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Kapitel 18

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Die Handschellen haben sich in die Gelenke von Heinrich Schröder eingeschnitten, doch der spürt den Schmerz kaum mehr, da seine Arme und Beine fast gefühllos geworden sind. Der Umstand, dass sie durch die Fesselung nach oben gezogen werden, lässt das Blut in den Körper zurücklaufen und sie wie abgestorben wirken. Schröder muss zur Toilette. Lange kann er nicht mehr zurückhalten.

Es beginnt wieder dunkler zu werden, der Abend bricht herein und es wird kühler. Schröder ist von der Anstrengung, sich zu befreien, aber auch von der ihn ständig begleitenden Angst nass geschwitzt, das salzige Wasser rinnt ihm in die Augen, dass sie schmerzen und ihm die Sicht nehmen. Es gibt keine Möglichkeit, sich den Schweiß aus dem Gesicht zu wischen und die hereinbrechende Kühle überkommt langsam seinen Körper und setzt sich auf die an seiner Haut klebenden Kleidungsstücke. Schröder beginnt zu frieren und der Körper will sein Recht und antwortet mit einem immer stärker werdenden Schüttelfrost.

„Ich werde hier verrecken! Das also will er!“, denkt Schröder. „Ich werde in der Nacht erfrieren oder vielleicht kommen sogar Tiere aus dem Wald, die meine Hilflosigkeit ausnutzen und meinen Körper fressen!“

Dann denkt er wieder an Mariele und wieder schießen ihm Tränen in die Augen, Tränen, die nicht ganz so salzig sind, wie der Schweiß, der sich angesammelt hat und die den brennenden Schmerz in seinem Augapfel etwas lindern.

Plötzlich ist Schröder hellwach. Er weiß auf einmal, dass er nicht mehr alleine ist. Noch kann er nichts durch den Schleier seiner tränen- und schweißnassen Augen sehen. Sind es die Tiere aus dem Wald? Ist der Mann zurückgekommen? „Was passiert jetzt mit mir?“, versucht er hinauszuschreien, doch seine Knebelung verhindert die Bildung jeglicher Wörter.

Schröder hebt den Kopf, soweit es ihm möglich ist und öffnet und schließt mehrfach die Augen, um klare Sicht zu bekommen. Wie durch einen Schleier glaubt er eine Person auszumachen, die an der Scheunentür steht und nun langsam näherkommt.

Dann sieht er den Mann. Er trägt keine Maske wie am gestrigen Abend und er ist adrett gekleidet, so, als käme er gerade von einer wichtigen Besprechung.

„Er ist nicht maskiert“, denkt Schröder. „Das ist nicht gut! Das ist gar nicht gut! Der hat keine Angst, dass ich ihn später wiedererkennen könnte. Scheiße, der will mich umbringen!“

Schröder beginnt erneut, an seinen Fesseln zu zerren und merkt kaum, wie sich die Handschellen tiefer in sein Fleisch einschneiden. Der Fremde kommt näher und streckt seine Hand nach dem Kopf von Schröder aus. Der windet und dreht seinen Kopf und spürt plötzlich einen brennenden Schmerz im Gesicht, den er mit einem lauten Schrei begleitet.

„Ich habe geschrien!“, denkt Schröder. „Und ich bekomme wieder besser Luft! Er hat das Pflaster entfernt!“

Schröder atmet schwer und saugt seine Lungen voll Luft, die er eine Nacht und einen Tag nur sehr spärlich erhalten hatte. Dann versucht er ruhig zu werden. „Nicht provozieren“, denkt er. „Keine Angst zeigen!“

„Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir?“, fragt er und kann den Mann immer noch nicht genau erkennen, so sehr brennen noch seine Augen.

„Sie kennen mich nicht, noch nicht. Noch eine kleine Weile, dann werden Sie mich kennen lernen.“ Der Mann beugt sich zu Schröder, der nun etwas klarer sieht. „Nennen Sie mich Hein, ganz einfach Hein. Ich glaube, dieser Name passt zu unserem Ritual.“

„Der ist noch jung“, denkt Schröder. „Vielleicht gerade mal Fünfundzwanzig, vielleicht ein, zwei Jahre jünger oder auch älter. Was für ein Ritual.“ Dass Hein der Name des Todes ist, kommt Schröder nicht in den Sinn.

„Sagen Sie mir, was Sie von mir wollen! Ist es Geld? Sagen Sie es! Sie erhalten was Sie fordern, sofern es in meiner Macht steht!“

„Was ich fordere, ist nicht mit Geld zu bezahlen.“ Der junge Mann lehnt sich mit seinem Rücken an den Leiterwagen hinter ihm und sieht Schröder an.

Ich will Ihnen eine Geschichte erzählen“, beginnt „Hein“ und verschränkt seine Arme vor der Brust, lässig an den Heuwagen gelehnt. „Sie begann vor achtundzwanzig und endete vor acht Jahren. Damals wurde ein Mädchen geboren und Celine getauft. Das Mädchen wuchs heran in einer Familie, die sich um es sorgte, die es hegte und pflegte, für die dieses Mädchen Ein und Alles war. Als das Mädchen heranwuchs, führte sie der Weg fast jeden Tag in die Kirche, denn sie war Gott näher als die meisten Menschen. Ihr Trachten war es, Gott ihr Leben lang zu dienen, in einem Kloster. Auf diesen Tag hat diese junge Frau hingelebt und den Tag herbeigesehnt, an dem sie für immer dort leben würde.“

„Was hat das mit mir zu tun? Warum erzählen Sie mir das?“

„Hören Sie einfach weiter zu und schweigen Sie! Das Mädchen war Siebzehn, als es starb. Von gewissenslosen Männern geschändet, zweifelte es an Gott und schließlich an sich selbst. Mit dieser Schmach konnte es nicht weiterleben und warf sich vor einen Zug.“

Die Gedanken von Schröder überschlugen sich. Im Geiste ging er Jahre zurück und wie von fern sah er eine Radfahrerin auf sich zukommen. Er sah Kalle und die anderen und dann wusste er wieder alles. Jede Einzelheit, alles tauchte wieder klar vor ihm auf.

