Читать книгу Im Bann der Rache - Hans Bischoff - Страница 7
ОглавлениеMittwoch, 9. August 2006, Stuttgart
Er hatte den Termin bereits in der vergangenen Woche vereinbart. Edgar van Damme war ein Mann mit klaren Strukturen. Egal, ob Kundentermin, Treffen mit Geschäftspartnern, Charity-Event, zu dem ihn seine Frau mitschleppte oder wie heute der Besuch bei einer Prostituierten, er hatte stets alles perfekt organisiert. Das war schließlich seine Stärke, das Organisieren. Heute Abend hatte er noch zwei Telefonate zu führen, zu Hause hatte er sich abgemeldet – »ich habe ein Geschäftsessen, warte nicht auf mich«, – dann konnte es losgehen. Edgar war schon heiß auf die Neue, es juckte in der Hose.
»Frischfleisch, ist erst seit einer Woche da. Kommt aus Rumänien, macht Dir alles, was Du willst« hatte ihm Wolle, der Barkeeper im Club zugesteckt.
Edgar hätte sich jederzeit teure Edel-Callgirls leisten können. Er liebte es aber, in die eher niedrigeren, schmutzigen Gefilde der Sexbranche im Rotlichtmilieu hinab zu steigen, um dort seine Fantasien real und ungebremst auszuleben. Da fiel es auch nicht weiter auf, wenn »so ne Tussi« danach mal mit blauem Auge, Fesselspuren oder Striemen am Hals und auf dem Rücken rumlief. Die war dann eben wenn‘s hart auf hart ging von ihrem Zuhälter verprügelt worden. Niemand würde darüber reden. Direkt nach den beiden erfolgreichen Gesprächen mit gutgläubigen Anlegern, die ihr Schwarzgeld loswerden mussten, was er sofort mit feiner Nase witterte, schlüpfte er in seinen Fünfhunderteuro-Sakko, schnappte sich den Autoschlüssel, schloss sorgfältig das Büro ab und fuhr mit dem Lift in die Tiefgarage. Testosteron geladen sprang er in seinen schwarzen E-Klasse-Mercedes und schoss mit durchdrehenden Rädern aus der Parkbucht. »Das wird lustig werden, heute Abend« dachte er, malte sich aus, wie er seine Vorlieben ausleben würde und grinste dabei genüsslich. Knapp zehn Minuten später parkte er den schweren Wagen zwei Häuser vor der Wohnung der Nutte, man musste ja nicht sofort entdeckt werden. Wobei ihm das ziemlich egal war.
»Ihr verklemmten Arschlöcher, ihr wollt doch so gerne selber ran, aber traut Euch nicht« pflegte er zu denken und manchmal auch laut im Kreise der Kumpels von sich zu geben.
Bereits nach dem zweiten Klingeln öffnete eine hellhäutige Blondine vorsichtig die Wohnungstür. »Komm rein« hauchte sie und trat zur Seite.
Es roch nach einer Kombination aus billigem Parfüm und abgestandener Zimmerluft, aber das gefiel ihm. Je mieser, desto besser.
»Musst Du zuerst bezahlen, haben wir gesagt, zweihundert für alles« quetschte sie radebrechend durch die Zähne.
»Ich muss überhaupt nichts, Du blöde Tussi, aber ich tu‘s« blaffte er sie an, zog zwei Scheine aus der Brieftasche, warf sie aufs Bett und zog den Sakko aus.
Sie steckte die beiden Hunderter in eine unscheinbare Geldkassette auf dem Nachttisch.
»Und zick hier nur nicht weiter rum« bellte er sie an.
So hässlich, wie er im ersten Moment gedacht hatte, war sie gar nicht. Die Brüste waren garantiert nicht echt, aber wenigstens riesengroß. Und wie sie da so vor ihm stand, in ihrem schwarzen, knallengen Mini, dem transparenten BH und den hohen Lackstiefeln, fing sie an, ihm zu gefallen. Sie versprach einiges.
»Gute Wahl«, sagte er sich und zeigte ihr sein falsches Lächeln. Er war einfach ein durch und durch falscher Hund, er gefiel sich in dieser Rolle. Sie fingerte an ihm herum, begann seinen Hosengürtel aufzuziehen, doch er schob sie von sich weg.
»Langsam, Mädchen, wie heißt Du denn eigentlich?«
»Rosana«.
»Rosana, aha. Aus Rumänien kommst Du in unser schönes Land. Hast Du Handschellen hier?«, fragte er sie unvermittelt.
