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XII
ОглавлениеDas Pferd/Sassanidischer König/Ein Knabe weint
Die anderen Tiere
Es war ein großer und herrlicher Tag, in dem der Duft schweren Weines war, als Perrudja zum erstenmal das gesattelte Pferd bestieg. Er hatte silberbeschlagenes Zaumzeug anfertigen lassen. Wochenlang hatte er Formen erdacht und wieder verworfen. Der Geruch neuen Leders war ihm in die Nase gekommen; das hatte endlich seine Entscheidung herbeigeführt. Und was er gewählt und durch Bleistiftskizzen beschrieben, war gut. Der Sattel aus Schweinsleder. In Oslo angefertigt. Herrliches Schweinsleder, mit den Borstennarben als fleckige Tupfen. Mit silbernen Bügeln und Schnallen. Bei einem Goldschmied in Gjövik bestellt, der sich auf das Treiben, Hämmern und Gießen des Silbers verstand. Perrudjas Eßgeräte hatte derselbe Mann angefertigt. Sechs große Löffel. Sechs mittlere Löffel. Sechs kleine Löffel. Sechs Gabeln. Sechs Messer. Einen Ausschöpflöffel. Einen Tunkenlöffel. Zwei Aufschnittzinken. Zwei Gemüselöffel. Sechs Krebsstocher oder, wie er meinte, Nußnadeln. Alle verziert mit dem gleichen Ornament. Was ihre Zusammengehörigkeit bewies. Gezeichnet mit der Zahl 830. Was ihre Feinheit an Silber bezeichnete. Der Sattel war zudem mit zwei großen hellvioletten Amethysten verziert. Ein dritter, kleinerer, brach die Strahlen der Sonne an der Stirn der Shabdez, befestigt am Kopfgeschirr. Das Anlegen des Zaumzeuges war ohne störrisches Widerstreben des Tieres vollzogen worden. Perrudja hatte ins Maul nur eine einfache Trense gegeben. Das Aufsitzen befremdete die junge Stute nicht. Viele zärtliche Versuche waren voraufgegangen – mit nackten Schenkeln auf dem Rücken aus Samt und warmem Duft. So geschah das Einreiten ohne Zwischenfälle. Die alte Freundschaft wurde nicht erschüttert.
Die Tage hießen: Pferdepflegen und reiten. Durch die Wälder, den Talzügen nach, an grünen schäumenden Wassern vorüber; in deren kristallener Substanz Forellen spielten. Hochzeitliche Spiele. Die Berghalden kletternd hinauf. Dann die Meerweite der leichtgehügelten Ebenen des Hochgebirges.
Perrudja hatte sich einen enganliegenden, am Hals hochschließenden Anzug aus braunem duffen starken Leder anfertigen lassen; mit in Silber getriebenen Knöpfen daran. Er erschien überschlank in ihm, jünger noch als er an Jahren war. Die kleinen Narben im Gesicht, die er von der Berührung mit dem Huf des Füllens nachbehalten, ließen ihn kühn und entschlossen erscheinen. Die Gewalt seiner Wunschkraft übersetzte sich zum erstenmal nach außen. Und so schien die Zeit gekommen, daß er ein Großer dieser Welt würde. Man begann ihn »Kongen« zu nennen. Und so sehr der, der das Wort als erster prägte, auch bemüht war, es als Spottmünze auszugeben, die Straßensteher verwarfen seinen geringen Wert und setzten es auf einen besseren Kurs. Er war ein König ohne Untertanen. Sein Reich waren die Wälder, die Triften des Gebirges, die nackten Felsen, gläsern und rund, die rauschenden Gießbäche. Tiere nur, die als Freie sein freies Reich bewohnten.
Eines Tages begab sich einer der Ungezähmten in Sklaverei, angestiftet durch eine unbegreifliche Liebe. Eine Elchkuh kam von den Hochgebirgsmooren herab ins Tal. Näherte sich einer Rinderherde. Hielt sich anfangs in gebührendem Abstand. Als am Abend die Tiere ins Dorf, dem Stall zu getrieben wurden, folgte sie, folgte im Dunst der rätselhaften Sucht den Unfreien. Folgte, fand die Stalltür geöffnet, legte sich neben den Stier. Im halben Dunkel des Abends war es unbemerkt geschehen. Am nächsten Morgen wirkte sich das Ereignis aus. Ein Mensch sah, erstaunte, erzählte weiter. Man lief zusammen, ratschlagte. Die einen sahen nur das gefangene Fleisch, das zu verspeisen gut munden müsse. Die Forderung ihres Magens saß schamlos hinter ihren Augen. Und roh waren sie. Und es war kein Hindernis gestellt zwischen den Anblick des Schönen und die Häßlichkeit des Schlachtens. Die weiße Schüssel und der heiße Bratenruch ihnen keine notwendige Verhüllung bei Tisch. Andere waren nicht für Mord. Der seltsame Zufall wirkte als Idyll an ihrer Seele stärker als das Verlangen der Nerven am Gaumen. (Oder war die Schüssel zwischen sie und das Tier gestellt?) Sie wurden zu Hütern des Gesetzes. Erklärten, daß Jagen und Töten der Elche verboten. Man müsse das Gesetz respektieren, dürfe sich nicht darüber hinwegsetzen. Zudem würde, da nichts mehr im Heimlichen geschehen könne, den Übertreter die öffentliche Gerechtigkeit fassen und zur Verantwortung ziehen. Nie war Vernunft besser als in solchen Argumenten. Die Bergpolizei wurde verständigt. Sie war verkörpert in einem gichtleidenden kleinen Menschen namens Trygve Draege. Er war der unbedingte Freund aller Wilddiebe, denn er vermochte nichts gegen sie. Niemals wanderte er auf die Hochebene. Was auch hätte eine solche Reise bezwecken sollen? Er wäre verprügelt oder erschossen worden. In einen Felsspalt geworfen, in ein Schneeloch zu abgestürzten Schafen, hundert oder zweihundert Fuß tief. Es war besser, daß er allsonntäglich einen fetten Braten geschenkt erhielt. Nicht die Kleinigkeit eines Scheins einer Bestechung daran. Er erfuhr niemals, wer der Spender der Gabe war; noch war vermerkt, um welche Art Fleisch es sich handelte. Er aß Elch- und Renbraten stets für altes Kuhfleisch, ob es auch nach Wacholder, Flechten und Heide schmeckte. Der Geschmack war zufällig wie so vieles in dieser mehr rätselvollen als durchsichtigen Welt.
Der ihm angeborene und weiterhin gepflegte Amtsanstand ließ ihn auch in dem schwierigen und in keiner Gesetzesauslegung vorgesehenen Fall eine weise Entscheidung treffen. Er erklärte die Elchkuh als in Schutzhaft genommen. Und erläuterte und sprach dazu: Elche dürften nicht getötet werden. Punkt. Es verbleibe somit der einzig mögliche Schluß aus den Bestimmungen, die zu überwachen ihm oblägen: seine Anordnung; die er zu Protokoll bringen werde; womit sie in die Bezirke heiliger und in aller Ewigkeit aufzubewahrender Akten rücke; für die man in Oslo wahrhafte Schlösser gebaut mit unzerstörbaren Ringmauern. Er wolle nur betonen, er tue seine Pflicht; er werde keine gemeinsame Sache machen mit den Wilddieben, Räubern und unvernünftigen Mördern. Eine Eingabe an die Regierung werde er der Akte beilegen, mit der Aufforderung, ihm weitere Instruktionen zuteil werden zu lassen. Die ordnungsgemäße Verpflegung der Elchkuh müsse der übernehmen, in dessen Stall das Tier angetroffen worden sei. Die Staatskasse werde nicht verfehlen, die Kosten, sobald sie zahlenmäßig festständen, auf sich zu nehmen.
Wie er nun, innerlich ein wenig geschwollen von den verschlungenen Erklärungen seines noch ungeborenen Schreibens an die höhere Amtsstelle, heimlich sich verbeugend vor den »Aerede herer« und dem hochmögenden Staatsrat, tastend, ob er nicht dem Amtmann zu melden habe, schon entschlossen, sich mit dem Lendsmand zu beraten, wieder aufgepeitscht durch die einzigartige Situation, einen nicht mehr typischen Fall juristischer Verwicklung bearbeiten zu dürfen, kam Perrudja des Wegs geritten, den er davon ging. Von des Reiters Stirn waren die Träume des vergangenen Abends verscheucht; die Welt seiner Wünsche beherrschte er. Seine Flotten lagen versenkt auf dem Grunde unendlicher Meere; seine Heiligtümer verzaubert auf unnahbaren Inseln.
Begrüßung und Anrede. Der Waldbesitzer erfuhr das Ereignis. Er war augenblicks in großer Erregung, ergriff Besitz von dem Geschehen, als wäre es nur um seinetwillen gewesen. Trygve Draege mußte mit ihm zurück zur eingestallten Elchkuh. Dem Bergbeamten war die Begegnung willkommen. Er fühlte, daß er einen nicht schlechten Rat erhalten würde. Und er bekam ihn. Mit anderem Ausblick als er erwartet; aber ein guter Rat, der sein Gewissen schonte und alle Gesetze ungeschoren ließ. Im Stall des Bauern hatte es schnelle Eindrücke und schnelle Entscheide gegeben. Der junge Stier mußte ein Sohn jenes anderen sein, der, weiß und braun vor einigen Jahren Perrudjas Herz berührt hatte. Jedenfalls glichen sich beide bis zu einem hohen Grade in Farbe und Zeichnung. Es war auch das Herz der einsamen Elchkuh bewegt worden. Tiefer als das des Menschen, wie sich versteht, weil die Zahl der versperrenden Mauern zwischen Elch und Rind kleiner.
