Читать книгу Perrudja - Hans Henny Jahnn - Страница 12

VIII

Оглавление

Das Pferd

Sassanidischer König

In manchen Augenblicken glaubte der Waldbesitzer von sich, daß er dumm sei. Stärkste Entscheide des Gefühls hinterließen eine Leere; schales Unbefriedigtsein. Sie wiesen keine Richtung. Schlimmer, er konnte sie nicht mit Namen benennen, nicht verdichten zu Richtlinien, Gesetzen.

Ich jauchze; ich weine. Ich beweise Gott; ich beweise ihn fort. Ich läute die Schöpfung mit tönenden Erzen ein; ich bespeie ihre peinigende Unvollkommenheit. Ich mühe mich, ein brauchbarer Mensch von anständigem Zuschnitt zu sein; ich suchte zum Verbrecher, zur Gemeinheit, zum Unflat. Raupe. Schmetterling. Herrlichen Pfirsich esse ich. Kot ins Grüne. Geilheit ist zweierlei: Vor und nach der Befriedigung.

Er fühlte das Bedürfnis nach Definitionen. Aber die Ansätze zu ihnen schwammen ihm fort mit den Fluten seines warmen Herzens. Dabei war er einsichtig genug, nicht an eine Unfähigkeit zu exakten Formulierungen bei sich zu glauben. Er entbehrte, bei aller Bereitschaft zu ihnen, die Anlässe, die glückliche Konstellation, die dem Werk des Philosophen erst die Geburt gaben. Jemand hatte geschrieben: Seele, Form der Formen. Er katechisierte: was ist das?

Klarheit gewinnen mittels der Metamorphose zum Realen. Auch die Begriffe erhärten sich am Existenten. Auch die Seele erweist sich erst am Geschaffenen. Ohne Betätigung am Stofflichen ist sie Hypothese wie der Raum, wie der Ablauf der Zeit. Sie muß sich betätigen. Form sein, in die, welcher Stoff auch immer, hineingegossen. Erz schämt sich nicht, einzufließen in dunkle Lehmmäntel. Erstarrt in Geduld. Wenn grobe Hämmer die Hülle zerbrochen, ist es eine Glocke oder eine Mordwaffe.

Die erste Stufe.

Zwischenfrage: Wer der zweie ist tugendsamer oder verwerflicher: eine Glocke, die zersprungen nicht tönt; eine Kanone, die zersprungen nicht tötet?

Die zweite, das sind die Hände, die den Ton kneten. Wir entrinnen (unsere Seele entrinnt) unserem Leibe nicht. Wie es geschrieben steht, wenn man es richtig erfaßt.

Ich kann das Schöne und Häßliche zum Munde hinausgeifern. Es ist kein Unterschied, wenn zu beidem in meiner Seele, der einen, der hypothetischen, die Möglichkeit. Da ist die Sprache, die der Nächste nicht versteht, weil er meine Seele nicht kennt (gelb), denn die Sprache ist auch eine Einheit des Schönen und Häßlichen, Spiegel der Seele, wenn sie nicht lügt (wozu wir mehr gezwungen werden als willens sind). Was in dir seinen Platz gefunden hat, ob es auch unwahrscheinlich sei, muß sich durchdringen wie Kristalle, die benachbart wachsen. Es ist eine Einheit.

Trost für deine niederen Gedanken, für deinen Bauch, für deine Hände, für den Samen in dir, daß dein Hirn zuweilen milde und gütige Bilder träumt, vom Opfer, das du bringen willst. Opfer der Selbsthingabe, Aufgabe, des Verlierens.

Daß das Wachs deiner Zunge ein Wort findet, nach dem du mit Händen greifst wie nach reifem schönen duftenden Obst!

Roßmäulige Schenkel einer Göttin.

Im Wort soviel Milde, Weichheit, ewiger Bestand unserer Lendenfreuden.

Gib eine Klarheit deines Geistes, die niemand vorgedacht! Gib aus ureigenstem Anlaß ein Wort, das wie ein Götze aufgestellt werden kann!

Wir sind Masse Mensch. Wir sind ein Durchgang.

Nicht das.

