mich betrogen“, flüstert der Mann mit fast geschlossenen Lippen. „Man hat uns um die Rache gebracht. Er ist einfach so gestorben, einfach so, hat mich ignoriert.“ Die Stimme des Mannes wird lauter. „Bald wird es vorbei sein, Mutter. Dann werden alle ihre gerechte Strafe erhalten haben!“ Dann schreit es aus ihm heraus: „Mein ist die Rache spricht der Herr!“
Die Frau sieht in die Ferne, aus dem Fenster, der untergehenden Sonne zu. Sie lächelt. Es ist ein Lächeln aus einer anderen Welt, einer Welt aus Zufriedenheit und Ruhe. Das, was ihr Sohn ihr mitzuteilen hat, nimmt sie nicht wahr. Der Frieden ihrer geistigen Umnachtung enthält ihr das vor, das ihr das wahre Leben unerträglich gemacht hätte.