Der Vorschlag, den Perrudja machte, war rund und gewann den Beifall Draeges. Zwar mußte auch der Besitzer des Stieres sein Scherflein an Einsicht und gutem Willen geben, damit der Plan verwirklicht werden konnte. Doch wurde es ihm leicht gemacht. Da waren Augenblicke, in denen Perrudja sein Tun jenseits der Existenz von Hindernissen aufbaute; nur Gedanken, die senkrecht zueinander, dachte. So auch bei diesem Anlaß. Er ging zu dem Bauern, kaufte den Stier zu einem von ihm selbst festgesetzten sehr hohen Preis; ließ das männliche Tier hinauftreiben nach seinem Hause. Die Elchkuh folgte wie verzaubert. Es war ein weiter Weg. Die Amtshandlung Draeges hatte eine schnelle Erledigung gefunden, da Perrudja versprochen, die Elchkuh nicht zu töten. Die Bergpolizei hatte keinen Grund (etwa an einer schlechten Erfahrung), diese Erklärung zu bezweifeln.
Der Haushalt Perrudjas hatte sich um zwei ungleichartige Geschöpfe vergrößert. Es war ohne Vorbereitung geschehen. Die Entscheidung (Gedanken, die senkrecht zueinander), die ohne Vorsicht im Dorfe getroffen worden war, erwies sich als verhängnisvoll für die Lebensführung des Einsamen. Mit der Raumfrage begann das Wirtschaftsproblem. Zwei Ställe abtrennen zu lassen, wäre am Ende die Arbeit von Tagen gewesen; aber es wollte sich keine Lösung ergeben, ohne daß eine bedrückende Enge für alle Bewohner spürbar wurde. Zwar dachte der Waldbesitzer, im Gegensatz zu den Talbauern, in großen Dimensionen.
Nach dem Umbau verblieben ihm, das war ein trauriger Schluß, neben den Ställen eine einzige (wenn auch große) Stube, dazu eine lichtlose kleine Kammer, die bestenfalls als Vorratsraum dienen konnte, ein gangartiger Vorplatz, an dessen Anfang die Eingangstür des Hauses sich befand, an dessen Ende eine Kochstelle aufgestellt war. Es erwies sich beim Umräumen, daß die Zahl der Dinge, die Perrudja als Hintergrund seines Lebens zu benötigen glaubte, im Laufe der Jahre sehr angewachsen war. Zum Schlafen ein großes und breites Bett aus gutem Mahagoniholz mit dreierlei Arten Decken. Das war geblieben wie im Anbeginn. Stühle und Tische hatten sich nicht vermehrt; es war sogar ein Sessel, der an den Beinen zerbrochen war, dem Feuer übergeben worden, weil er überflüssig, platzraubend schlechthin. Doch kleine leidenschaftliche Gegenstände waren hereingekommen. Die Bücher. Aus bescheidenen Anfängen war die Sucht zu lesen gekommen. Nun gab es an dreitausend Bände. Und die dazugehörigen Regale standen an den Wänden bis unter die Decke. Viele hatte er nur berührt, wie man begreift, aus vielen hatte er nur die Abbildungen zurate gezogen. Dann die Kategorie der Gegenstände, deren Anwesenheit durch sündige und spielerische Gedanken sich erklären ließ, die jetzt beharrlich ihre Anwesenheit und Unentbehrlichkeit behaupteten. Ein kaum faustgroßer Götze mit breitem lachenden Mund, geschlitzten, fast geschlossenen Augen, mit fettem faltigen Bauch, nackend, nur um die Schultern tuchbehangen, offenbar in höchster Freude über seine prächtigen Zeugungswerkzeuge. Perrudja hatte ihn abgießen lassen in Silber, in Bronze, in Eisen, in Blei. Er stand vierfach aufgebaut, vierfach verschieden, bleiern, eisern, bronzen, silbern, wie sichs für einen Gott der Sinne ziemt, in einem Buchgestell vor schmalen, wenig tiefen Büchern, kaum faustgroß. In einer Kiste, nur selten geöffnet, gab es in Messing gebildet, über ihm selbst geformt, die beiden Hände und das Gesicht Perrudjas, wie sie vor drei Jahren sich gezeigt hatten. Heimlich wünschte er, es möchte ein Abguß von seiner ganzen Gestalt angefertigt werden, daß er einmal sähe, wer er sei, stehend oder liegend. (Ach, daß er wüßte, wer er gewesen!) Aber er schämte sich, einen solchen Auftrag zu erteilen, hatte er sich doch geschämt schon wegen der Hände und der Maske. Die Schiffsmodelle, für die er sich wenig interessiert hatte, waren auch da. Es war ihm erzählt worden, daß sie die genaue und notwendige Form der Fahrzeuge darstellten (halbiert), aus schön polierten edlen Hölzern gefertigt, eine wertvolle und nicht zu verachtende Leistung, der stolze Zierat so manchen Reedereikontors. Es hatte sich in ihm die Sucht, das Einmalige zu besitzen, geregt. Es waren dies nun einmalige Formen längst abgewrackter, untergegangener, gestrandeter Schiffe. Segler. Die ersten Propellerdampfer mit spitzem Bug. Von manchen kannte er die Geschichte. Er fürchtete wie nichts so sehr den Tod durch Ertrinken. Im Wasser als Leiche treiben. Von Fischen angefressen. Zum Verwundern war es, daß ganz unbemerkt seine Träume sich, wenn auch in bescheidenem Maße materialisiert hatten. Er besaß einen schönen goldverzierten chinesischen Bronzekübel, bauchig, schwer, klingend, ausgesuchter Wohllaut der Linien. Er hatte große Stücke klaren Bergkristalles, schöne Drusen von Rauchquarz und Amethyst, einige Steine geschliffen – einen Smaragd für einen Fingerring, den sich machen zu lassen er vorhatte. Es gab bei ihm eine Dose, dem Gewicht nach eher ein Block, weißgelbliches Metall; eine japanische Arbeit. Es waren in aller Offenheit und sehr anmutig sechsunddreißig Stellungen des Beischlafes auf einzelne Platten graviert, die gemeinsam die Dose oder den Block ausmachten. Sehr viele Kasten, sargartige Truhe, vollgepackt, die er nicht mehr entleeren konnte. Er war kein Bauer. Er fand selbst, daß es erwiesen war und weinte plötzlich, weil er weich wurde und schwach.
Die Gerüche der Tiere verbreiteten sich im Hause, störten und widersprachen sich. Der Grund für Aller Unzufriedenheit lag im Geruche der Luft. Das Trennende begann seine Macht zu entfalten.
»Im Leben ist trennend das Trennende und nicht einend das Einigende.«
Die Tätigkeit, die Tiere zu füttern, sauber zu halten, fraß seine Tage. Nur selten noch war er zupferde. Kaum, daß Shabdez ausreichend bewegt wurde. So hatte das Wunder oder die Irrung, deren Werkzeuge er sich angeeignet, um seinen Reichtum größer zu machen, seine Lebensführung verworren gemacht. Äußerlich begann er eine schwere Ermattung zur Schau zu tragen. Sein brauner Anzug, einst das knappe Gewand eines Edelmannes, war jetzt beschmutzt. Sogar zerrissen und nur grob wieder geflickt. Die Silberbeschläge an Sattel und Zaumzeug, einst glänzend, Prunk eines überschwenglichen Gefühls, jetzt schwärzlich gefärbt, gestorben. Die Hände des Menschen (in einer Kiste lag ihr metallenes Abbild), einst etwas mager und sehnig, aber voll beredter Bewegungen, waren jetzt geschwollen, dickhäutig, ständig unsauber. Die Gestalt, sein Gesicht verfielen, verhagerten. Er wurde zerstückelt an den Pflichten, die über seine Kräfte waren. Die er nur scheinbar freiwillig auf sich genommen.
Ich bin ein Knecht geworden.
Er geriet in Zwiespälte, deren Vorhandensein er vor dieser Zeit abgeschworen hätte. Die seinen Geist verbrauchten. Seine Liebe sollte gleichmäßig auf drei Geschöpfe verteilt werden, daß nicht Eifersucht entstände. Sein Herz aber hing an dem Pferd. So sehr, daß es ihn zu ärgern begann. Da gebar die Gerechtigkeit wider den Herzschlag die Tendenz, es zu vernachlässigen. Es mußte manche Nacht im Kot liegen. Er wurde trotzig, weil er die Mühe nicht aufbringen konnte, gewissenhaft zu denken. Das Überbürdetsein mit Arbeit half der seltsamen Willensrichtung zu einer verhältnismäßig langen Herrschaft. Das Vertrauen der Elchkuh gewann er, wider Erwarten, sehr bald. Es war die Sucht ihres einfältigen Geistes, sich jedem fremden Lebewesen ohne Arg zu nähern; da sie mit Perrudja keine schlimmen Erfahrungen machte, hing sie ihm, zwar ohne Leidenschaft, an. Er meinte, daß sie von erhabener Dummheit sei. In ihrer leiblichen Bildung war sie schön. Er bewunderte sie und in ihr einen ungekannten Schöpfer.