»Hab‘ ich, aha, willst Du so, bind‘ ich Dich fest. Soll ich auch bisschen schlagen vor ficken?«, sagte sie lächelnd, während sie in die Schublade des kleinen altersschwachen Nachtkästchens griff, eine silbern glänzende Handfessel entnahm und vor seinem Gesicht hin und her schwenkte. »Hast Du Spaß daran?«
Edgar nickte und deutete auf die kleine Garderobe im Flur. »Zieh den Plastikmantel an! Sieht geil aus.«
Rosana schaute ihn nur kurz verwundert an, zog sich dann aber den transparenten Regenmantel über. »Gut so? Stehst Du drauf?«
Edgar reagierte nicht. Dann riss er ihr völlig überraschend die Fessel aus der Hand und stieß sie heftig auf das mit einem glänzenden, leicht fleckigen Laken bedeckte Bett.
»Hey, was soll das, das war nicht ausgemacht! Kostet hundert extra«, konnte sie gerade noch herausquetschen, während Edgar schon über ihr kniete und ihre Arme über den Kopf nach oben drückte.
»Wehr Dich nur, das macht mich umso schärfer.«
Das versuchte sie nun auch, aber Edgar hatte das linke Handgelenk bereits in der Handschelle drin, zog die Fessel hinter dem Metallrahmen des Betts hindurch, drückte den anderen Arm brutal ebenfalls in die Fessel rein und klickte sie zu. Sie zog und rüttelte mit ihren Armen, aber es war zu spät. Edgar glitt vom Bett.
»Das kannst Du nicht mit mir machen, das will ich nicht. Lass mich sofort raus, ich schreie sonst.«
»Halt die Schnauze, sonst stopfe ich sie Dir« knurrte Edgar, während er sich seiner Schuhe, der Hose und seines Slips entledigte. Die Socken ließ er an, es sah zwar einzigartig komisch aus, was ihn jedoch nicht störte. Edgar hasste kalte Füße. Breitbeinig stand er dann vor ihr, sie maulte vor sich hin.
»Ist scheiße so, Du Wichser, mag ich nicht.«
Edgar kümmerte sich nicht um die Motzerei, sondern suchte im Regal an der gegenüber liegenden Wand nach einem Strick oder einer Kette.
»Hast Du keine Stricke für Deine devoten Besucher« fegte er sie an.
Sie gab jedoch keine Antwort, sondern zerrte weiterhin an ihrer Fessel und keifte unverständliche Schimpfworte. Edgar ging in den Flur und schnappte sich triumphierend einen endlos langen Seidenschal, der an der Garderobe hing.
»Was willst Du damit« wimmerte sie und bäumte sich wieder auf, erfolglos allerdings. Edgar genoss ihren entgeisterten Blick und ließ mit einer provozierenden Geste den feinen Stoff durch die Finger gleiten. Blitzschnell packte er nun ihr linkes, nach wie vor im kniehohen Lackstiefel steckendes Bein, zog es trotz ihrer Gegenwehr an das Metallgestell an der Fußseite des Bettes, band es fest. Sie schrie jetzt und versuchte, mit dem rechten, noch freien Bein nach Edgar zu treten.
»Verdammt, hör jetzt auf, Du widerliches Arschloch. Mach mich los!«
Edgar lachte, griff nach ihrem rechten Bein, drückte es gegen den anderen Bettpfosten, straffte den langen Schal und zog auch hier mit einem festen Knoten die Schlinge zu. Rosana lag jetzt hilflos mit gespreizten Beinen vor ihm.
»So siehst Du gut aus, Du geiles Miststück« rief er laut lachend und kniete sich rittlings über sie. Die weiche transparente Plastikfolie des Regenmantels klebte auf ihrer Haut und törnte ihn wahnsinnig an. Er fuhr mit beiden Händen die Kontur ihrer Figur und ihrer Brüste nach, das Material raschelte leise. Ihr schien es überraschend auch wieder zu gefallen, sie drängte sich ihm entgegen. Mit einem kräftigen Ruck zog er den Mantel auf, riss ihr den BH runter und brüllte »Blas mir einen, mach‘s aber gut!«
Sie atmete schwer. »Kann ich nicht, kriege ich keine Luft, mach mich los!« Sie krächzte und war nur schlecht zu verstehen.
»Red keinen Scheiß und mach schon. Du kriegst sonst gleich noch weniger Luft« sagte Edgar und drückte mit der Hand auf ihr Gesicht.
»Kann ich nicht, lass mich, bitte« brachte sie nur ganz leise zwischen Wimmern und hektischem Schnaufen heraus.
