Читать книгу Tatort Hunsrück, Sammelband 2 - Hannes Wildecker - Страница 25
21. Kapitel
ОглавлениеEs war wieder Wochenende und es war wieder Sonntag, Man hätte meinen können, der Täter habe es darauf angelegt, uns allen, mir, Lisa, den Kollegen, einen Strich durch die Rechnung zu machen, was Familienleben anging.
Wittenstein hatte das einzig Richtige getan, er hatte wieder einmal alle verfügbaren Kriminalbeamten angefordert und eine Krisensitzung einberufen. Während ich von zu Hause mit einem klapprigen Astra zum Tatort fuhr, hatte sich Leni ebenfalls auf die Fahrt zum Tatort gemacht.
„Wir sind kurz vor Zerf“, meldete sich Leni per Handy. „Hast du eine genauere Ortsangabe über den Tatort?“
„Wir treffen uns am Ortsausgang von Zerf in Richtung Hermeskeil, auf der B 407“, gab ich zur Antwort. „Aber, wer ist wir?“
„Wittenstein hat mir heute einmal jüngere männliche Begleitung verordnet“, scherzte Leni. „Kollege Lessing wird uns unterstützen. Wir treffen uns am Tatort. Bis gleich!“
Na, ja. Ob Wittenstein uns damit einen Gefallen getan hatte, wagte ich zu bezweifeln. Unerfahren, wie er war, würde er uns keine große Hilfe sein. Ich hielt auf dem Seitenstreifen der Bundesstraße, vor der Abfahrt zum Schulzentrum an, um auf Leni zu warten. Kaum zwei Minuten später hielt sie hinter mir. Ich gab ihr ein Zeichen und fuhr los. Hinter der Rechtskurve am Ortsende sah ich in einiger Entfernung Polizeiautos mit Blaulicht. Hier, gerade auf dieser Strecke konnte man nicht vorsichtig genug sein. In den vergangenen Jahren hatte es auf dieser Strecke zahlreiche tödliche Verkehrsunfälle gegeben. Fehlte gerade noch, dass ein Raser in die Ermittlungsgruppe fahren würde.
Ich stellte mein Fahrzeug am Straßenrand ab. Leni parkte gleich dahinter. Bis zu dem Menschenauflauf waren es noch etwa fünfzig Meter. Es bot sich ein ähnliches Bild, wie es sich vom „Tirolerkreuz“ und dem „Lindenstein“ noch in meine Erinnerung eingebrannt hatte. Ein Steinkreuz, unmittelbar an der Bundesstraße, eingerahmt von zwei kräftigen Tannenbäumen, friedlich und nichts sagend, auf den ersten Blick, wäre da nicht das geschäftige Treiben der Kollegen von der Kriminaltechnik gewesen. Die aber verrichteten ihr Arbeit auf der gegenüberliegenden Seite des Kreuzes, doch als ich genau hinsah und die gefesselten Hände bemerkte, das einzige Zeichen dafür, dass sich auf der anderen Seite des Denkmals ein Mensch befand, der auf grausamste Weise zu Tode gekommen war, lief mir ein kalter Schauer über den Rücken.
„Wer ist es?“, fragte Leni leise.
„Ich weiß es nicht. Aber ich würde darauf wetten, dass es ein Gastwirt aus Trier ist.“
„Du meinst, weil die anderen beide auch Gastwirte waren.“
„Ja, genau darum. Es muss da einen Zusammenhang geben.“ Ich streckte den Arm aus und hielt Leni zurück, die zum Tatort eilen wollte.
„Warte, bis die Kollegen fertig sind. Wir können im Moment nichts tun.“
Lessing hatte keine Anstalten gemacht, sich von der Stelle zu bewegen. Offensichtlich wollte er sich den Anblick so lange ersparen, wie es möglich war. Er drehte sich gegen das leise Lüftchen des lauen Sommerwindes und zündete sich eine Zigarette an. Ich sah, dass seine Hände zitterten. Die Sache schien in doch mitzunehmen. Er hatte keine Erfahrung in solchen Dingen, das war es wohl. Ich fragte mich, was er auf seiner Dienststelle in Saarbrücken so gemacht hatte. Innendienst wahrscheinlich, Öffentlichkeitsarbeit oder vielleicht war er der Fahndung zugeteilt.
„Was halten Sie von der Sache? Ich meine, was für ein Mensch muss das sein, der solche Taten vollbringt“, fragte ich ihn, nur so, um ihn in ein Gespräch zu verwickeln, das ihn eventuell von seinen Gedanken ablenken würde.
Lessing sah mich an und zuckte die Achseln. „Wer soll das schon wissen? Vielleicht ein Kranker!“ Lessing schaute bei dieser Antwort zu Boden. Ich nahm mir vor, ihn erst einmal in Ruhe zu lassen.