Er hatte verlernt, mit halbem Ton durch die Lippen zu singen. Er hatte gelernt, daß Schlaf die Forderung eines erschöpften Körpers und Traumlosigkeit die Armut der Erschöpfung sei. Er war nicht unzufrieden. Er bereute nicht. Er fragte, was der Stier in seinem Hause schaffen solle. Es war ein schöner Stier. Es war nicht unwichtig zu erkennen, was zwischen ihm und der Elchkuh sich entspann. Oder ausblieb. Die Liebe des weiblichen Tieres konnte nicht bezweifelt werden; für eine Gegenliebe fehlte jeder Beweis. Schlimmer, es wurde deutlich, daß der Stier mit der Kälte seiner Abneigung die Verehrerin strafte. Daß sie ohne Erregung blieb, scheinbar im Entsagen eine Beglückung fand, zufrieden nur die Nähe des Angenehmen kostete, schien die Struktur ihrer Seele tief zu entschleiern. Perrudja schämte sich ein wenig, wenn des Morgens die drei Tiere auf den Weidegang getrieben wurden. Angewidert nahm das Pferd von den Genossen Abstand, stapfte um wenigstens dreißig Schritte vorauf, um nicht den Geruch der Nebenbuhler atmen zu müssen. Schnaubend, vor Zorn bebend, gebannt durch die Abneigung des Einhufers, folgte unter Einhalten des diktierten Abstandes der Stier. Unbefriedigt, das Maul verzogen in der Luft, ob er nicht irgendwo Kühe erwittere. Vorstufe der Raserei. Gebändigt durch Angst vor den hinteren eisenbeschlagenen Hufen der Shabdez. Verträumt, ihm nach, hingegeben, im Unglück glücklich, die Elchkuh.
Die Erregbarkeit des Stieres steigerte sich. Er suchte Befriedigung seiner Triebe in unablässigem Brüllen. Dadurch wurde seine Anwesenheit für Perrudja beinahe unerträglich. Die Hörner wurden gegen Türen, Bäume, Pfähle der Umzäunung gebraucht. Stand stumm auch als Mythos, rechtfertigend, neben den Taten des zur Ehelosigkeit Verurteilten die wunderbare Liebe der Elchkuh – der Mensch ertrug eines Tages die Strafen der Wirkungen des Wunders für sich und den Stier nicht länger. Er kaufte eine Kuh. War damit ein erster Schritt zur Ökonomisierung des Haushaltes getan, dem Waldbesitzer wurde erneut ein größeres Maß an Arbeit bereitet. Der Kuh folgte (sie war tragend gewesen) das Kalb. Ehe noch das Kalb geboren war, mußte eine zweite Kuh beschafft werden, die dem zornigen Stier als Ehefrau beigegeben wurde. An der Vermehrung geriet der Haushalt in äußerste Unordnung. – – –
Ging man jenseits des Atnaelv den nördlich gelegenen ehemaligen Kirchhügel von Uti hinan, konnte man bei klarem Wetter von jenem Acker aus, dem von Zeit zu Zeit morsche Menschenknochen, stark abgewetzte Zähne entpflügt wurden, sehr hoch das Dach erkennen; das Dach des Hauses, das Perrudja bewohnte. Es war ein ergreifender Anblick. Man sah den Wald sich lichten. Graugrünrotes Gestein entblößte sich. Nicht unweit des Hauses, so schien es, perlte ein Gewässer schaumig, ein weißer Streifen, gezackt hinab in das schwarze Grün der talwärts gehenden Tiefen.
Eines Tages stand ein Fremder auf dem alten Kirchhof. Er hatte den Platz gefunden. Er zeigte mit seiner Hand hinauf, ganz für sich, doch zweideutig in der Art der Gebärde, als ob er jemandem erklären müßte. Es stieg Rauch auf vom Schornstein, weißer dünner Rauch. Man sah ihn in der Sonne. Das schwarze Grün der Kiefern war zerlöst durch die feurigen Farben sterbender Blätter von Birken und Erlen. Gelb und rot flammte es auf. Das Leben prangte mit letzter tödlicher Krankheit. Das Fieber des Sterbens verhieß das neue Reich. Oberhalb des Hauses lag der erste nächtlich gefallene Schnee. Er war rosig und versprach dem Ahnungslosen, daß er nach Veilchen dufte. Der Fremde konnte sich dem, was er sah, nicht entziehen. Von tiefer Rührung ergriffen verließ er den Platz.
Der Herbst blieb nicht lange bei Atem. Der Winter kam vor der Zeit. Er brachte Perrudja in große Bedrängnis. Er hatte nicht rechtzeitig die gekauften Futtermittel ins Gebirge fahren lassen. Der Flockenfall setzte mit Heftigkeit ein. Der Wind hatte bald mächtige Schneewehen errichtet und das abgelegene Haus blockiert. Die Tiere konnten nicht hinausgetrieben werden, standen unruhig in den ungelüfteten, halbdunklen Ställen. Besudelt mit Schmutz. Notdürftig, mit Hilfe von Schneeschuhen, erhielt Perrudja die Verbindung mit der Außenwelt aufrecht. Ein wirksamer Verkehr, etwa mittels Wagen oder Schlitten, war zur Unmöglichkeit geworden. Der Futtervorrat schwand dahin ohne Aussicht auf Ersatz. Die Sorge hub an. Einen Tag um den anderen schleppte Perrudja einen kleinen Sack voll Hafer auf seinem Rücken vom Tal herauf. Eines Abends, auf dem Heimwege, stürzte er. Der Wind hatte Schnee vom nackten Fels abgeleckt. Der Fahrende hatte die schwärzliche Stelle im Halbdunkel, bei schnellem Gleiten (es ging bergab), erschöpft, schwitzig, nicht rechtzeitig bemerkt. So kam sein Fall. Er zerschlug sich ein Knie. Ohnmächtig blieb er liegen. Erwachte wieder aus dem Schwächeanfall; fühlte den Schmerz. Blut floß. Es floß heftig. Er vernahm die Gefahr, in der er schwebte. Der Wind ging sehr kalt. Es dengelte um die Schneedünen, zirpte. Die winzigen Eiskristalle tönten gläsern gegeneinander, hullerten einen Ton wie stark flammende Kerzen. Er vernahm es deutlich. Und daß es in seinem Ohr auf unerklärbare Weise verstärkt wurde. Und in seinen Augen zu grünen Punkten gerann. Er warf den Sack von der Schulter, spannte die Skier ab. Ein Holz war zerspellt. Wand sich ein Tuch um das verwundete Kniegelenk. Suchte nachhause. Es gab sehr viele grüne Punkte. Sie waren ertragbar. Über die Kräfte ging es, daß ein Strudel zuweilen schwarz aufleckte. Der Mensch hatte nicht mehr weit zu gehen. Doch bis an die Brust sank er ein in die daunigen Widerstände der Materie. (Wasser. Eis. Aggregatzustand.) Die Kälte hatte unheimlich nahe seiner Haut gesessen; nun lief es heiß von eben dieser Haut, ein verzehrendes Aufflackern, Schweiß. Er mußte sich die letzte Kraft abringen, um ans Haus zu gelangen. Seine Zunge schmeckte den trockenen Durst des Gaumens. Die Nässe an seinem Körper war sehr lästig. Sie war bereit umzuschlagen, ihn kalt zu machen, verwandt mit Ertrunkenen. Er fürchtete sich. Er zweifelte nicht daran, daß er mit Mühe nur einem kalten und einsamen Tode entronnen war.
In der Behausung knickte er vor Erschöpfung zusammen. Er fand sich, erwachend, ausgestreckt am Boden, frierend. Mit einem Gefühl der Leere im Magen. Nicht mehr zurückgehaltene Unruhe der hungrigen Tiere scheuchte ihn auf. Stampfen Wiehern Brüllen erfüllten das Haus. Lärm. Ein Dunst von Angst, Dunkelheit, Tod senkte sich auf die Lippen des kaum Erwachten.
Warum darf ich nicht liegen bleiben, wo ich liege?
Es taute in seinem Herzen. Er begriff, daß keine Hilfe ihm nahe sein konnte, außer der geringen, die er sich selbst erfand. Winde und Wolken beschlossen gegen ihn trotz seines traurigen und zerknirschten Zustandes; unbarmherzig fühllos seinen Schmerzen, seiner Schwäche. Unbemerkt in der Dunkelheit entlud der Himmel neue Schneemassen auf das Hochgebirge. Säuselnd, pfeifend, mit blindmildem Streicheln erbaute der Wind Wälle aus den Daunen. Im Schatten einer halben Stille bereitete sich die neue Prüfung vor. Perrudja entzündete Kerzen, entfachte Feuer.