Edgar kam jetzt so richtig in Fahrt, griff nach dem BH, quetschte ihn zusammen und drückte in ihr als Knebel auf den weit aufgerissenen Mund. Er konnte sich doch schließlich von so einer blöden Nutte nicht verarschen lassen. Nicht er, nicht Edgar van Damme, so nicht.
»Dann besorg ich‘s Dir anders« brüllte er, schob den ohnehin extrem kurzen Rock hinauf, sie trug keinen Slip, und versuchte, brutal in sie einzudringen. Sie drehte und wendete sich dabei andauernd, so blieb es beim Versuch, was ihn noch wütender machte. Er schlug ihr mit der flachen Hand links und rechts ins Gesicht und quetschte dabei ihren Körper mit den Beinen ein. Als sie versuchte, den Knebel raus zu würgen, drückte er dagegen. Sie drehte sich unter ihm und bäumte sich auf. Edgar presste inzwischen wie ein Wahnsinniger den Knebel auf das Gesicht und drückte mit seinem Unterarm auf ihren Hals. Sie schnappte rasselnd nach Luft. Ihr Gesicht lief immer stärker rot an, aus dem Hals drangen gurgelnde Geräusche. Arme und Beine fochten einen erfolglosen Kampf mit den Fesseln aus. Edgar tobte. Er war völlig außer sich, war wie von Sinnen, rastete total aus, hatte keine Kontrolle mehr, alles eskalierte. Und plötzlich war Stille. Eine unheimliche Stille. Nur Edgars hektische Atemstöße, das Quietschen seiner Beine am Plastikmantel und den Lackstiefeln und das leise Ticken des Weckers auf dem Nachttisch waren noch zu hören.
»He, was ist los? Komm schon, lass den Scheiß!«, keuchte er. Nichts.
Edgar glotzte verständnislos direkt in die toten Augen der Nutte.
»Was ...?« Er sprach nicht mehr weiter. In diesem Moment war ihm bewusst, was passiert war. In seiner ersten Panik riss er ihr den Büstenhalter vom Gesicht, schlug ihr erneut rechts und links auf die Wangen, ihr Kopf wurde hin und her geworfen, aber nichts geschah. Wieder und wieder rüttelte und schlug er sie, bis es ihm langsam dämmerte, sie war tot. Sie lag da, unbeweglich, den Mund schief geöffnet, die Augen schreckhaft aufgerissen.
»Scheiße, Scheiße, Scheiße« murmelte er und richtete sich auf. »Du dämliche Nutte, was ist das für ne Scheiße, was hab‘ ich gemacht?«
Er begriff jetzt langsam, was los war. Dass hier eine Tote vor ihm lag, die er umgebracht hatte. Ein Schüttelfrost bäumte seinen Körper auf. Sein Herz raste. Er wollte das doch gar nicht, nur ein wenig besonderen Spaß haben, für den er viel bezahlte. Es war ein Unfall. Was musste die auch so zickig tun, die hätte doch nur mitmachen müssen. Warum? Er band zitternd ihre Beine los, kramte im Nachtkästchen nach dem Schlüssel und öffnete die Handschellen, stieg vom Bett, raffte hastig seine Klamotten zusammen und zog sich wieder an. Inzwischen war ihm jeder Gedanke an Sex abhandengekommen. Er wurde langsam wieder der klar und strukturiert denkende Macher. Was muss jetzt passieren, fragte er sich.
»Ich darf nie hier gewesen sein!«
In den folgenden Minuten machte er sich daran die, seiner Meinung nach, wenigen Fingerabdrücke zu entfernen. Am Bett, am Regal, der Garderobe, am Nachtkästchen, an ihren Stiefeln. Er drehte die Tote um und zog ihr den Plastikmantel aus, der mit Sicherheit über und über mit seinen Abdrücken gespickt war. Er wickelte ihn zu einem kleinen Paket zusammen. Er war nicht zum Schuss gekommen, weshalb sie kein Sperma von ihm finden konnten. Und DNA-Spuren waren sicher genügend von anderen Freiern da. Er suchte nach Haaren auf ihrem schwarzen Mini, packte die Handschellen in seine Sakkotasche, klemmte den Regenmantel unter den Arm, den Schal legte er sich um. Ihm fielen noch die beiden Geldscheine ein, die er wieder an sich nahm.