Roßmäulige Schenkel. Meine Seele. Rehäugige Knospen der Brüste. Saphirnes Dunkel des Nabelgrübchens. Dichtung. Man könnte Verse daraus.

Roßmäulige Schenkel warten mein.

In Knospen der Brüste, rehäugig,

bett ich, saphirhaft umdunkelt, mich ein.

Es wird gelacht. Die Spottvögel singen:

Wir machen uns die Hosen weit

und kacken in das Grün zu zweit.

Luzifers Sturz, der uns nur erspart bleibt, wenn wir lügen.

Wer wartet meiner: Milde Göttin oder Hure?

Mein warten roßmäulig weich

goldene Schenkel, moosig wie Tau.

Knospende Brüste, rehäugig braun,

zieren dich, allerschönste Frau.

In deines Nabels tiefes Rund

bett ich erlöste Tränen ein

und wünsch mit lallend halbem Mund

sie würden blau Saphirenstein.

Wen meine ich? Unbekannt. O Tollheit! Vielleicht ist die durchblutete Milz der Sitz unseres Daseins. Die Japaner töten sich, indem sie die Tiefrote mit einem Dolche öffnen. Daß sie sich in die Eingeweide ergießt. Das Ernährte über die ernährenden Organe wie Same.

Die Seele – Absud einer guten Ernährung

der Hauch Gottes in uns

Form der Formen

Ich sage euch, ich sage euch: Eure Gestalt, das ist eure Seele. Was eure Hände können, was euer Mund kann, was eure zeugende Kraft kann.

Man darf in bezug auf die Seele keine Behauptung aufstellen, ohne sie beweisen zu können.

Der tote Glaube, das ist die Lüge.

Tisch, Stuhl, Bett und Haus, Mond und Sonne, Saus und Braus, Wind, Regen, Mühle, Trog und Stall, all überall, Knall und Fall, Rauch und Asche, Schall und Flasche, Stock und Tasche, Buhl und Blasche, Kemp und Tremp und Blemp und Kotz und Kater, Mutter, Amme, Kind und Vater, Suppenlöffel, Reichsberater –

Sieh da, ein Schiff gleitet über den Helgen ins Wasser. Und die Schmierseife rotzt sich gegen das neue Eisen. Neue Eisen reimen gut. Eine Sentenz.

Es gibt mehr Sentenzen in der Welt als Gegenstände auf die sie passen. Junge Huren, alte Betschwestern, junge Betschwestern, alte Huren.

Geist, die Palette eines unbekannten Malers.

(Seele – mein Leib)

Geist, das Feigenblatt der Seele.

Das war nach den langen Tagen kleiner süßer Zärtlichkeiten, an denen liebkosende Gebärden in erschöpfender Mannigfaltigkeit von seinen Händen gekommen waren. Abende, hin und wieder, die gar nicht anders ausrinnen konnten, als daß er versuchte, sich von sich selbst zurückzuziehen. Was auch hätte ihn stützen können, wäre der Zustand in Permanenz getreten:

Himmel, Fimmel, Bimmel, Bam, Ritze, Zitze, Kitze, Stamm, Mehl und gehl, weiß und fehl, fahl und fuhl, messing muhl, Stange, Stuhl, Mahl, Saal, Tal.

Er war satt an einem unaussprechlichen Glücksgefühl, namenlos. Darum die Sucht nach Namen, Gleichnissen, Worten. Er wußte nicht, daß er angetrieben war, Kenntnisse zu suchen, die außer ihm standen. Er griff nach Büchern und las.

Die Tatsachen, die er aufnahm, brachten ihn in eine fast unnatürliche Erregung. Gewiß mußte er alles Geschehen, die Leidenschaften, von denen die Bücher erzählten, als in unüberbrückbarem Gegensatz zu der Richtung seiner Sehnsüchte und Triebe empfinden. Die andere Welt stieß ihn in eine Einsamkeit, die trotz des genossenen Glückes einer unermeßlichen Katastrophe gleichkam.

Potz und Blitz, Rotz und Schlitz.