Er wusch das zerschundene Knie. Die Wunde sah gefährlich aus, war es am Ende auch. Er konnte lahm werden oder hinkend bleiben. Dagegen löckte er mit seinen heißesten Wünschen und Tränen. Er wollte kein Krüppel sein. Er entkleidete auch das gesunde Knie. Er wünschte, ohne Geburt Staub zu sein. Er wagte nicht, seine Verwesung herbeizurufen. Seine Lippen wölbten sich groß nach außen; seine Augenlider schwollen. Nach einer Weile begann er an der schmerzenden Wunde zu pressen; formte an ihr mit seinen Händen nach dem Vorbild des gesunden Beines; umwickelte engschnürend mit langen Leinenstreifen die wieder heftig blutende. Als er sich aufrichtete, fiel der Schmerz ihn mit verdoppelter Kraft an. Er ging vor den Spiegel, hockte sich nieder, schaute in sein Angesicht. Es war blaß und eingefallen; die Lippen grau und unsaftig; nur die Augen waren ein wenig rot und verschwollen. Er fand sich häßlich geworden. Sein Haar selbst war dünn und fiel nicht mehr buschig in dicken Strähnen über die nackte hohe und große Stirn.
Ich büße um einer unbekannten Sünde willen.
Er hoffte wieder frei zu werden, sobald er sie erkannt.
Erkennen ist nicht mein Teil. Ich bin getrieben. Gezwungen werde ich zu Glück und Unglück. Zum Schönen, zum Häßlichen.
Den hungernden Tieren gab er spät in der Nacht ein wenig Kleie, zwei Hände voll Hafer, einen Arm voll Heu. Sie fraßen gierig. Er fand, daß sie mager geworden, ihm gleich.
Der nächste Tag entschleierte die bedrängte Lage des Einsamen. Wundfieber in den Adern. Ein festes Auftreten mit dem verletzten Beine war qualvoll. Dennoch, das Bett zu hüten, war ihm nicht gestattet, stürmten doch die fordernden Laute der vernachlässigten Tiere gegen ihn. Als er die Haustür geöffnet, um zum Vorratsschuppen zu gelangen, wich er mutlos zurück. Weiße Hügel versperrten Aussicht und Weg. Das Schneewehen hatte noch nicht einmal ein Ende gefunden. Ohne Krankheit schon wäre der Mut ihm tief gesunken; fiebernd war ein heißer Wunderglaube seine Zuflucht. Als das Rumoren in den Ställen wieder heftig wurde, ging er an die Arbeit, den Schnee beiseitezuschaufeln, daß der Weg zum Schuppen frei würde. Mit bebenden Sinnen überschaute er den kargen Vorrat an Futter. Wenige Tage noch, ob er auch knappte, und die Katastrophe jämmerlichen Hungerns mußte hereinbrechen.
Er gab den Tieren so lange zu fressen wie er aus dem Schuppen entnehmen konnte. Die Ställe zu reinigen vermochte er nicht. Die Kühe wurden nicht gemolken; er ertrug das Beugen des Kniees nicht. Sie litten anfangs unter der angesammelten Milch, die bei jeder Bewegung von ihnen spritzte. Bis sie allmählich zu versiegen begann. Perrudja verlor die Neigung zu essen. Ohne tiefe Ergriffenheit ließ er das Verhängnis sich nahen, das abzuwenden über sein Vermögen ging. Die Bemühungen, eine Nachricht ins Dorf gelangen zu lassen, gab er auf. Während dreier Abende hatte er vor dem Haus ein großes Feuer unterhalten, daß man den Schein in Uti sehen möchte. Da mit der Zeit seine Hoffnung klein wurde, sagte er sich, daß niemand, sähe man es schon, das Zeichen würde deuten können. Es würde festgestellt werden: Perrudja lebt. Wer könnte herauslesen: Perrudja ist am Sterben? Die Leute würden sagen, verirrte sich schon jemand auf den Kirchhügel, Perrudja hat große Freude. Der Übermut plagt ihn.
So kam die Stunde heran, in der die letzte Futterration verteilt wurde. Mit toten Augen starrte der Mensch auf die gierig verschlingenden Mäuler der Tiere. Die nicht wissen konnten, was er wußte. Einen Tag nach dieser Mahlzeit war Perrudja in eine Hölle gestoßen. Die Tiere schrieen vor Hunger; ihre Augen bettelten blutend um Nahrung. Den letzten Halm mistigen Strohs hatten sie aus dem Kot aufgelesen. Jetzt forderten sie von ihm, dessen Diener, Sklaven, Gefangene sie waren. Sie forderten die Erhaltung ihres Lebens. Nicht, was er erwartet, weil er an sich ermaß, ihren Tod. Sie bäumten sich gegen den Hunger. Ihre Liebe boten sie noch einmal, fordernd; um dann in Verachtung und Haß gegen ihn abzugleiten. Er selbst hatte keinen Bissen zu sich genommen, wiewohl er noch Brot, Käse, getrocknetes Fleisch, geräucherten Lachs überreichlich besaß. Er wollte vor den Tieren nicht begünstigt sein. Aber was ihm eine dumpfe, unnatürliche Wollust war, ihnen bereitete es Qual. Er fühlte, daß sein freiwilliges Opfer nicht anerkannt werden konnte. Denn nicht Tod, nicht Leiden, nicht Untergang, Leben, Leben und immer wieder Leben wurde ihm abverlangt. Mochte er sich mühen und Wege finden. Er ja war ein Mensch mit Verstand. Mochte er hungern zu seinem Vergnügen; die Tiere schrieen nach Brot. Darum wuchs das Lärmen, das Stoßen, das Keuchen. Der Stier verlor auf Augenblicke vor Hungergefühl die Besinnung. Er rannte mit seinen Hörnern gegen die Wand. Bis eines ihm abbrach. Dann fiel er mit seinem Geschrei wieder ein in den Kor der Fordernden, die nicht begriffen, weshalb sie verenden sollten, entkräftet.
In der Nacht, als zeitweilig Schlaf über die erschöpften Tiere kam, saß Perrudja noch wachend. Er wollte um das Leben seiner Sklaven losen. Er wollte sie töten. Er ertrug ihren langsamen Tod nicht. Die Reihenfolge ihres Sterbens wollte er auslosen. Ihm schien, als ob ein Abschnitt seines Lebens sich wiederhole; der der willenloseste gewesen war. Er versuchte noch einmal, etwas Fremdes zwischen sich und den Augenblick der Entscheidung zu bringen. Er las die Fortsetzung einer Geschichte, die zufällig abgebrochen worden war und seitdem mit halber, ganz schwacher Sehnsucht in ihm lag. Was für eine kleine Neugierde mußte jetzt hinhalten seiner großen Traurigkeit!
»Wenn Ihr die Jahre von mir nehmt, o Herr, bin ich jung und ein Knabe. Ich war es zu der Zeit, wo der Anfang meiner Geschichte gesetzt werden soll. Es paßte auf mich das Wort des Dichters: Es gibt eine Lotosblume, die auf dem Teiche schwimmt. – Doch auch ein anderer Vers war nicht im Widerspruch zu mir: Wenn der Mond scheint, schleicht die Tigerin über die Felder. Ihr Fell ist gestreift mit den Flammen des Feuers; aber es ist das Schwarz der Nacht hineingewebt. – So war ich wohl schön an Gestalt; doch die Leidenschaft konnte aus mir brennen. Die Eltern wollten für mich einen Gespielen ausersehen. Da es ihr Wunsch nicht war, daß ich mich über ihn erhöbe, durfte er nicht weniger als ein Bruder sein. Sie mochten erahnt haben, daß meine Tugend leicht an einer Eitelkeit scheitern konnte und wünschten darum, daß er ohne Gebrechen sei und von großem Ebenmaß des Körpers. Mir überlegen. Mein Vater war oft auf den Markt gegangen und hatte mit Maklern wegen eines Sklaven verhandelt. Immer wieder hatten angebahnte Geschäfte sich zerschlagen. Er fand stets einen Makel an dem Menschen, der mir als Gefährte dienen sollte. Eines Tages sang ein junger Bursche: Des Tieres Same ist des Tieres Lust, des Menschen Lust ist der Genuß der Schönheit. – Es war noch sehr früh am Morgen. Und die meisten Sklaven zitterten vor Kälte. Und saßen zusammengekauert, eingehüllt in ihre Fetzen. Dieser eine aber stand aufrecht, fast unbekleidet, ohne daß ihn fror und sang mit leuchtender Stimme sein Lied. Er sang es um niemandes willen, denn es waren noch keine Käufer zurstelle. »Ach, daß er schwiege!« seufzten die Beladenen. »Ach, daß er später krähen wollte!« schalten die Makler. »Wer ist es?« fragten die einen. »Wer wird es sein?« antworteten die anderen. »Unsereiner, der nicht weiß, daß er unsereiner ist«, sagten die dritten. »Schönheit vergeht, Schminke besteht«, sagte eine unfreie Hebamme. Sie sagte noch mehr über ihn. Dann kam mein Vater auf den Platz und besprach sich mit einem Makler. Es war derselbe, der den Singenden zum Verkauf anzubieten hatte. Er sagte von ihm den Vers: Des edlen Pferdes Gang ist unvergleichbar; die Schönheit liegt im blanken Fell des Rosses. – Und fügte hinzu: »Es ist nicht zu viel über diesen Menschen gesagt. Es ist ein Geheimnis mit diesem Menschen. Er ist jung, ein Kind noch, wie Ihr seht. Er ist klug, er ist wohlgewachsen. Er versteht zu schreiben, zu lesen, zu singen, zu rechnen, zu fechten. Er spielt Laute und läßt mit Meisterschaft die Figuren auf dem Schachbrett sich tummeln. Er ist von angenehmen Umgangsformen. Nachsichtig, edelmütig, hilfsbereit. Ich habe eine Liste seiner Tugenden aufgestellt. Lest sie, Herr! Ich habe durch einen Arzt seine Maße nehmen lassen. Er erklärte sie für die vollkommensten, die Allah erdacht hat. Lest das Gutachten, Herr! Ihr werdet zufrieden sein.« – Er sprach es. Wurde dann aber, entgegen aller Gewohnheit des Sprechens müde. Und schloß mit dem Vers: Wer wird das Gold anpreisen, da es das Maß der Werte ist? – Er, den ich hier auf dem Markte beschrieben, wurde mein Bruder. Meine Eltern verschwiegen mir, daß er der Sohn einer Sklavin. Sie gaben ihn frei am ersten Tage nach dem Kauf und ließen durch einen Notar niederschreiben, daß es so sein solle. Die vollkommene Schönheit meines Bruders stachelte mich an, daß ich ihn bat, wir möchten Freunde werden. Er war es zufrieden. Und meine Eltern beglückte es, daß ich neben den Verpflichtungen der Schicklichkeit eine solche des Herzens auf mich nahm; denn er hatte sich als das edle Metall erwiesen als das er ausgegeben worden war. Es war wohl sein in seiner Nähe. Und nicht grundlos war das Frohlocken meiner Erzeuger, sahen sie doch, daß meine Heftigkeiten an seinem Beispiel und meiner Liebe zu ihm in Edelmut umschlugen. O Herr, sie priesen Allah, daß er ihnen zwei tugendreiche und schöne Söhne gegeben.