„Sind Sie von der Kripo“, hörte ich plötzlich jemanden neben mir fragen. Es war ein Mann, etwa siebzig Jahre alt, klein, vielleicht einen Meter fünfundsechzig groß, mit einem wetterzerfurchten, braun gebrannten Gesicht. Der Mann trug einen dunklen Jogginganzug. Der rechte Arm stützte sich auf eine Krücke.
Ich nickte.
„Was ist das bloß für eine Welt heute?“, sagte der Mann. Die Zeit der Totmacher wird wohl nie enden.
„Kennen Sie den Mann?“
„Nein, ich habe ihn ja noch nicht gesehen.“
„Ist vielleicht auch besser so.“
„Wie bitte?“
„Ach, nichts. Wissen Sie etwas über die Bedeutung dieses Kreuzes? Ich meine, warum es hier steht. Wer es aufgestellt hat.“
Die Augen des Mannes leuchteten auf einmal. „Natürlich weiß ich das. Ich habe mich immer schon für die Geschichte meines Heimatdorfes interessiert und viel darüber gelesen. Wissen Sie, wir hatten hier im Ort einen Lehrer, einen Rektor, also einen Schulleiter. Der war das wandelnde Geschichtslexikon. Hat Bücher geschrieben über die Geschichte des Ortes Zerf, aber auch über die letzten Kriegsjahre hier im Hochwald und natürlich über Wegekreuze, Kapellen und so weiter.“
„Dann wissen Sie also über die Bedeutung dieses Kreuzes Bescheid?“
„Natürlich weiß ich das.“ Der Mann lehnte sich gegen seine Krücke und streckte den Oberkörper ein paar Mal.
„Ich wurde vor ein paar Wochen an der Wirbelsäule operiert. Bandscheibenvorfall. Aber ich weiß nicht, ich glaube, es hat nicht viel geholfen.“
„Das tut mir leid. Vielleicht sollten Sie nicht so lange stehen?“ Ich wollte das Gespräch gerade beenden, da nahm der Mann sich einen Anlauf.
„Die Gemarkung hier heißt ‚Am dicken Stein’. Das Kreuz ist eigentlich ein Grabkreuz und hat keinen bestimmten Namen. Zurzeit der französischen Herrschaft und auch in den Zeiten danach wurden der Hochwald und die Ortschaft Zerf durch Diebesbanden unsicher gemacht, vornehmlich die einsamen Straßen, die von Zerf weiter in den Hochwald führten. In Handelskreisen hatte sich damals der Spruch verbreitet: ‚Wer glücklich nach Trier will reisen, muss Steinberg, Zerf und Greimerath meiden’. Wenn ich das da sehe, dann glaube ich, müssen wir den Spruch auch auf die heutige Zeit anwenden.“
„Wissen Sie auch etwas über den Grund der Aufstellung? Lassen Sie mich raten: Hier, an dieser Stelle wurde jemand ermordet. Richtig?“
„Ja! Sie scheinen sich ja auszukennen! Es wird berichtet, dass zwei Fuhrleute, die mit Waren unterwegs waren, in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts genau an der Stelle, an der heute das Steinkreuz steht, überfallen wurden. Durch ein aufgespanntes Seil habe man die Pferde zu Fall gebracht und anschließend die Fuhrleute beraubt und ermordet.“
Ich drehte mich zu Leni.
„Hast du das mitbekommen?“
„Ja und ich glaube, wir beide denken dasselbe.“
Lessing schien unser Gespräch nicht mitbekommen zu haben. Sein Interesse galt den Kollegen am Tatort und deren Arbeit.
„Jetzt haben wir drei Tote an drei verschiedenen Wegekreuzen oder Gedenksteinen, wie man sie auch immer nennen mag“, sagte ich in gedämpftem Ton zu Leni.
„Ja, und alle erinnern an einen Mord, wenn auch in der fernen Vergangenheit begangen. Sollen wir etwa einen Schluss daraus ziehen?“
„Ich glaube, es hat damit zu tun, du wirst es sehen. Die Kollegen sind fertig.“
Ich zeigte hinüber zum Kreuz, von wo Peters uns herbeiwinkte. Ich sah zu Lessing hinüber und gab ihm ein Zeichen, dass er mitkommen solle. Die polizeiliche Absperrung war großzügig angelegt, doch sie hatte nicht vermeiden können, dass Neugierige sich auf der Ackerseite hinter dem Kreuz die Polizeiarbeit aus der Ferne ansahen. Einer hatte sogar ein Fernglas dabei.
„Eigentlich sollte man so etwas unterbinden“, dachte ich. „Pietätlos, so was!“ Ich schaute intensiver hin und es hätte mich nicht gewundert, wenn ich Albert Steiner, den Redakteur des „Trierer Merkur“ erblickt hätte.
Peters hatte die Leiche mit einer Decke für die Neugierigen unsichtbar gemacht. Das war typisch für ihn. Peters hatte den vollen Durchblick und eine Menge Erfahrung. Und man konnte wirklich gut mit ihm arbeiten, wenn es auch ab und zu Meinungsverschiedenheiten gab. Doch das war gut so, denn Uneinigkeiten gaben stets Anlass zu näheren und intensiveren Überprüfungen oder Ermittlungen. Am Ende waren wir dann meist wieder einer Meinung, spätestens dann, wenn sich der Erfolg eingestellt hatte.