Vergebens wehrte er sich gegen den Ansturm der Fremden mit der Überlegung, daß ja nur kraftlose Worte zu einer Fabel sich geschlossen, daß nur der Nimbus anderer Lebensformen sich so beharrlich gegen die seinen drängte, daß im freien Wettkampf sein eigenes Leben nicht arm versickern würde wie ein Rinnsal im Wüstensand.

Er wußte, er liebte die harten Leidenschaften, an denen die Zufallsgeschichte der Menschheit sich bildete, nicht. Die Grausamkeit, Unerbittlichkeit stießen ihn ab. Er haßte Napoleon, den Tschingis Khan, Karl den Sachsentöter, den heiligen Olaf selbst und Tordenskjold. Er suchte Schutz bei dem Ethos großer und erhabener Ideen; in seinem verzweifelten Sichanklammern leugnete er, daß auch sie erst an der Erfahrung des Weltgeschehens sich erhärten müßten, um segensreich werden zu können.

Aber die Unheimlichkeit der nicht zu leugnenden Tatsachen bedrängte ihn sehr. Er griff zu den Äußerungen der Dichter. In einem enttäuschten sie ihn mehr als alle Philosophie und Geschichte, daß sie die Leidenschaften noch heftiger, unvermittelter, eindeutiger beschrieben. Dabei verstanden sie es, sie mit den Proportionen eines innerlichen Gleichgewichts, mit dem Gesang einer geordneten Sprache zu verteidigen.

So erregten sie ihn tiefer noch als die Sagen des Lebens. Mit Zorn wandte er sich von ihnen ab. Und war ihnen doch verfallen. Es gab eine Wahrheit, die er mit Tränen in den Augen leugnete. Die Menschen quälten und vernichteten einander mit ihren Süchten. Sie waren blind. Selbstgerecht. Und keine Liebe, keine Seelengröße bewahrte sie vor dem Verbrechen.

Otto Heinrich Leopold Ulfers, dreizehn dreiviertel Jahre alt. Richard Budde, zehn Jahre vier Monate alt.

Odd Torbjörnson, zwölfeinhalb Jahre alt.

Edgar William Duus, fünfzehn Jahre einen Monat alt.

Arthur Eumert Liebe, vierzehn Jahre und drei Monate alt.

»Kommt, wir gehen in den Stadtforst. Wir werden auf etwas Lustiges finden. Kommt. Ich weiß einen schönen Platz.« Das sprach der Älteste.

Sie gingen über Hügel, über goldene Kiesel, schwarze Mondsteine, über Moose, Kraut und Busch. Vom Wege ab. Doch unter dem Himmel. Matt schwarz und grün. Und safrangelb – von den Sonnenkeilen.

Sie kamen an einen Teich. Sie spielten nicht. Sie lachten nicht. Sie schwiegen. Bulle mit Nasenring. Schweine kochend in Schlachttrögen. Nur der Jüngste lachte, Richard Budde, zehn Jahre vier Monate alt. Er verstand nichts. Nichts vom violetten Himmel und den zitronengelben Sonnen, nichts vom Staubregen, nichts von den Granitplatten auf den Bürgersteigen, die durch dunkle Fugen voneinander getrennt waren, auf die man nicht treten durfte, sollte kein Unglück geschehen, nichts vom Schweigen, nichts davon, daß man täglich fallen mußte und sich die Kniee zerschlagen. Da haßten alle den Kleinen. Otto Heinrich Leopold Ulfers haßte nicht wie die anderen. Er war feige und verstockt und scheute sich, blutig geschlagen zu werden. Das ertrugen die Kameraden nicht. Sie stießen ihn von der niedrigen Klippe, auf der sie standen, hinab in die Wassergrube. Sie sahen ihn mit den Armen kämpfen und untergehen.

»Jetzt ist die Reihe an dir«, sagte dann der Älteste zum Jüngsten. Und befahl den beiden anderen, daß sie ihn hielten und ihm die Taschen mit schwarzen Mondsteinen füllten, mit feuchten, fettigen. Der Vergewaltigte schrie. Er verstand nichts. Verstand nichts von den safrangelben Sonnenkeilen. Zehn Jahre vier Monate alt. Sie versenkten ihn. Etwas feierlicher als sie den Leopold Ulfers hinabgestoßen. Und standen dann zusammen. Zu dritt. Keiner floh.