Es kam die Zeit, wo unsere Herzen einander feuriger zugetan waren als wir selbst später leiden mochten. Das Übermaß unserer Zuneigung war die Ursache für das Leid unserer Zukunft. Wir waren nicht klug vor den Versuchungen der Welt und ermaßen das Ziel der Schöpfung nicht. Wir liebten es, uns in den Armen zu liegen und füreinander Schwüre zu tun, die alle Ewigkeiten überdauern sollten. Und setzten Strafen auf die Verletzung der Schwüre. Und gärten schon in dem Begehren, sie zu verletzen. Je reifer wir wurden und unsicherer sie zu halten, desto grausamer erfanden wir Strafen und Peinigungen, zu denen Allah uns verhelfen möchte, wenn so geschähe, wie wir abschworen, daß es geschehen könne.
Mein Vater brachte die Tochter eines Freundes in unser Haus. – Er hatte es absichtlich und mit einer gewissen Hoffnung getan, wie später offenbar wurde. – Sie war sehr jung und schön, eine Lilie im Morgentau, wie man zu sagen pflegt. Eine runde weiße Stirn krönte ihre tiefen Augen. Ach, daß ich die Verse vergessen könnte, die ich von ihr gesungen habe! Es wurde aus mir, was beschlossen war, daß es aus mir würde: Ein Liebender. Mein Herz wollte zerspringen bei dem Gedanken, es möchte das Ziel meiner Wünsche unerreichbar bleiben, leer meine Hände an Erfüllungen. – Der Augenblick neben ihr war ein anderer als der in der Gegenwart meines Freundes. Meine Schwüre waren in Gefahr. Deutlicher noch sah ich meinen Untergang, wenn sie ungebrochen blieben. Die Nächsten um mich mußten erkennen, daß ich verwirrt geworden. Sie konnten den genauen Grund für mein Verändertsein nicht erraten. Jede Fährte, der sie nachgingen, um mit Gewißheit zu erfahren, was die Veränderung meines Wesens bewirkt, zerstörten meine störrischen Handlungen. Ich schloß mich ein. Ich wollte den Bruder nicht sehen. Ich wollte die Geliebte nicht sehen. Es sollte nicht offenbar werden, daß ich verweint war. Daß ich meine Tage damit zubrachte, Verse zu ersinnen, die mein loderndes Herz nährte. Daß ich Bittschriften, verschnörkelt, klug, voll philosophischer und göttlicher Erwägungen an den Freund richtete; sie wieder verwarf, eingedenk der vielen und eindeutigen Reden, die wir in der Vergangenheit gewechselt. Blutwilde und leichtfertige Offenbarungen sog ich aus meiner Seele, die ihn abschrecken, mich unwürdig machen sollten. Und verwarf sie wieder, eingedenk, daß es mein Wunsch, der Geliebten zu gefallen; und der Betrogene, wie ich meinte, in seiner Bitterkeit meine Niedrigkeit würde öffentlich machen.
O Herr, es war kein Absehen, wie mir Linderung hätte werden sollen. Meine Leiden, meine Zweifel aber weckten den alten Jähzorn in mir; das Böse; das Hochmütige; die Sucht nach Abenteuern. Meinem Vater, der um mich sich zu sorgen anfing, begegnete ich mit Heftigkeiten. Meine Mutter wies ich von mir, schalt sie. Als ich bereute, mußte ich mich wieder der Tugenden befleißigen, die ich an meinem Bruder gelernt. Aber die selbstgewählte Buße war schwer. Sie machte mein Blut gallig. Fasten und Weinen und Sehnsucht, vergiftete Wünsche zerstörten die Ordnung meines Leibes. Man fand mich eines Tages ohnmächtig am Boden liegen. Ich hatte gegen mich gewütet. In besinnungslosem Zorn die Geräte des Zimmers auf mich gewuchtet, daß sie mich erschlügen. Ich war gestürzt; ein Kasten war auf mich gefallen und hatte mir die Lippe gespalten. Die Wunde war bis auf die Zähne durchgebrochen. Blut verklebte mir Nase und Mund. Man hielt mich für tot. Da man noch Atem in mir fand, rief man einen Arzt. Er brachte mir mit Hilfe scharfer Gerüche mein Bewußtsein zurück. Ich erfuhr den Schaden, den mein Gesicht genommen; und begann heftiger zu weinen als jemals vorher. Häßlich zu werden erschien mir in meiner Lage das schlimmste Geschick. Wie sehr beneidete ich jetzt meinen Bruder um sein Ebenmaß! Wie wenig war ich ihm ebenbürtig, wie unwürdig meiner Geliebten, entstellt! Ich flehte den Arzt an, die letzten Geheimnisse seiner Kunst anzuwenden, um mich vor dem erniedrigenden Zeichen einer Hasenscharte zu bewahren. Ich wollte von seiner Hand Schmerzen erdulden, die schlimmer waren als die des angeschmiedeten Prometheus, dessen Leber ein Adler fraß. Er versprach, sein Bestes zu tun. Geduldig ertrug ich seine Maßnahmen. Mein Kopf wurde verbunden. Die Tage verstrichen in Traurigkeit. Die Verwandten mieden mich. Meine Beleidigungen gegen sie waren zu groß gewesen. Als der Verband von mir genommen wurde, der Schorf von der Narbe abfiel, war ein deutlicher Spalt in meiner Lippe geblieben. Ich verlor fast die Besinnung vor Schreck. War doch in mir der Entschluß gereift, meinen Vater zu bitten, er möge mir gestatten, daß ich die Tochter seines Freundes zur Frau nähme. Das entstellte Antlitz mußte mein Vorhaben für immer vereiteln. Verlachen würde die Schöne mich, niemals meine Liebe erwidern. Ich versuchte ein Letztes, mir selbst zu helfen. Ich trennte mit einem Dolche die verwachsene Scharte und klammerte die Wundränder mit spitzen Fingern zusammen; abwechselnd mit denen der linken und rechten Hand, wenn sie erlahmten. Ich schlief nicht; ich wachte an meiner Wunde. Nach Tagen trennte ich einen Zipfel, der mir im Vernarben nicht gut genug geraten war, wieder ab vom Mutterfleisch. Als ich erkannte, daß meine Ausdauer Besseres zuwege brachte als die Kunst des Arztes, war es mir ein Ansporn. Ich vernachlässigte alle Schmerzen, die mir erwuchsen. Ich verlor das Bewußtsein der Zeit. Das Warten auf die Geliebte wurde ein goldenes Frohlocken: Meine Lippen würden schön werden wie einst. Ich hatte nur dieses Ziel, weil ich liebte. Als es erreicht war – und daß es erreicht wurde, könnt Ihr sehen, o Herr – kleidete ich mich reich. Ich wollte alle, die ich beleidigt, um Verzeihung bitten und sprechen: Übergroße Liebe hatte mich verwandelt. Durch sie bin ich jähzornig geworden; sie hat mich wieder sanftmütig gestimmt. Solche Macht besitzt sie über mich. – Zu diesen Erklärungen ist es nicht gekommen. Als mein Vater mich geschmückt und heiter sah, sprach er mich an: »Du bist wieder vernünftig geworden, so scheint es. Höre denn, was in der Zeit deiner Zurückgezogenheit geschehen ist. Du wirst dich erinnern, daß ich die Tochter eines Freundes, mit dem ich Handel treibe, ins Haus gebracht hatte. Daß du Gefallen an ihr fändest und sie zum Weibe nähmest. Diese Ehe sollte mein Geschäft erleichtern. Es gab Zahlungsfälligkeiten, die ich nicht innehalten konnte, weil ich Unglück gehabt und Verluste erlitten. Du aber vereiteltest durch störrisches Benehmen meinen Plan und erschrecktest das Kind. Wäre nicht der Bruder zurstelle gewesen, unser Besitztum hätte sich zerstören müssen. Wir selbst, das Los der Bettler glücklich preisend, im Schuldturm säßen wir. Ich danke Allah, daß er mir eingab, diesen Schönsten zu meinem Sohne neben dir zu machen. Es ist mir gelohnt worden. –« Noch ehe er seine Rede beendet, wich alles Blut mir aus den Wangen, daß sie aschfahl wurden. Meine Ohren aber gierten, meines Unglücks volles Maß zu vernehmen. Ich wendete mich ab, daß der Sprechende nicht meine Veränderung gewahrte. Da er meinte, die Bewegung von ihm fort bedeute