„Na, heute zu dritt?“, begrüßte uns Peters. Das ist Dr. Nikolaus Grothe, praktizierender Arzt hier in Zerf. Hat die Leiche untersucht und stellt den Totenschein aus.
„Wie lange hat der arme Kerl gelitten?“, fragte ich den Arzt. „Diese Bestie hat doch sicher sein Werk wieder voll ausgekostet.“
„Wieso gelitten? Der Mann ist offensichtlich einem Herzinfarkt erlegen, alle Anzeichen sprechen dafür. Die Verletzungen wurden dem Toten meiner Meinung nach postmortal zugefügt. Aber makaber ist das schon, was man nach seinem Tod mit ihm gemacht hat.“
Ich sah Peters fragend an und Leni schaute verstört von einem zum andern.
„Kommt mit!“
Peters lüftete die Decke, so, dass wir auf das Gesicht des Toten blicken konnten.
„Verdammt, also doch derselbe Täter“, entfuhr es mir. Es war wieder genau das Gleiche. Der Täter hatte dem Mann sein eigenes Geschlechtsteil in den Mund gesteckt, genau wie in den beiden anderen Fällen. Ich hob die Decke weiter an und wollte mir die Blutlache zwischen seinen Beinen ansehen. Doch da war keine. Jetzt fiel mir auch auf, dass die Augen des Toten geschlossen waren und irgendwie lag ein friedlicher Ausdruck auf seinem Gesicht. Im Gegensatz zu den beiden anderen Ermordeten fehlte der maskenartige Ausdruck des Grauens.
„Was hat das zu bedeuten? Kein Blut, kein …?“
„Der Mann war schon tot, als er hier abgelegt wurde. Man hat ihn auch nicht hier verstümmelt. Alles war schon erledigt, wahrscheinlich wegen der Entdeckungsgefahr. Schließlich ist das hier eine stark befahrene Straße.“
„Wie lange ist er schon tot?“ Ich zeigte auf die Leiche. Den Mann schätzte ich auf 45 bis 50 Jahre. Die dunklen glatten Haare hingen ihm nach vorne über die Stirn und durch den Druck des Kinns auf seine Brust wölbte sich die Unterlippe stark nach vorne. Mir kam es vor, als wollte der Tote seinen Penis jeden Moment vor sich auf den Boden spucken.
„Acht bis neun Stunden werden es ungefähr sein, erwiderte Dr. Grothe. Wie gesagt: Als Todesursache vermute ich Herzinfarkt. Alles spricht dafür. Aber da es ja pflichtgemäß zu einer Obduktion kommt, wird man dabei genaueres feststellen.“
Ich sah Peters an. „Hat er Papiere bei sich?“ Ich hielt meine Frage eigentlich selbst für überflüssig, denn bei den beiden Toten zuvor waren keine persönlichen Dinge vorgefunden.
Peters reichte mir eine Brieftasche. „Dieses Mal macht es uns der Täter leicht. Alle Ausweispapiere und auch Bargeld sind vorhanden. Heinrich Schröder ist sein Name. Ich glaube, du errätst, woher der Mann stammt?“
„Ich tippe mal auf Trier“, sagte ich und fand meine Angaben beim Durchsehen seiner Brieftasche bestätigt. „Und ich wette, dass der Mann von Beruf Gastwirt ist.“
„Wir sind mit der Spurensuche fertig“, meldete sich Peters, während er diverse Spurensicherungsgeräte in seinem Spurenkoffer verstaute. „Übernimmst du die Verständigung des Leichenbestatters und die der Angehörigen, wenn Ihr sie ermittelt habt.“
Leni und Lessing hatten in der Zwischenzeit die nähere Umgebung nach Spuren oder möglichen Hinweisen abgesucht. Was mich wunderte, war, dass sich beide angeregt unterhielten, während sie gemeinsam die Umgebung abgrasten. „Wir müssen herausfinden, wo der Mann umgebracht wurde!“ Leni schaute mich fragend an und Lessing nickte vielsagend mit dem Kopf.
„Warte mal, Heinz!“, rief ich Peters nach, der auf dem Weg zu seinem Autor war. „Habt Ihr keine Reifenspuren gefunden?“
„Ach, ja, hatte ich ganz vergessen. Die Leiche wurde von der Bundesstraße her hinter das Kreuz geschleppt. Die Schleifspuren sind deutlich zu erkennen. Aber Reifenspuren? Auf der Teerdecke?“
Also schon wieder kein Hinweis. Ich nahm mir vor, Peters später aufzusuchen. Die kleinste Kleinigkeit an Spuren oder auch nur Fragmenten war für die Ermittlungen relevant. Wir warteten den Leichenwagen ab, der den Toten in die Gerichtsmedizin im Brüderkrankenhaus nach Trier brachte.