„Ich … ich habe nicht gewollt…“

„Hein“ tat, als ob er den Einwand nicht gehört habe.

„Ihre Mutter hat das alles nicht verkraftet. Ihr Geist hat aufgehört, zu existieren, sie lebt in einer Welt, die es ihr ermöglicht, von alledem nichts mehr zu wissen.“

„Es tut mir alles so leid!“ Schröder weiß, dass er kämpfen muss. Kämpfen um sein Leben. Kalle war tot, Maathes war tot. Er soll der nächste sein. Und dann? Manni Reuter und Nob Nörtinger! Würden sie die nächsten sein? Schröders Körper wird plötzlich vor Angst geschüttelt und er sieht zu „Hein“ hinüber.

„Ich wollte das nicht! Ich…!“

„Damals war ich siebzehn Jahre alt“, fährt sein Gegenüber fort, ohne die Bemerkung von Schröder auch nur zu registrieren. Er beugt sich über Schröder, dass sein Gesicht fast das des schwer atmenden hilflosen Gastwirtes berührt.

„Ich schwor mir schon damals, Rache zu üben, Rache an den Männern, die meine Familie ruiniert haben, die der Mutter die Tochter, dem Bruder die Schwester nahmen und die Schuld am Tod meiner Mutter sind. Ja, meine Mutter ist tot, obwohl sie lebt. Fünf Männer sind dafür verantwortlich!“ Die Stimme des Mannes steigert sich und seine Augen bekommen einen irren Glanz.

„Auge um Auge, Zahn um Zahn. Denn mein ist die Rache spricht der Herr!“ Der Blick des jungen Mannes hat nun alles Irdische verloren. Er tritt von Schröder zurück und breitet seine Arme aus. „Ich tue es für dich Mutter!“, schreit es aus ihm heraus. „Und für dich, Celine! Für uns und unseren Frieden!“

Dann wird der Mann, der für Schröder nur „Hein“ genannt werden will, plötzlich ganz ruhig, doch der Ausdruck seiner Augen verändert sich nicht.

„Der ist verrückt, der ist total verrückt!“ Schröder zerrt erneut an seinen Fesseln, die jedoch keinen Millimeter nachgeben. Dann registriert er, dass sein Mund ja nicht mehr geknebelt ist und setzt zu einem lauten Hilferuf an. Doch „Hein“ ist schneller, macht einen Schritt auf den wehrlos daliegenden zu und hält ihm den Mund mit der Hand zu. Mit der freien Hand nimmt er das Klebeband, das noch neben dem Kopf Schröders liegt und klebt es diesem mit einem Schwung wieder über den Mund.

„Meine Schwester hatte auch keine Gelegenheit, um Hilfe zu rufen. Ihr wart fünf Männer, sie war nur ein junges Mädchen, völlig hilflos.“

„Hein“ zieht aus seiner Hosenasche ein gefaltetes Etwas, das er mit einem plötzlichen Schwung seiner Arme entfaltet. Es ist ein hauchdünner Overall mit einer Kapuze, wie sie Lackierer tragen. Der Mann zieht sich bedächtig den Einweganzug an und zieht den Reißverschluss zu. Dann zieht er sich die Kapuze über den Kopf und schnürt sie unter dem Kinn zu.

„Wir wollen doch den schönen Anzug nicht schmutzig machen“, sagt der Mann und lächelt zu Schröder hinüber.

Dann greift er mit der rechten Hand in die linke Brusttasche seines Jacketts und zieht eine flache Packung heraus. Mit der anderen Hand zerreißt er die Perforierung am oberen Ende und zieht einen kleinen Gegenstand heraus.

Schröder erschrickt zutiefst, als er sieht, was der Mann da in der Hand hält. Sein Herz rast, alle Panik in seinem Leib sucht nach einem Ausgang. Er windet sich auf seinem harten Lager, das ihm nicht den Hauch einer Chance lässt, den Mann anstarrend, der nun nähertritt.

In seiner Hand blinkt die kleine Schneide eines Skalpells, kaum mehr als einen Zentimeter groß, aber geeignet, Leben zu erhalten, Schönheit wieder zu geben oder auch Leben zu vernichten. Wie gebannt starrt Schröder auf die Klinge und spürt bereits jetzt den Schmerz, bevor er ihn erreicht. Er will noch einmal schreien, will sagen, dass ihm alles leidtut, doch ganz plötzlich spürt er einen krampfhaften Schmerz in seiner linken Brustseite. Dann wird sein Körper still und entspannt sich auf der harten hölzernen Unterlage.

Er hat dem Satan einen Streich gespielt. Er ist gegangen, ehe ein anderer ihn dazu zwingen konnte. Freund Hein hat ihn in sein Reich abgeholt, der falsche „Hein“ hat das Nachsehen.

Tatort Hunsrück, Sammelband 2

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