Читать книгу Im Bann der Rache - Hans Bischoff - Страница 4
ОглавлениеProlog Heilig Abend 2014, Stuttgart
Ich schreckte aus dem Grübeln auf. Sollte ich gleich kotzen oder wenigstens das Menü abwarten? Die überaus großzügige Zusage, trotz meiner derzeit eher prekären Lebensumstände an der riesigen Tafel mit all den herausgeputzten vornehmen Gästen Platz nehmen zu dürfen, hatte mich weitgehend aus der Bahn geworfen. Ich saß mitten im illustren Kreis meiner lieben und ach so liebenswerten Familie. Mitten im weihnachtlich geschmückten, besser gesagt durchgestylten Speiseraum. Eine wahre Orgie aus voluminösen Kerzen, alle in reinstem Weiß, umschmeichelten die gastliche Tafel mit ihrem sanften, warmen Licht. Mehr Happy Christmas ging nun wirklich nicht.
Ich mag Weihnachten eigentlich gerne, fühlte mich jedoch in diesem Moment in eine Atmosphäre extremen Weihnachtskitsches getaucht, der die luxuriöse Villa am Stuttgarter Killesberg in eine Szenerie dieser amerikanischen Heile-Welt-Filme verwandelte. Ich hatte Bilder von illuminierten Rentieren und aufgeblasenen Weihnachtsmännern im Kopf, die entweder in ihrem Licht strahlten oder durchs Kamin anrauschten. Hollywood lässt grüßen.
Allein die Kosten der Tischdekoration hätten mir im Moment ziemlich sicher für ein halbes Jahr zum Leben gereicht. Neun weiße Gedecke, wahrscheinlich Meißner Porzellan, aber da war ich mir nicht sicher, warteten zwischen weihnachtlichen Gestecken – farblich abgestimmt – auf ihre Nutzer. Meine Tochter Brigitte war sehr penibel, wenn es um ihre Außendarstellung ging. Was die vielen millimetergenau ausgelegten Silberbestecke alle sollten, hatte sich mir zehn Minuten vor Eröffnung der weihnachtlichen Tafelrunde noch ganz und gar nicht erschlossen. Ich war derartige Ansprüche seit einiger Zeit nicht mehr gewohnt und hatte sie vergessen. Aber Brigitte, die Dame des Hauses, kannte sich mit solchen Gepflogenheiten selbstverständlich bestens aus. Das hatte sie nicht von mir. Ich tat mich schon seit Kindheit schwer, mit mehr als jeweils einem Messer und einer Gabel zu essen. Aber das hier war Dinieren auf höchstem Niveau, es sah verdächtig nach fünf Sternen aus. Mindestens. Ich würde mich blamieren, das war so sicher wie das Amen in der Kirche.
Warum war ich nur hier her gekommen, obwohl mein ganzes Inneres sich vehement dagegen gewehrt hatte. Schuld daran war Kalle, der mich knallhart losgeschickt hatte.
»Schau Dir dieses Pack nur noch ein Mal ganz genau an, Du wirst sie danach nicht mehr so friedlich treffen. Hau rein, und sieh zu, dass Du Dich mit der Köchin gut stellst, ohne unseren Anteil am Festessen kommst Du nicht zurück«, machte er mir unmissverständlich klar.
Wenn Kalle etwas dermaßen bestimmend von sich gab, war Widerspruch zwecklos und gefährlich. Dann hielt man sich besser dran und tat es auch. Aus diesem Grund stand ich jetzt hier rum wie bestellt und nicht abgeholt, fühlte mich beschissen und vollkommen fehl am Platz. Mit Kalles Warnung im Kopf entschied ich mich dafür, erst nach dem Dessert zu kotzen.
Aus der offenen, an die weitläufige Diele angrenzenden Wohnhalle, Wohnzimmer konnte man dazu nicht mehr sagen, strahlte das Weihnachtsbaum-Monument silberglänzend wie ein außerirdisches Raumfahrzeug. Ohne zu zählen, tippte ich auf gefühlte tausend glitzernde Kugeln, Engelchen, weiße Federchen und ähnlich viele elektrische Kerzen. Heutzutage wahrscheinlich LEDs, man ist schließlich umweltbewusst. Als ich noch eine Familie hatte, zündeten wir meist echte Kerzen am Baum an, die Brigitte, als sie klein war, ausblasen durfte. Nun ja, das war einmal. Lange her. Vor ein paar Monaten hätte mir die Erinnerung daran Tränen in die Augen getrieben. Heute nicht mehr. Das war eine andere Zeit.
Zum Glück reichte die Halle über zwei Stockwerke, sonst hätte man mit der Kettensäge an die gewaltige Nordmanntanne ran müssen. Ich stellte mir das Massaker bildlich vor und musste bei diesem Gedanken genüsslich grinsen. Du bist ganz schön destruktiv Alter, kam mir in den Sinn.
»Was macht Dir gerade so viel Freude, Peter? Oder darf ich Opa sagen?« Mit ihrem strahlenden Lächeln war Jasmin, meine Enkelin, ein fantastischer Lichtblick, als sie in ihrem eleganten schwarzen Kleid und auf ihren unfassbar hohen High Heels auf mich zu stöckelte.
»Ich habe mir nur so nebenbei vorgestellt, was ich hier mit einer Kettensäge anrichten könnte. Jasmin, Du siehst großartig aus, eine Augenweide!«
Küsschen links, Küsschen rechts.