eine Anwandlung neuen Trotzes, wurde seine Stimme laut. Meinem Gehör konnte nun nichts entgehen von dem Geschrei: daß ein liebliches Paar aus meinem Bruder und der Freundin geworden. Daß sie einander zugetan wie junge Turteltauben. Daß ihre Liebe gesegnet, weil sie erwachsen an der Elternliebe. Daß darum ihr Hochzeitsbett köstlich dufte und eine weiche Lagerstatt voll bunter Seiden sei. Und ihr Haus eine Stätte des Friedens und der Freude. Das dunkle Getäfel an den Wänden ein schwarzer Himmel. Und sie selbst Sonne und Mond. – Ob ich auch versessen gewesen, die letzte Neige meiner Qual zu kosten, sie überwand mich. Ich stürzte wimmernd zu Boden. Als ich den Ort wieder erkannte, befand ich mich, alleingelassen, auf meinem Bette liegend, in meinem Zimmer. Ich konnte den Zorn meines Vaters daran ermessen, er hatte mir niemand zur Pflege oder zur Hilfe bestellt. Sehr deutlich wußte ich noch die Worte, die er über meinen Bruder und die Geliebte gesprochen. Mir fiel bei, daß nun dieser Schöne, dies Meer an Tugenden, unsere Eide gebrochen. (Wenngleich ich sie im Geiste vor ihm zerfetzt.) Ich gebrauchte die Kunst der Mathematik, errechnete seine Verworfenheit, um mir das Recht zu Vergeltungen zu geben. Rache und Brunst loderten in mir auf. Ich verfiel in eine solche Erregung, daß ich jede Beherrschung über mein Trachten verlor. Ich wollte zur Tür hinaus. Ich fand sie verschlossen. Ich hätte mich nun zum Fenster hinausstürzen können; wiederholen, was ich vorher schon getan, des Zimmers Schränke gegen mich wuchten; mit meinem Dolche mich zur Ader lassen. Doch kam eine Kälte von meinem Herzen, ehe ich es vermuten konnte. Es glomm ein Plan in mir auf, der mich befriedigen und meinen Widersachern schaden sollte. Dies Hirn wurde sehr bösartig, o Herr. Ich wartete, bis die Tür meines Gemaches von außen aufgeriegelt wurde. Ich stellte mich schlafend, als es geschah. Da niemand hereintrat, Schritte sich entfernten, erhob ich mich, ordnete meine Kleider, machte mich duftend, warf meinen Mantel über, ging auf die Straße. Ich begab mich zu den Bazaren und hörte mir an, welcher Art Geschehnisse die Erfahrenen zu berichten wußten. Brocken ihrer Rede merkte ich mir. Sie gefielen mir, gaben Steine für den Bau meines Vorhabens. Ich konnte Vorgänge berichten hören, die abenteuerlich waren wie mein Geschick. Was an dem meinen die Zukunft verbarg, hatte sich andernorts und anderen Menschen schon enthüllt. Auf dem Markt, bei den Lastträgern hörte ich Erlebnisse geflüstert, die mir nicht minder wohlgefielen. Ich nahm mir einen der Träger. Ich sagte ihm: »Zwar habe ich keinen Auftrag für dich, der in deinen Beruf gehört, doch du sollst belohnt werden. Es ist mir berichtet worden, daß du in vieler Leute Häuser eintrittst. Nenne mir unter deiner Kundschaft jene, von der du vermutest, daß mehr der Zufall des Abenteuers als das Gesetz der Ordnung in ihrem Geschick waltet.« – »Wenn ich Euch recht verstanden, junger Herr«, begann er seine Antwort, »werde ich Euer Begehren erfüllen können. Folgt mir, ich werde Euch geradeswegs dorthin führen, wohin es Euch treibt.« – Und schritt vorauf, während ich auf seine Fersen achtete. Wir gelangten in einen Stadtteil, der mir unbekannt war. Wir traten in ein Haus ein. Meine Ankunft wurde den Bewohnern berichtet. Ich entlohnte den Träger. Ich wurde von einer Frau empfangen, die sehr anmutig, doch von geringer Sorgfalt in ihrer Rede war. Sie war eine Kurtisane, und ihre Dienerinnen waren Negerinnen, die sich niederem Volk hingeben mußten. So groß auch mein Unbehagen nach den ersten Minuten meiner Ankunft war, ich wurde allmählich fröhlich, ein Dach zu kennen, das mich beschirmte, und das nicht das meines Vaters war. Die Frau schien Gefallen an mir zu finden. Ich aber beschloß bei mir, es so einzurichten, daß ich bei ihr bliebe, im Verborgenen, bis mein Plan zum Handeln ausgereift. Vielleicht auch, daß ich hier einen Helfer fände für mein Vorhaben.
O Herr, was Allah uns bestimmt, muß an uns wirksam werden. Es galt auch für mich der Vers: Neue Erlebnisse tilgen alte Erinnerungen, und das Gestern ist kürzer als das Morgen. Als wir beisammen saßen und Süßigkeiten aßen, war ich schon bereit zu den Spielen der Verliebtheit. Es hätte scheinen können, als ob ich die verzehrende Glut und Rache meines Herzens vertan. An meiner Bereitschaft mit meiner jungen Kraft ihr, die mich begehrte (was sie offenbarte), war ich jung doch, Freude zu geben, erkaufte ich mir die begehrte Wohnstatt. Ich sah manches in diesem Haus vor sich gehen, was besser im Verborgenen bleibt. Es war meiner bösen Seele angenehm. Ich nahm nicht Anstoß an der Unordentlichkeit der Lebensführung dieser Frauen, deren Dasein verkettet war mit den zufälligen Berührungen vieler Männer. Deren geringster Makel es war, daß sie die Gefährtinnen langweilten. Ob mein Auge blind war oder mein siedendes Hirn müde, o Herr, erklärt meine Duldsamkeit nach Eurem Belieben. Doch nennt mich nicht lasterhaft ohne Leidenschaft, nicht unkeusch ohne heftige Begierden! Erwägt vor Eurem Urteil, daß sehr bald der Tag herankam, an dem ich die Liebesbezeugungen der Frau nicht mehr ertrug; daß ich angefaßt wurde von einer heftigen Sehnsucht zu der ersten Geliebten, zu dem Weibe meines Bruders; daß ich unklug jene, die sich mir angetragen, schmähte, zu Boden schleuderte! Meine Gedanken, meine Pläne schüttete ich vor ihr aus, daß sie erkennte, wie sehr mein Herz zerfleischt. Daß sie mir hülfe, die Verstoßene. Doch wollte sie nichts meines überströmenden Mundes hören (ich war ein Tor, o Herr, sehr unklug), schrie nur. Sie schrie sehr laut. Sie stieß die Namen von Dienern und Dienerinnen aus sich. Die kamen herzu. Es war ein häßlicher Augenblick. Sie packten mich, überwanden mich, schlugen mit Fäusten in mein Angesicht. Stießen mit Füßen nach mir. Warfen mich auf die Straße. Der Kot haftete an meinen Kleidern. –«
Er zog das Los. Es entschied, das Pferd sollte als erstes den Toten zugezählt werden. Das Meistgeliebte. Dagegen wehrte er sich. Er heulte einen Laut, der so stark war, daß er Furcht vor seiner eigenen Stimme bekam. Er vernichtete die Lotterie, die ihn bedrohte. Er flüchtete mit dem Rücken gegen eine Wand, streckte die Hände vor sich.
»Gespenster sind um mich«, lispelte er, stampfte mit den Füßen zur Erde hin. »Hilfe, Hilfe«, gellte er, warf mit Gegenständen, die er erreichen konnte, vor sich.
Als er zu zittern begann, war das Schlimmste überstanden. Das Schlimmste war eine eisige Träne gewesen, die aus seiner Brust aufgestiegen war, bis sie zwischen seinen Lidern saß. Da hatte er seinen Rücken schützen müssen, seine nackten Nieren, in die hinein jemand die Zähne schlagen wollte.
Er entzündete alle Kerzen in den Leuchtern, gab Holz in die Glut des Ofens. Er nahm Brot, Fleisch und Käse. Aß. Nach der Mahlzeit holte er seine Axt. Mit dem Gerät ging er in die schweigende Nacht hinaus. Wühlte sich durch den Schnee. Begann eine Tanne zu fällen. Hieb dann die buschigen Zweige vom Stamm und schleppte sie ins Haus; zerkleinerte sie dort; gab das Tannengrün den schmachtenden Tieren. Sie fraßen.