»Wenigstens hats nichts gekostet« murmelte er vor sich hin. Und dann wurde ihm bewusst, dass die Tussi ja garantiert irgendwo seinen Termin mit Namen notiert hatte. Taschenkalender war keiner zu finden, auch keine losen Zettel. Deshalb steckte er ihr Handy ein und nahm sicherheitshalber den alten Laptop mit, der im Regal lag. Vielleicht hat sie damit gearbeitet, redete er sich ein.
Ein letzter Rundblick, Gläser standen auch nicht herum, sie hatte ja noch gar nichts anbieten können, so schnell war er über sie hergefallen. Nach einem Blick durch den Türspion drückte er leise die Wohnungstür auf, seine Hand mit einem Papiertaschentuch geschützt. Er wischte noch den Klingelknopf und die Türklinke ab, schlüpfte hinaus, zog die Tür zu und stieg vorsichtig die altertümliche Treppe hinab.
Plötzlich öffnete sich leise quietschend die Haustür im Erdgeschoss, das automatische Treppenhauslicht ging an, allerdings leuchtete es das Treppenhaus nur unzureichend aus. Er konnte hören, dass ein Mensch hereingekommen war, der ihm auf der Treppe wahrscheinlich begegnen würde. Van Damme sah keine Alternativen, als zügig weiter nach unten zu steigen. Im ersten Stock begegnete er dem Mann, vielleicht gut zwanzig Jahre alt, in altmodischen Klamotten, dunkler, slawischer Typ. Ihre Blicke kreuzten sich im Dämmerlicht nur ganz kurz, dann war er vorbei und schlich unten zur Haustür raus. Gott sei dank hatte er den Wagen um die Ecke abgestellt. Aus anderem Grund, aber Vorsicht war nie falsch. Er drehte noch einige Runden durch verschiedene Bars, quatschte mit unbekannten Leuten, vielleicht könnte das als Alibi reichen, falls er eines brauchen sollte. Wäre dieser junge Kerl ihm nicht im Treppenhaus begegnet, wäre alles perfekt gewesen. Aber der würde ihn sicher nicht wieder erkennen, redete er sich zumindest ein. Er hoffte jedoch, dass das nicht schon der nächste Freier gewesen sein könnte, der die Nutte gleich finden würde.
»Na, wenn schon, mir kann keiner was«, sagte er leise zu sich selbst.
Der junge Mann war sich sicher, das war soeben der letzte Freier seiner jüngeren Schwester. Sie waren zusammen nach Deutschland gekommen, aus ihrem kleinen rumänischen Dorf nahe der Grenze zu Moldawien. Dort, wo es weder Arbeit noch Zukunft gab. Im gelobten Land wollten sie leben und arbeiten. Nun, es hatte ja auch geklappt, allerdings anders, als gedacht. Sie landeten beide in der Illegalität, ihr blieb nichts anderes als der Strich, er endete in einer Gang von Kleinkriminellen. Das letzte Jahr hatte sie in Mannheim zugebracht, erst seit wenigen Wochen war sie wieder in Stuttgart tätig. Zurück in seiner Nähe. Sechs Monate Knast hatte er gerade vor zwei Wochen hinter sich gebracht, jetzt brauchte er dringend Kohle. Deshalb der Besuch bei der Schwester. Er liebte sie zwar abgöttisch, hatte jedoch keine Skrupel, bei ihr zwischendurch mal Kohle einzustreichen. Für ihn war das ganz logisch, er war der Mann im Haus. Er drückte auf den Klingelknopf, einmal, zweimal, keine Reaktion. Vielleicht ist sie unter der Dusche, dachte er, zog seinen Schlüsselbund aus der Hosentasche und schloss die Wohnungstür auf.
»Ich bin's« rief er in Richtung Badezimmer und trat in das winzige Wohnzimmer. Gerade mal ein altes Sofa und ein in die Jahre gekommener Tisch mit zwei Stühlen schafften kaum besondere Gemütlichkeit. Er wunderte sich, dass sie nicht geantwortet hatte und auch keine Geräusche aus dem Bad zu hören waren. Er verließ das kleine Zimmer, schaute ins Badezimmer rein, nichts.