»Töte mich! Laß Odd aus«, sagte Arthur Eumert Liebe.

»Nein«, entgegnete der Älteste.

Odd Torbjörnson war niedergekniet. Er öffnete seine Lippen nicht. Marmorweißes Kinn. Hingabe. Rauchdunkler Regen vom Himmel. Seine Stirn war verführerisch. Edgar Duus hob einen Granitbrocken und schlug in sein Hirn. Ein wenig Blut floß. Nicht übermäßig viel. Der Älteste füllte ihm die Bluse mit Steinen. Die beiden nahmen die Leiche und versenkten sie in den Teich. Arthur Eumert benagte eine seiner Lippen.

»Aesj, wir wollen nicht hier liegen. Komm!« sagte Edgar Duus. Er legte den Arm um des Jüngeren Schultern. Sie schritten rasch aus. Sie kamen an ein Klippenfeld. Aufeinander gerüttelte Felsblöcke. Enge Höhlen zwischen den Steinen. Schlehndörner und Buschkiefern verbargen die Eingänge. Auf dem Bauche krochen sie in einen der unzugänglichsten hinein. Edgar voran, dann der Jüngere.

Dunkelheit in der Höhle. Feucht. Sie fanden Platz neben einander, liegend. Sie berührten einander. Der Ältere reichte dem Jüngeren stumm ein Dolchmesser. Packte ihn bei den Armen, verschränkte seine Beine um ihn, wuchtete ihn über sich. Heißer Atem der zwei mischte sich.

»Töte mich, töte mich«, sagte der Jüngere.

»Nein, du sollst mich töten. Ich kann nicht leben.« Er nahm des anderen Hand und jagte sie gegen seinen Hals. Ein warmer Blutstrahl spritzte dem Jüngeren ins Angesicht und verklebte ihm die Augenlider. Er wollte sich erheben, doch schlug er mit dem Kopfe gegen den Felsen, sank zurück auf den Körper des Sterbenden. Er wagte nicht, allein zu bleiben. »Er wartet auf mich. Mein Freund.« Da fand das Messer den nackten Hals des Letzten.

Es gab eine kalte Geistigkeit, die er meinte verabscheuen zu müssen. Sie erschien segensreicher für das Leben der Menschen als all das warme Blut, das sich helfend vergießen wollte.

Daneben das Mißverständnis, das die Menschen gegeneinander trieb. Schier unfaßbar war seine Macht, so irreparabel seine Schädigung. Diese Saat, die aufging: Mißtrauen, Verschweigen, Befangenheit.

Die Tränen nach der Lektüre eines Buches konnte er niemals auf einen einfachen Grund zurückführen. Vergebens der Versuch, seinen Antrag und seinen Widerspruch zu formulieren. Die Tatsachen entwaffneten ihn.

»Ich erkannte und vernahm Edgars Leib. Ein wunderliches Grausen durchrann mich. Das Bewußtsein meines eigenen Körpers erhob sich zum erstenmal in mir. Es war, als ob jenes Organ aufsproßte in der feuchten, frühlingssatten Erde. Und es war, als ob wilde Säfte in uns beiden gärten. Von modriger Erde, von saurem dängelnden Aprilgras, von den Harzknospen der Dornen.

Ich erkannte nun auch sein Angesicht. Es erschien mir nicht mehr so spöttisch und raubvogelartig, es erschien mir schöner und stolzer. Sein Kinn leuchtete wie mattgoldene Bronze. In seinen Augen war wieder der bleiche Mondenschein.

Es kam seltsame Lust über mich, meine Finger in das Loch seines zerrissenen Strumpfes zu stecken. Eine weiße behaarte Haut schimmerte hindurch. Ich setzte meine Finger auf seine behaarte nackte Haut.