Tag für Tag mußte er Bäume fällen. Auf eine große Menge des Nadellaubes gab er ein wenig von seinem getrockneten Brot. Die Klagen der Tiere verstummten nicht, daß er sie hungern ließe. Sie gossen seine Ohren aus mit ihrem schon müden Stöhnen. Er konnte sie nicht ansehen, ohne vor Scham befangen zu werden. Eingefallen ihre Flanken. Das Pferd erkrankte an einem Darmleiden. Perrudja half mit Brot. Nahm selbst nur noch Fleisch und Fisch zu sich. Er erhielt allen das Leben, das sie gefordert. Er selbst aber – war auch die Verwundung des Kniees geheilt, hatte sich auch sein Gebet erfüllt, daß er kein hinkender Krüppel blieb – sein Körper trieb einer Auflösung entgegen. Die Angst vorm Krankwerden saß ihm im Nacken.
Ich bin geschwächt. Ich bin überarbeitet.
Die Einsamkeit plagte ihn. Mit bleckenden Zähnen verteidigte er sich gegen die Furcht, die da war. Sein Herz ging unruhvoller als er es je gekannt. Die Haut hing ihm unstraff um die ermüdeten Knochen.
Eines Morgens sah er von der geöffneten Haustür aus einen Elchbullen gemessenen Schrittes durch den Schnee stapfen. Perrudja eilte in die Ställe, öffnete das Tor. Die Elchkuh trat hinaus. Nach einer Weile nahm sie den Artgenossen wahr, schloß sich ihm an. Ehe das Paar im Wald verschwand, blieb es stehen. Der Mensch konnte sehen, wie das größere Tier sich um sich selbst wendete und dann mit dicker Zunge das rauhgewirbelte Fell an den Schenkeln der einst gefangenen Elchkuh leckte.
Der Atnasee war zugefroren und schneebedeckt. Eine weiße Ebene von genauem Maß. Der Kirchhügel mit den Trümmern des Hauses und der Gebeine unter der Scholle lag feierlich gewölbt, weiß, wie sich versteht. Keines Menschen Fuß verirrte sich bei dieser Jahreszeit hinauf. Kurz vor Weihnachten fuhr ein Schlitten aus Atna, ein Mietsschlitten, über den See. Er hinterließ als Spuren die Gleise der Kufen und die fetten Löcher der Pferdehufe. Auf der Mitte der Eisfläche wurde gewendet. In weitem Bogen schwenkten die Fahrenden landwärts, der Straße zu. Nahe am Ufer ging die Fahrt zurück nach Uti. Es saßen ein Knecht und ein Fremder im Schlitten. Er war aus Oslo gekommen. Als sie die Straße erreicht hatten, stieg der Fremde aus. Er suchte über die verschneiten Wiesen und Äcker sich einen Weg. Er ging den Begräbnishügel hinan. Der Knecht sah ihn auf der Kuppe stehen. Und glaubte zu erkennen, daß jener schwer und tief atmete. Er hatte die Blicke gegen die jenseitigen Berge gehoben, die im Süden lagen. Die Sonne kam gerade über die Grate gestiegen. Die Luft war klar und ohne Spannung. Der Fremde mußte einen ergreifenden Anblick genießen, so meinte der Knecht. (Er wußte nicht, daß dieser Ausflug eine Wiederholung war.) Deutlicher meinte er, daß es kalt sei. Als der Mensch aus Oslo herabgestiegen war und wieder im Schlitten saß, hieß er die Richtung zurück nach Atna fahren, auf das Gut Gaustad. – Er kam dort an, wie es später mit großer Deutlichkeit erzählt wurde: Mit einem Mietsschlitten, der durch zwei Pferde gezogen wurde, tief eingehüllt in kostbare Rauchwaren; die Füße steckten in einem Sack aus Schaffell. Der Dunst der Pferde hatte sich auf ihrer eigenen Haut an den Wimperhaaren, in den Borsten des Maules, dem struppigen Pelz wieder zu Reif abgesetzt; so daß sie weiß erschienen, übernatürlich massig. »Wir sind weit umhergekommen«, hatte der Knecht gesagt und so getan, als ob er nicht aus Atna, und nicht jeder ihm dort begegnen könnte.
Im Flur des Herrenhauses erst löste der Zugereiste sich aus den vielen Hüllen, nannte seinen Namen, den Gaustad nicht behielt. In die Stube geführt gab jener vor, über Perrudja eine Auskunft einholen zu wollen. Ob der Gutsbesitzer dazu bereit sei? Der nun erinnerte sich, den Unbekannten schon einmal in diesen Gegenden gesehen zu haben. Diese Tatsache schuf ein ungefähres Vertrauen; so daß er einwilligte.
Über den Geschäften, die seiner Tiere wegen Perrudja in den Dörfern getätigt hatte, war seine Lebensführung in groben Umrissen bekannt geworden. Seine unnahbare, einsame Erscheinung war zertrümmert. Mensch unter Menschen, Sonderling unter Sonderlingen. Er wurde eingeordnet. Die Halbwüchsigen nur umgaben ihn in ihren Gesprächen mit einer heimlichen Scheu. Die Erwachsenen glaubten zu wissen, wer er sei. Er mochte schlau sein auf seine Weise. Er bewerkstelligte manches falsch, nach ihrem Urteil; als Ausgleich besaß er Geld. Er konnte sich die Ungeschicklichkeiten erlauben. Gaustad war sein Hauptlieferant für Futtermittel geworden. Nach der Herbsternte hatten sie sich geeinigt, daß der Gutsbesitzer noch einige Fuder Heu an ihn abtreten solle; dazu einige Dutzend Säcke Korn. Der frühe Schneefall war eingetreten. Gaustad hatte nicht wieder von der Bestellung gehört. Die kleinen Mengen Hafer, die Perrudja auf seinem Rücken hinauf ins Gebirge getragen, waren bei einem Höfner in Brenn erstanden worden. Es hatte sich weitergesprochen.
Der Gutsbesitzer gab die Zusammenhänge unbefangen an den Besucher. Sie lösten Beunruhigung aus. Der Bericht hatte über die letzten Wochen schweigen müssen. Nach einer kurzen Wechselrede wurde offenbar, daß der Fremde, nachforschend, schon auf anderen Höfen erfahren, was hier wiederholt wurde. Daß Perrudja westlich ins Gudbrandstal gewandert, mußte als unwahrscheinlich verworfen werden. Der Zugereiste glaubte schließen zu dürfen, daß in den Bergen ein Unglück geschehen sei. Die Art möge man sich nicht ausmalen. Man müsse darüber schweigen, bis besseres Wissen vorliege. Er bewog Herrn Gaustad, einen Boten ins Gebirge zu senden. Versprach gute Bezahlung der Dienste. Da jener bereitwillig, bemächtigte der Gast sich der Vorbereitung dieser, ihm offenbar wichtigen Angelegenheit. Er wählte unter den Knechten einen aus, der ihm vor den andern geeignet schien. Hob aus dem Schlitten Päckchen und Flaschen, bat, sie mit hinaufzunehmen. Verwunderlich war, daß er trotz so vielen Eifers verschmähte, sich an der Reise zu beteiligen. Hjalmar, dem der Auftrag zugefallen war, beschenkte er mit einer Handvoll harter Talerstücke. Zürnend, beschwörend, inständig bittend befahl er dem Knecht, jede menschliche Pflicht auf sich zu nehmen, wie schwer sie auch scheinen möge. Herrn Gaustad übergab er eine Anzahl großer Geldscheine; er schrieb auf einer blanken harten elfenbeinweißen Karte ein paar Zeichen. Es waren Ziffern und Buchstaben, Kennmarken für eine telegraphische Anschrift in Oslo. Es war ein seltsamer Augenblick, in dem viel Licht des Überflusses zum Vorschein kam. Die Gebärde derjenigen, die die Welt regieren. Der Glanz der großen Stadt, in der die Sorge sogar schimmernd und geschäftig und aufwendig. Er drückte dem Herrn und dem Diener die Hände, stieg in den Schlitten, tat eine letzte Bitte, dem Waldbesitzer gegenüber Schweigen zu bewahren, nicht zu erwähnen, daß ein Fremder aus Oslo eingegriffen. Dann fuhr er davon in Richtung Atnosen, zur Bahnstation.
Der Gutsbesitzer fügte von sich aus zu den Paketen eine Flasche Rum, Zucker und Kaffee. Hjalmar fuhr noch in der Nacht über Uti, über den See, durch die schweigenden verschneeiten Wälder. Zum zweitenmal trat der Knecht über die Schwelle des fernabliegenden Hauses. Perrudja erkannte ihn sogleich. Dennoch malte sich an ihm Erschrecken und unsicheres Staunen. Aus dem Burschen war ein Mann geworden.
Ein Mensch, gleich mir gealtert.
Der Einsame, der jeden Morgen sich im Spiegel betrachtet hatte, wurde zaghaft und beladen beim Anblick des Mannes. Breit, rot, ebenmäßig im Gesicht stand er in der Türöffnung: ein Gesunder, der an nichts litt. Der die Anklagen der Schwachen gegen Gott fortwischte. Alle Krankheit, die heimlich in Perrudja schlummerte, wurde angerührt und proklamierte ihre Herrschaft.