»Lass Dich drücken, alter Mann, ich sehe Dich viel zu selten.«
»Nun ja, das liegt ja wohl weniger an mir, ich hätte schon die Zeit. Aber Du bist ja dauernd beschäftigt. Wie läuft das Geschäft?«, entgegnete ich. Zwar war ich nach wie vor nicht unbedingt mit ihrer Branche einverstanden. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass es Spaß machen könnte, als Domina ältere Vorstandsvorsitzende oder hohe Beamte auszupeitschen, in Babyklamotten zu stecken, in Käfigen zu halten oder anderweitig zu quälen. Aber ich hoffte, dass sie wenigstens gute Geschäfte dabei machte.
»Es könnte gar nicht besser laufen, im Gegensatz zu Dir. Willst Du denn ...«
In diesem Augenblick wurde sie von meinem unbemerkt aufgetauchten Schwiegersohn Edgar abrupt aus unserem Gespräch gerissen. »Mein schönes Töchterlein, chic wie immer, und gleich beim lieben Opa? Komm mal mit, ich muss kurz mit Dir reden.« Sagte es, zog sie recht unsanft von mir weg Richtung Arbeitszimmer und ließ mich stehen. Typisch Edgar van Damme.
Mein Name ist Peter Förster, bin Witwer und Alkoholiker, depressiv und meist schlecht angezogen. Im kommenden April könnte ich 66 Jahre alt werden, falls es mich der Alkohol, die miserable Ernährung und die Winterkälte erleben lassen. Vor einem halben Jahr war ich noch Unternehmer, nun ja, Kleinunternehmer, Einzelkämpfer. Aber erfolgreich. Ich entwickelte individuelle Softwarelösungen sowie Apps für Spieleanbieter. Seit knapp drei Monaten war ich pleite, seit November nun schon Penner, lebte auf der Straße und soff. Wie es dazu kam? Das fragen Sie besser meinen Schwiegersohn, Edgar van Damme, von Beruf Finanzhai. Wobei, letztlich war ich selbst schuld an meiner beschissenen Situation, wenn ich sie ausnahmsweise ehrlich und selbstkritisch betrachtete.
»Lass nie andere unbesehen Dein Geld verwalten!«, hatte mir schon mein Vater nahe gelegt, als er im Herbst 2000 ganz unerwartet im Sterben lag. Vielleicht hätte ich damals bei meinem letzten Besuch in der Klinik auf ihn hören sollen. So war ich jetzt nur noch der Peter, hatte zwei gute Kumpels, einen alten rissigen Rucksack, einen Schlafsack und mit viel Dusel zwischendurch einen Schlafplatz im Männerwohnheim bei Ossi in Stuttgarts Altstadt. Daneben verfügte ich über mehr als 200.000 Euro Schulden, die ich sicher nie abzahlen konnte. Die kleine Rente, die ich mir nun schon seit zwei Monaten in Ermangelung eines Girokontos bar beim Sozialamt abholte, wird dafür aller Voraussicht nach nicht ganz reichen.
Dieses neue Leben war auch der Grund, dass sich meine Familie, außer Jasmin, weitestgehend sehr schnell und konsequent von mir abgewandt hatte. Meine Tochter Brigitte lebte in ihrer eigenen Luxuswelt, spielte liebe- und verständnisvolle Ehefrau von Edgar und kümmerte sich wenig um andere Themen als ihre Charity-Veranstaltungen, Modeschauen und Yogatreffs. Schon gar nicht um mich, dafür hatte Edgar vor Kurzem erfolgreich gesorgt. Und dann waren da noch Edgars Eltern aus Hamburg zu Besuch, ein typisch hanseatisch geprägtes Fabrikantenehepaar, das mich sowieso als unter ihrer Würde betrachtete. Dies allerdings schon immer. Mein Enkel Tommy hatte mit mir ebenso wenig am Hut. Außer seinem Faible für Produkte mit dem angebissenen Apfel verband ihn wenig mit mir. Seine Welt bestand aus Kiffen, Computerspielen und Abhängen. Ein weiteres eingeladenes Paar kannte ich nicht. Es waren Kunden oder Geschäftspartner von Edgar. So um die Vierzig, makellos gestylt, so vornehm, dass es schon fast wehtat. Sie war dermaßen dünn, dass ich Angst hatte, sie könnte auseinanderbrechen. Er zeigte ein gelangweiltes, arrogantes Pokerface und verzog die Mundwinkel höchstens mal zu einem gepressten, abschätzigen Lächeln.
Die »herzliche« Einladung zum heutigen Weihnachtsmenü war eine Forderung meiner Lieblingsenkelin Jasmin. Sie wollte provozieren und mich dabei haben und zwang Edgar dazu. Ich könnte mich allerdings selbst ohrfeigen, dass ich tatsächlich gekommen war und mich zwischen diese Meute reinsetzte, aber erstens war Kalle sehr überzeugend und zweitens hatte ich an Weihnachten schon lieber eine Gans auf dem Silberteller, als eine kalte Pizza unter unserer Brücke. Es war nicht mehr zu leugnen, ich war am Ende, war ganz unten angekommen. Am Arsch. Peter, der Penner, dem man Wohlverhalten nahe gelegt hatte, um das schöne, traute Fest nicht zu stören.
»Halt bloß die Schnauze!«, stand handschriftlich in Edgars Klaue rot, quer über den Text bereits auf der Einladung, die mir Brigitte, meine Tochter, beim Eintreffen dezent und etwas peinlich berührt in die Hand gedrückt hatte. Peter, der Penner, das schwarze Schaf der Familie, der einfach nicht dazu passte. Nicht mehr in diese Welt der Schönen und Reichen, und der ganz schön Reichen. Weihnachten war in diesen Kreisen schließlich ein gesellschaftliches Statement. Das man mit möglichst vielen und wichtigen »Likes« in den sozialen Medien ausschlachtete, um den Neid der anderen Damen aus dem Klub zu genießen.
Da störte einer wie ich.