Ich hatte ein seltsames Gefühl. Mein Freund, Edgar William Duus war tot. Er wartete auf mich.«

Sie waren folgerichtig, wenn auch von abscheulicher Deutlichkeit, von beleidigender Strenge. Auf Sekunden dämmerte es in ihm, daß seine Tränen ihm selber gölten, einem Mitleid für sich selbst entsprängen, weil ja sein Leben ungewiß vor ihm lag, kein Freund ihm anhing, keinem er selbst. Weil er hineingestoßen werden würde in die zertrümmernde Logik des Allgemeinen. – Dem jene entgangen waren. Gegen seine Tür würde, vielleicht nach Jahren erst, der Tod pochen. Bis es so weit gekommen, würde er Bitternisse kosten müssen, und sei es auch die eine nur, quälender einsamer Krankheit.

»Es kam seltsame Lust über mich, meinen Finger in das Loch seines zerrissenen Strumpfes zu stecken. Und so unausweichbar war jenes Leibes Macht für mich, daß ich mich neben ihm ausstreckte und mich auf des Toten Arm fallen ließ. Ich lag und dachte an all unsere Spielplätze, an meine tote Mutter, derer ich mich nicht erinnern konnte. Und ich wagte nicht länger allein zu sein.«

Nun ließ er die Geschicke an sein warmes Herz heran. Sein Zorn gegen die Dichter verlor die Empörung des blinden Entrüstetseins. Er versuchte eine freundschaftliche Kritik, die allmählich, gemäß seinem Temperament, in Milde umschlug. Das Leid der Menschheit quirlte durch tausend Schleusen in seine Brust. Er sah nur noch den Kummer. Die Freude schien so kurz, weil das Leben kurz war. Keine Erfüllung schien Hilfe zu geben, weil jeder neue Tag den voraufgegangenen mit anderem Lichte auslöschte.

Safrangelber Himmel

Violetter Amethyst

Schwarzer fettiger Mondstein.

Er mußte den Leidenschaften der Menschen als berechtigt zustimmen. An diesem Rückzug in die Festung der Wahrheit hinein entstand die Anerkenntnis der historischen und vitalen Notwendigkeiten, deren Mißbrauch durch teuflisch Ehrgeizige er nicht abgrenzen konnte, denen er als Einsamer somit ausgeliefert wurde wie ein Verbrecher dem Tribunal. Er verfing sich in dem Kreuzverhör. Er verneinte das Gute und bejahte das Böse. Es verkehrten sich ihm die Begriffe. Schiffbrüchig. Wein im Becher – Palast von Babylon. Zeichen an kalkiger Wand. Es erdämmerte für ihn nur eine Rettung: Müdigkeit, Feigheit, Lüge, dazu sein Herz, das zwar keine Worte erfand, keine Definitionen, keine Formulierungen, das dennoch nach schön und häßlich entschied.

Safrangelber Wein,

amethystenes Glas;

schwarze sterbende Lippen,

mondsteinfettig und naß.

Hatte er sich über seinen Büchern abgefunden mit dem Ablauf der Existenzäußerungen in ihren Mannigfaltigkeiten, Widersprüchen, sprunghaften Gluten, mit Tiefen und schalen Formeln, mit ihren Normierungen der Begriffe und Reagenzen, mit typischer Gliederung nach physiologisch bedingten Varianten. War also vor ihm das geistige Bild des Menschen von der Kraft bis zur Hysterie wachgeworden, vom Fötus bis zum Greis, vom Liebhaber bis zum Kastraten, von der Schwangeren bis zur Kindesmörderin; dann mischte er eine nicht nennbare Liebe unter die gedruckten Zeilen; seine Phantasie verdeutlichte fast über Gebühr den Sinn, machte ihn offen, selbst roh und entblößt.

Sie haben sich vor ihrem Tode betastet.

So erkannte er, der abgeschlossen von den Menschen, ihr Wesen ungeschminkter als die Nachbarn, die bei der Vielheit ihrer Mitwohner fast blind wurden an den Lügen und hämischen Entstellungen, die als Kleider dienten.

