Читать книгу Perrudja - Hans Henny Jahnn - Страница 6
II
ОглавлениеLars Grisung – übrigens ein stolzer Mann, der seinem Namen gern etwas von der Allgemeingültigkeit zu nehmen sich bemühte, indem er durchblicken ließ, daß zwischen seinem Geschlecht und dem alten der Galtunger im Gudbrandstal gar kein Unterschied sei (ob etwa ein Eber kein Schwein, und ein Schwein nicht Eber sein könnte) – rüstete sich zu Weihnachten, den alten Vater seiner Hausfrau zu begraben. Die Ortschaft, in der der Verstorbene einen Hof besessen hatte, war vier Tage Schlittenfahrt von der Heimat Grisungs entfernt. Ehe Lars mit seinem Gefährt im Trauerhause angekommen war, hatte der alte Mann schon volle drei Wochen unbegraben im Sarge die eisige Kälte des Gebirges gefroren. Die Magd, die alles Getier in Überarbeitung seit dem Tode des Alten allein betreut hatte, da der Hofbursche plötzlich träge geworden und von Gespensterfurcht befallen war, so daß er nur während der wenigen lichtgrauen Stunden des Tages auf dem Hofe zu halten war, (Gott mochte wissen, in welcher Magd Bett er schlief) half Grisung, den Deckel des Sarges zu schließen. Nachdem er festgestellt, daß der Tote wie ein Stock hartgefroren dalag. Auf dem Kirchhof war ein unförmiges Loch in den Boden gebrochen worden. Sobald der Sarg hinabgelassen, bedeckte man ihn mit Geröll aus faustgroßen runden Kieseln. Mit einem melankolischen Psalmsang von einigen zwanzig Versen erledigten zehn Männer frierend hinter der Mauer einer weißgetünchten Kirche das traurige Ritual. Lars bemerkte, daß das Gemäuer des Bauwerks wie verquollen sich vorbuchtete. Alter. Wahrscheinlich vom Druck der rohgemauerten Gewölbe. Der Geistliche hatte wegen ungünstiger Eisverhältnisse nicht über den Fjordarm gelangen können. Er traf, unerwartet, achtzehn Stunden nach vollzogenem Begräbnis ein und benutzte die Gelegenheit seiner Anwesenheit dazu, zwischen den kalkigsteinernen Eiswänden der Kirche eine Bibelstunde zu zelebrieren, die von einem halben Dutzend alter Leute besucht wurde. Allesamt reif fürs Grab. Darum nahmen sie die Gefahr einer tödlichen Erkältung auf sich.
Das Leichenfestessen, so trefflich vorbereitet es war, blieb ohne Fröhlichkeit. Die Öfen glühten. Die Rahmgrütze schied sich wunderbar in Butter und Brei. Ausgelassenheit, wie es sich gebührt hätte, kam nicht auf. Den Grund dafür suchte man hinterher darin, daß Gutten vergessen hatte, im richtigen Augenblick, zum Zeichen einer eben angetretenen Himmelspilgerschaft, die Flagge am Mast vor dem Haus ganz aufzuziehen. Lars selbst beschlich sich, er sei die Ursache; weil er keinen der verhältnismäßig zahlreichen Gäste auch nur von Ansehen kannte; zudem begann die Erbschaftsregelung ihm Sorge zu machen. Denn der Bruder seiner Frau, eigentlicher Erbe des Hofes, war zum Begräbnis nicht eingetroffen, obgleich ihn die Nachricht vom Tode des Vaters erreicht haben mußte, war der Brief, der die Mitteilung enthielt, doch eingeschrieben gesandt worden. So hatte Gutten berichtet. So hatte die alte Magd berichtet. Lars war ein rechtlicher Mann, ein frommer Mann, vor allem ein stolzer Mann. Darum hoffte er nicht, daß seinem Schwager, der übrigens noch ohne Weib und, soweit man wußte, ohne Nachkommen war, etwas Böses zugestoßen sein möchte. Er erhoffte es nicht; aber er erwog die Möglichkeit. Fünf Tage noch nach dem Begräbnis verbrachte er auf dem Hofe seines Schwiegervaters. Am sechsten begann er die Rückreise nach Atna. Er ermahnte Magd und Burschen, teilte Ratschläge aus, ging zum letztenmal durch die Ställe.