»Hier stimmt was nicht« hörte er sich sagen. Inzwischen hatte sich seine berufsbedingte Wachsamkeit eingestellt und er öffnete vorsichtig die Schlafzimmertür. Sie lag ganz gerade auf dem breiten Bett, beide Arme nach oben in Richtung zum Metallrahmen an der Kopfseite gestreckt. Ihr toter Blick drückte Unfassbarkeit aus, er war im Moment des größten Schreckens erstarrt. Ihm war sofort klar, seine Schwester lebte nicht mehr. Er wollte sie im ersten Entsetzen an sich drücken, zuckte dann aber zurück. Gänsehaut, ihn fror. Nach einigen Sekunden des Schocks gewannen jedoch seine eingeübten Reflexe wieder die Oberhand. Er hatte den Mörder gesehen, denn dass sie sich nicht selbst umgebracht hatte, war unzweifelhaft zu erkennen. Der Mann war ihm auf der Treppe begegnet. Er versuchte jetzt, sich ganz konzentriert an den Mann zu erinnern. Was war ihm aufgefallen? Mittelgroß, kräftige Figur, elegante Klamotten, Typ Geschäftsmann. Das Gesicht? Er wusste, dass er sich daran erinnern würde, auch nach langer Zeit. Der eine kurze Moment, als sich ihre Blicke trafen, genügte ihm. Er hatte schon immer ein phänomenales, fast fotografisches Personengedächtnis.
»Ich werde ihn finden, irgendwann. Das schwöre ich Dir, meine kleine Schwester. Ich habe nicht auf Dich aufgepasst. Ich habe Dich im Stich gelassen. Das wird unsere Mutter umbringen. Aber ich werde Dich rächen, das verspreche ich Dir.«
Als er doch noch vorsichtig ihre Augen schloss, überkamen ihn Traurigkeit und Hass zugleich. Er wollte rausschreien, »dieses Schwein hat sie umgebracht! Mein Gott, warum?« Aber es ging nicht. Die Polizei einzuschalten war nicht möglich, er konnte die Sache nur selbst verfolgen. Seine Augen wurden feucht, er wischte mit der Hand darüber. Mit einem letzten langen und unsäglich traurigen Blick auf die Tote verließ er das Zimmer. Er wusste, wo sie ihre Tageseinnahmen aufbewahrte und nahm die sechs Scheine mit. Er schaute sich noch einmal in der kleinen schäbigen Wohnung um und trat dann vorsichtig ins Treppenhaus, stieg die drei Treppen nach unten, öffnete die Haustüre und verschwand ungesehen im nächtlichen Nieselregen. Und dann fiel ihm plötzlich die Sponsoraufschrift am Hemdkragen des Mannes wieder ein: Zwei zusammenlaufende Großbuchstaben. Es sah aus wie ein V und ein D, wie er glaubte, sich zu entsinnen.
»Jetzt habe ich Dich, ich werde Dich finden.« Er brüllte diesen Satz hasserfüllt, jedoch fast euphorisch in die Nacht.
Fünfzehn Minuten später, exakt um 21.54 Uhr, ging bei der Notrufzentrale der Polizei in Stuttgart ein anonymer, nicht nachverfolgbarer Anruf aus einer öffentlichen Telefonzelle ein.
»In Karlstraße 18, drittes Stock, ist junge Frau ermordet, tot! Du kommen!«
Der Mann sprach in gebrochenem Deutsch und wahrscheinlich verstellter Stimme, wie die diensthabende Beamtin, die den Anruf entgegengenommen hatte, später aussagte. Und dann begann die Routine der Mordkommission anzulaufen. Ein Fall, wie viele andere. Wieder mal eine Nutte. Keine vorrangige Bedeutung, es wurde dennoch umfassend ermittelt, »business as usual«. Man ging die diversen Karteien durch nach Sexualtätern, nach auffällig gewordenen Freiern, man befragte die Nachbarschaft, verhörte Zuhälter, man mischte die Halbwelt auf, nichts. Wolle, der Barkeeper wurde nicht befragt, er hätte aber auch niemals etwas gewusst. Diskretion war sein Geschäft. Zwei, drei andere Mädels kannten die Tote zwar, konnten oder wollten aber auch keine weiteren Auskünfte geben. Ganz sicher trauten sie sich nicht. Amtshilfe aus Rumänien war schwierig bis unmöglich. Eine Kundenkartei, Handy oder ein PC waren nicht zu finden, ebenso wenig ein Taschenkalender. Die Suche nach fremder DNA hatte nicht viel Konkretes ergeben, die gefundenen Haare, Spermaflecken und Fingerabdrücke gehörten allem Anschein nach ganz unterschiedlichen Freiern. Ob da der Täter darunter war, ließ sich trotz intensiven Datenabgleichs nicht abschließend feststellen. Nach drei Monaten wanderten die Akten immer weiter nach unten, bis sie irgendwann bei den zwar offenen, aber ungelösten Fällen landeten. Neue Morde hatten Vorrang.