Sein Herz aber tauchte den Buchstaben nicht nur in eine Farbe; er leitete seine Aufmerksamkeit vor allem zu solchen Ereignissen, die für ihn selbst erhöhte Bedeutung erlangen konnten. Liebesgeschichten nahm er mit nicht mehr sachlicher Teilnahme hin. Er war Partei und wünschte wie nichts so sehr die Vereinigung der Liebenden. Deren Eigenschaften im Körperlichen und Geistigen er sich von heldenhafter Vollkommenheit dachte. Ihren Schwächen gegenüber, die ihren Karakter eingrenzten, war er nachsichtig, väterlich. Sie mußten schon große Verstöße gegen den Rhythmus seiner Gesinnung begehen, ehe er leicht zu zürnen begann. Daß sie nur unentwegt mit vollen Segeln im guten Winde einer nicht wetterwendischen Liebe lagen!

Es hatte die übertriebene Nachsicht, das Mitleiden, Mitbangen, Mitplanen, Mittaten eine gute Erklärung darin, daß er fern der Wirklichkeit, ohne Erfahrung, ohne persönliche Erlebnisse, in denen sich das Fremde vergleichen und spiegeln konnte. Die Vereinigung zweier Menschen war ein Märchen, in dem, kraft einer Grundgesinnung der Helden – ihrer Liebe nämlich – es nicht als Verstoß gegen die Gesetze von Vernunft und Gerechtigkeit, des Erhabenen und Schönen empfunden wird, wenn sie durch die Wunder geheimnisvoller Realitäten, die nicht Attribute ihrer Existenz, siegen: als Unverwundbarkeit, nicht welkende Jugend, Tarnkappen, verborgene plötzlich aufgefundene Schätze, Schwerter, Schilde, Panzer, die gefeit. Die Gesinnung der Liebenden schien sich auszuprägen in der übermenschlichen Schönheit, die seine nach innen gerichteten Augen ihnen andichteten. Aus den dunklen Ahnungen, aus den blanken gebrochenen Flächen geschliffener Edelsteine, die das Licht veränderten, schaffte er –

In der Historie fand er zuweilen Episoden überliefert, die noch heftiger als die menschlichen Handlungen zu seinem Leben in unmittelbare Beziehung traten. Alexanders Hengst Bukephalos. Jener lange Ritt: Tyros, Arbela, Babylon, Susa, Persepolis, Ekbatana, Herat, Kabul, Samarkand, Tal des Indus. War nicht das Pferd der Held? Nicht der makedonische Reiter. Brauchte es noch eines Beweises? – Daß der Mensch nicht hochmütig würde, gaben die Götter ein Zeichen. Aus dem Sand der indischen Wüste scharrte das Pferd mit seinen Hufen, während Alexander es ungeduldig anzutreiben versuchte, drei weiße Edelsteine, groß wie Straußeneier.

Perrudja hätte sicherlich sein geliebtes Füllen nach dem Helden jener abenteuerlichen Straßen benannt. Er wurde gehindert durch das unterschiedliche Geschlecht.

Er erlangte auch Kenntnis von dem berühmtesten Pferde der iranischen Sage, dem Hengste Rakhsh, den der Dichter Firdosi also beschrieben hat: »mit einer Brust wie ein Löwe, kurzer Kruppe, fetter Brust und Beinen, aber schmalen Flanken, ein Elefant an Kraft, ein Kamel an Wuchs, aber an Mut ein Panther vom Berge Bistun.«

Vergleiche, Nahrung für das heimliche Glaubensfeuer, das aus der Vorstellungskraft die Geburt von Fabelwesen beweisen will. Wunder des Bastards. Wunder der Liebe. Wunder der Schwangerschaft, der Geburt, des Lebens. Hengst Rakhsh.

Aus quellreichen Wiesen und Wüsten abwechselnd wachsen Felsen auf wie gläsern und Marmor. Nicht weiß nur, rot durchzogen von wilden Adern. An den Quellflüssen entlang, durch die schwarze korundene Wüste, über Pässe zwängt sich ein Weg, den Menschen gebahnt. Des Nachts, wenn er leer, wandern Fabeltiere die weite Straße nach China, das unermeßlich im Osten. Halb Pferd, halb Tiger, der große Vogel Greif, das Geschlecht der Hippokampen, geflügelter Löwe mit bärtigem Menschenkopf, Weib, das bis zum Nabel einem Raubtierkörper entwachsen, Mann, Rind gleich, vom Bauche an, Pazuzu, vierbeschwingter Mensch mit Hörnern an der Stirn, Südoststurm, die Stimme der Schweigsamen. Voran ein Kopf, schwer wie die Hörner eines Widders, gewunden, spiralig nach der Form riesiger Ammoniten, gekörnt wie Erz, das in der Form verbrannte, umrahmt von brauner Wolle, dick und zottig, die wie Mähne eines Löwen fließt, bebändert mit einem Flügelpaar wie einer Taube Schwingen; schmal fällt der Leib dann ab, wie einer Katze Leib; doch als Zeichen, daß der Kopf nicht nur ein Prunkstück, prangt zwischen den schmalen Schenkeln die Last der Hoden wie von einem Stier.