»Junge«, sagte er, als sie zu zweien bei den Pferden standen, »ihr habt keine Arbeit für das Prunkstück des Alten. Der hat viel Geld damit vertan. Ein teures Pferd. An was mag er gedacht haben, als er es kaufte? Die Fjordingpferde taugen für euch. Ihr habt zwei davon. Was soll das große Tier hier ausrichten? Ich nehme es mit mir, daß es nicht verkommt. Sollte meiner Frau Bruder eintreffen, sagt es ihm. Ich will es nicht geschenkt. Wird es gewünscht, kann ich es zurückgeben.«
Er führte eine schwarze blanke Stute aus dem Verschlag. Vor seinen Schlitten schirrte er sie. Das eigene Pferd band er hinter sich am Fahrzeug fest. So trabte er die neue Straße nah am Fjord entlang, heimwärts. Im Schiefergeröll gegen den Berghang wanden sich verkrüppelte fahle Birkenstämme. Die Straße war aufgefüllt mit glattem Schnee. Die großen Schutzsteine am Wegrand verschwanden beinahe. Das Wasser lag versenkt, schwarzgrün vereist unterhalb der Straßenmauern. Die Luft stand wie gebannt, taub, abweisend. Der einsam Dahinziehende war eingepreßt in eine fast schmerzende Verlassenheit, die wie die Vorstufe des unnatürlichen Wunders ist.
Als Lars am zweiten Tage seiner Reise auf einer Skyßstation übernachten wollte – es war noch verhältnismäßig früh am Tage, doch die Nacht war schon samtschwarz, und die nächste Station erschien ihm zu entfernt – kam auf der Schwelle der Tür sein Schwager ihm entgegen. Pferde und Schlitten hielten noch auf der Straße, beschienen von einer hoch angebrachten elektrischen Lampe. Die Männer begrüßten sich nicht. Erstaunen machte sie verhalten.
»Was, zum Teufel, beginnst du?« rief der Schwager statt aller Anrede als erstes, »du kommst von meinem Hof. Du hast eines meiner Pferde gestohlen. Erwartet habe ich von dir nichts anderes. Aber ich bin früh genug auf dem Wege es zu entdecken. Ich, Bursche, bin helle, um mein Eigentum zu nehmen.« Sprach’s lachend und schreiend, band das Pferd Larsens vom Schlitten. »Das ist mein Eigentum«, hob er hervor, »und du bist ein Dieb.«
Lars erbleichte. Er brachte kein Wort über die Zunge. Plötzlich gab es in ihm eine Erleuchtung. Er bestieg wieder den Schlitten, fuhr davon. Grinsend blieb der Schwager mit dem Pferde Grisungs zurück. So kam eine der prächtigsten Stuten Norges nach Atna. Lars sammelte die Bewunderung, die seine seltsame Erbschaft ihm einbrachte, mit Genugtuung ein. Es gab bald genug Leute in den Ansiedlungen, die eine Vereinigung zwischen seiner Stute und dem Hengste Gaustads sich zum Schauspiel wünschten. Die erfahrenen Bauern machten betrübte Mienen und erklärten, der schwarzen Farbe wegen sei das Schaustück nicht aufführbar. Lars fürchtete das gleiche. In der Krambude von Hus standen die Männer, spieen in die aufgestellten Emailleeimer braunen Speichel, abgepreßt durch Nelken und Tabak, unterhielten sich über die Möglichkeit der Paarung jeden Tag aufs neue. Sie hatten Langeweile. »Nein.« »Ja.« Es bildeten sich zwei Parteien. Leif Huseson gehörte zur Ja-Partei, Mickael Morsen zur Nein-Partei. An einem Sonnabendnachmittag betranken beide sich bis zur Bewußtlosigkeit, gerieten in Streit ihrer geteilten Meinung wegen. Sie zogen ihre Dolchmesser und trugen sich den Zweikampf ohne Vorhandel mit zwei Zoll Stahl an. Also stachen sie aufeinander ein. Leif mußte sein Leben lassen, Mickael erhielt das Messer von dem Sterbenden, dessen Seele vor Trunkenheit sich nicht darauf besinnen konnte, daß sie eine lange Pilgerschaft anzutreten habe, in den Bauch gestoßen. Nachdem die Ärzte ihm oftmals die vernarbte Wunde geöffnet hatten, um bis an seine Eingeweide vorzudringen, die nicht aufhören wollten, von innen zu eitern, er also hatte leiden müssen wie ein Baumfrevler unter seinen Vorfahren, sprach das Gericht ihn frei von Strafe. Er wanderte nach Amerika aus. Er hoffte, dort ein Weib zu finden. In seiner Heimat erzählten die Mädchen sich unappetitliche Geschichten von der Verunzierung seines Leibes.
Perrudja erschien nach dem blutigen Zwischenfall bei Lars Grisung und bat, die Stute sich ansehen zu dürfen. Als er das Pferd geprüft, sagte er. »Ja.« Lars zog die Lippen herab, daß es neben seinem kurzgeschnittenen Bart eine tiefe Falte gab und antwortete: »Nein.« Nach wenigen Augenblicken war eine Wette abgeschlossen. Verlor Perrudja, so sollte er Grisung den doppelten Wert eines Füllens bezahlen, außerdem die Kosten für den Weidegang. Gewinnend erhielt er das Füllen als Besitz, es möge lebend oder tot sein. Der Waldbesitzer empfand nach dem Abschluß dieser Wette den ungekannten Reiz einer peinlosen Befriedigung. Es war, als ob Gezeiten in seine Tage gekommen waren. Er eilte sofort zu Gaustad, teilte ihm den Inhalt der Wette mit, bezahlte als kleinen Tribut an das Schicksal im voraus die Kosten des Weidegangs. Der Gutsbesitzer schüttelte mit dem Kopfe, strich das Geld ein. Er sagte ein paar höfliche Worte zu dem jungen Mann.
Perrudja stapfte durch den tiefen Schnee seiner Behausung zu.
Er würde nicht vor Mitternacht dort anlangen können. Er trällerte vor sich hin. Er sah nicht, dachte nichts und war doch erfüllt. Erst als er vor seinem Hause stand, erwachte er aus dem Summen, das er sich durch die Zähne geblasen hatte, bemerkte, daß hoch am Himmel ein kreidebleicher Mond stand, weiß auf den weißen Schnee herabsank. Es fror noch. Er stellte es fest. Auf der Haut saß ihm die Kälte. Er würde Feuer in seinem Ofen entzünden müssen. Bald, bald aber würde der Schnee von den Tannen nieder auf den Waldboden fallen. Dann würde ein hochzeitliches Schicksal zu wirken beginnen. Neues würde kommen. Dann würde irgendwo außer ihm selbst es wichtig sein, daß er, Perrudja, da war und lebte.
Er machte die Tür weit, trat ins Haus, entzündete Licht. Die Kälte stand in den Kammern. Alles Glücksgefühl wich von ihm, wie er die Wände sah, die einzigen Zeugen seines Seins, daß er Fleisch und Blut, nicht nur ein Name, in den Mündern der Fremden ein Wesen, daß er kein Troll, der unter Steinen schlief. Das Haus erinnerte ihn an seine jungen Leidenschaften, mit denen er ins Bett kriechen mußte, Abend um Abend die einzigen Gefährten. Das zweite Ich lag neben ihm, und er mußte sich mit ihm abfinden, es umarmen wie eine Geliebte. Und es war doch immer nur Perrudja, der eine und der andere, der Genießende und der Zertretene.
Er zündete ein Feuer an, schob dicke Birkenkloben in den Herd. Er beschäftigte sich gehend, bis es warm, überwarm im Zimmer war. Dann erst legte er den Überrock ab. Er schloß eine schwere eiserne Kiste auf, beugte sich darüber und lachte. Es war seine Geldkiste, in die hinein er lachte. Waldbesitzer war er geworden, mittels des Inhalts der Truhe. Das Heil seines Lebens lag darin. Perrudja ist jung. Perrudja ist blutjung. Perrudja ist nicht häßlich. Perrudja ist stark. Perrudja hat einen wilden und roten Mund. Perrudja hat dunkle Augen. Perrudja hat braunes, üppiges Haar. Perrudja hat eine ungebändigte Brust. Er riß sich den Wams auf und starrte auf sein jagendes Herz. Er griff danach und konnte es doch nicht in die Hände nehmen. Plötzlich mußte er sich umblicken, als ob jemand hereingegangen wäre. Aber die Ablenkung war nicht tief. Er legte sich die Handflächen auf die dunklen Brustwarzen und sagte bestimmt und männlich: »Perrudja wird ein Pferd bekommen.« Und über die Worte hinaus glitten Gedanken. Ein Königssohn jagte über die Hochebene.
Ich streife auf schwarzem Pferd durch Wälder. Unermeßlich. Eine Quelle geht auf aus grünem Moos. Meine Brustwarzen sind rund. Wozu braucht ein Mann Brustwarzen?