Nach Osten über die schneeigen Pässe in das Reich der vielgestaltigen Geister dringen sie. Und die Menschen ahnten ihr Kommen, weil sie den Samen, der sie erzeugt, geahnt, Wollust und Schmerz eines Beischlafs, die manchen unter ihnen nicht erspart geblieben waren. Fleißige Seidenweber hatten der Bastarde Gestalt schon auf die Tücher gebannt in rot und gold auf schwarzem Grund.

Schwer nur löste Perrudja sich aus der Umklammerung jener Wirklichkeit, die jahrtausendelang für jedermann gültig gewesen, und die im Rationalen unterbaut war durch die beispiellos große kasuistische Literatur der Geburtsomina in Alt-Babylon; zu schweigen von den gehäuften Zeichen aus den Gebieten des Irrationalen. Wie sie noch jetzt existent in Träumen und für Irre (nach dem Spruch der andern), die nicht länger auf dem Kreuz der vier Richtungen, die da heißen: positiv, negativ, rational, irrational, mit der großen Null im Schnittpunkt, sich frei bewegen können.

Vom Weibe geboren.

Sie nennen den Vater nicht.

Der Ungeliebte ist betrogen.

Es wird nicht verraten, wer ungeliebt.

Vom Weibe geboren. Ich. Du. Wir.

Krüppel. Lahme. Hinkende. Blinde. Taube. Blöde.

Kinder mit mißgebildetem Mund. Kinder mit mißgebildeten Lippen. Kinder mit mißgebildeter Nase. Kinder mit mißgebildeten Ohren. Kinder mit mißgebildetem Kiefer. Kinder mit mißgebildeten Armen. Kinder mit mißgebildeten Händen. Kinder mit mißgebildeten Fingern. Kinder mit mißgebildeten Hüften. Kinder mit mißgebildeten Beinen. Kinder mit mißgebildeten Füßen. Kinder mit mißgebildeten Zehen. Kinder mit mißgebildetem After. Kinder mit mißgebildeten Genitalien. Kinder mit verfärbter Haut. Kinder mit verwucherter Haut. Kinder mit verkümmerten Zähnen. Kinder behaart wie ein Tier. Kinder bebartet wie Erwachsene. Fünf Monate getragen. Sechs Monate getragen. Sieben Monate getragen. Acht Monate getragen. Neun Monate getragen. Zehn Monate getragen. Elf Monate getragen. Zwölf Monate getragen. Dreizehn Monate getragen. Vierzehn Monate getragen. Auf ewig versteint im Schoße der Mutter. Menschenleiber mit Tierköpfen. Vierbeinig, zweibeinig. Tauben. Adler. Krähen. Schafe. Pferde. Ziegen. Kühe. Schweine. Esel. Löwen. Vom Weibe geboren.

Die Klebrigkeit seines Speichels im Munde nahm zu. Er fühlte sich wieder hineingeworfen in einen Zwiespalt, der nichts Besseres zu beabsichtigen schien, als ihn zu zerfetzen. Er fühlte gleichzeitig die Lüge und Wahrhaftigkeit seiner ungewöhnlichen Lebensführung, mit der er sich schmerzlich behaftet fühlte, weil sie ohne Humor, ohne leuchtende Entspannung.

DAREIOS, SOHN DES HYSTASPES, HAT DURCH DIE TUGEND SEINES HENGSTES UND DAS VERDIENST SEINES STALLMEISTERS OEBARES DAS KÖNIGREICH DER PERSER ERWORBEN.

Perrudja

Подняться наверх