Kraft meiner blassen Hautfarbe. Kraft meiner blutleeren Lippen. Kraft meiner gefurchten kalkigen Stirn. Kraft meines trägen Bauches; der geschwollen an mir abgezehrtem Schwächling; in dessen Windungen Dörrfleisch und Rauchlachs gären. Des Halbkranken Hände zitterten. Er fühlte, daß der Ankömmling erschrak, ihm gleich, an dem Bild der Unähnlichkeit mit einem Menschen. Er wurde übermannt. Letzte Hemmungen schwanden. Er warf sich Hjalmar an die Brust und weinte. Ein Kind.
»Ich habe mich gefürchtet«, sagte er.
Der Knecht fand den Antrag nicht verwunderlich. Perrudja schien ihm dem wandelnden Freund Hein zu gleichen.
Bei Beginn der Unterhaltung gab es Rum. Nach dem Rum gab es heißen und starken Kaffee. Nach dem Genuß des Kaffees erzählte der Waldbesitzer die Geschichte seines Unheils. Nach der Erzählung verschlangen sie Leckerbissen, die aus Oslo angekommen waren.
»Woher ist das«, fragte Perrudja.
»Man weiß es nicht«, antwortete Hjalmar.
»Verlasse mich nicht wieder«, bat Perrudja, »harre den Winter lang mit mir im Gebirge aus!«
Der Knecht entgegnete, daß er Herrn Gaustad verdungen. Er selbst wolle nicht unmenschlich sein; aber der Gutsherr habe zu bestimmen. Perrudja begann an den Lippen zu nagen.
Ich muß um mein Leben betteln. Ich bin dahin gekommen, wo die Ärmsten sind. Der Häßliche und Kranke ist den Gesunden widerlich. Die Karitas ist eine Funktion der Trägheit und Schwäche.
Dann brach er aus sich mit seiner Stimme. Er sei am Ende seiner Kraft. Ob man ihn töten wolle? Er habe wochenlang, verzweifelt, die Festung gegen den Ansturm des Todes verteidigt. Nacht für Nacht habe der Feind weiße Schleier über ihn geworfen, ihn zu ersticken. An dem Röhren und Brüllen der Tiere habe er des hageren Geistes Gegenwart gespürt. Gift habe der ihm ins Blut gespritzt. Die Knochen welkten ihm. Ob man keine wirksame Hilfe bringen wolle? Kein kräftiger Arm gegen den Unerbittlichen sei aufzutreiben? Man möge ihm (Perrudja) seine augenblickliche Gestalt verzeihen; der Saft in ihm sei noch nicht in alten Tagen und würde in der Zukunft viel vermögen.
Er umschlich den Knecht. Er machte sich hündisch. Er machte sich jähzornig. Er winselte. Er prahlte. Er rechnete. Er fieberte. Der Wille zum Dasein sei verausgabt. Der Mensch werde schutzbedürftig, wenn er die Seele nicht mehr an sich fesseln könne. Das Verschwinden ins Ungewisse sei eine kaum zu ertragende Marterung.
Es ist der Augenblick meines Zusammenbruchs. Es ist an einer verborgenen Stelle Eiter in mein Blut eingebrochen.
Bilder und Reden entquollen unregiert seinem Mund. Seine Augen waren sehr böse und sehr müde. Der Knecht begriff. Er hieß Perrudja sich ins Bett legen; gab den Tieren kärgliches Tannengrün.
Es war leer in Perrudjas Brust geworden. Die Lungen waren klein wie Haselnüsse, und das Herz war das eingetrocknete Herz einer Mumie, abhanden gekommenes Herz der Bischöfe von Würzburg im heiligen Kloster Ebrach. Das Grab des St. Olaf, das man nicht finden konnte; in dem er unverwest liegt.
Auf den Schlaf des Kranken wartete Hjalmar. Dann schlich er hinaus, verschloß die Tür, fuhr zutal.
Er erklärte Gaustad, wie er den Waldbesitzer angetroffen. Der Herr willigte ein, daß er wieder ins Gebirge zog. Versprach auch, den Transport von Futter und Nahrungsmitteln in die Wege zu leiten. Er telegraphierte dem Fremden in Oslo und verfügte über einen Teil des Geldes, das ihm hinterlassen worden war. Pferde wurden beschirrt und wie Esel beladen.
Hjalmar fand bei seiner Rückkehr den Waldbesitzer im Hause tätig. Er hatte das Bett verlassen. War ohne Fieber, ohne Erregung. Matt, aber gefaßt. Perrudja erinnerte sich nur halb an die Begegnung und die Gespräche des Vortages. Als er durch die Ankunft Hjalmars eine ungewisse Hoffnung bestätigt fand, bemächtigte sich seiner eine stille Zufriedenheit.
Der Knecht war todmüde. Seine Augen dunkel umrandet vor Schlaflosigkeit und Anstrengung. Die beiden Menschen waren sich ähnlicher geworden. Beiden war es nicht unwillkommen. Sie aßen. Über Tisch sagte Perrudja, daß sein Zahnfleisch geschwollen sei. Er wies es vor. Es war rot, ungesund in der Farbe. Und schmerzte. Er bewegte deshalb sehr vorsichtig die Bissen im Munde hin und her. Nach der Mahlzeit übernahm Hjalmar alle Arbeit, trotz seiner übergroßen Müdigkeit. Der neue Herr gab ihm als Geschenk einen goldenen Ring mit einem schönen Stein und sagte dazu: Weil es so übel stehe. Wegen des vielen Mistes in den Ställen. Wegen der Unordnung. Wegen der Einsamkeit. Wegen der Kälte. Wegen der engen Behausung. Nach getaner Arbeit bewunderte der Knecht die Dinge, die in der Stube waren. Er sprach zwischen ihnen und Perrudja in den leeren Raum. Er erwartete keine Antwort. Es befriedigte ihn das echolose Wort. Aus den vielen Büchern glaubte er zu begreifen, der Waldbesitzer müsse sehr weise sein. Er hatte dergleichen vorher nicht gesehen.
Hjalmar müsse schlafen gehen, sagte Perrudja. Es sei nur ein Bett vorhanden. Ein nicht unbeträchtlich breites. Ob er es möge, neben einem zweiten Menschen zu liegen? Er wisse nicht, wie anders es einzurichten sei. Sie müßten ohnedies in der Stube zusammenhocken. – Der Knecht gab seinen Beifall. Er hatte lebelang mit einem zweiten im gleichen Bett geschlafen. In engen Betten. Auf Stroh. Die Lagerstatt Perrudjas war köstlich; kein Vergleich zu den ihm gewohnten Schlafplätzen. Er fragte nur, ob denn der Herr nicht Anstoß nähme? Er erbot sich, auf dem Fußboden zu schlafen. Perrudja schüttelte verneinend mit dem Kopfe.
Ich will nichts voraus haben vor diesem Menschen.
Er war sehr demütig und bedürftig. Er war ein Kätzchen, das gestreichelt sein will. Er dachte an die runden und nierenförmigen Blätter der Teichrosen, die grün und wächsern im Sommer –
Er sagte: Er habe zwar noch niemals an der Seite eines Menschen geschlafen; er werde vielleicht ein schlechter Kamerad sein. (Hatte er gelogen? In diesem Augenblick konnte es nicht entschieden werden. Vielleicht war er der, der nach Ablauf von vierundzwanzig Stunden die eigene Vergangenheit vergaß.) Hjalmar glaubte ihm die Aussage nicht. Sie war ungewöhnlich, zum erstaunen. Einem Manne, mehr als zwanzig Jahre alt, konnte der Ausspruch nicht geglaubt werden. Zwar wollte er nicht die Bezichtigung der Lüge erheben.
Er läßt die Frauen aus, dachte der Knecht.
Perrudja entkleidete sich als erster, streifte, abgewandt, ein langes Nachthemd über.
Hjalmar zögerte. Er schämte sich für den Fall, daß der Herr, entgegen der Vermutung, die Wahrheit gesprochen. Es bedurfte noch einer Aufforderung des anderen, ehe er begann, sich für das Nachtlager vorzubereiten. Er wusch sich die Hände, um tote Zeit zu gewinnen. Er zog, als er entkleidet war, kein Hemd über sich, schlüpfte ganz entblößt zu Perrudja unter die Decke.
Es war das erstemal (er erinnerte sich eines anderen nicht, er brach nicht durch zum Verschütteten seines Lebensweges), daß er von so nahe einen entkleideten Menschen gesehen, einen Genossen seiner Art. Er fühlte ein wenig Widerwillen, ein wenig Hingezogensein und Neugierde zu dem zweiten, der ihm ähnlich war. Er umtaute mit seinen Augen diesen Bau, den er in Büchern, in Bildern so oft beschrieben gefunden hatte und verwirrte sich angesichts der raumverdrängenden Existenz; und daß dunkle Haare Bauch und Brustwarzen überwucherten. – Er fühlte den warmen Leib neben sich, der nach Stall, Wald und sich selber roch. Es war Beruhigung in diesem Geruch. Er vertraute. Er fürchtete nicht Mord, Böswilliges, Ungezogenes von dem nahen Nachbarn, dem Nächsten, seiner Haut Vermählten. Ihre Füße berührten sich. Des einen Kniee lagen in des anderen Kniekehlen. Durch das Hemd kam Herzschlag des anderen. Diese Nacht war neue Nacht. Die Finsternis war ohne Gespenst. Die Wärme des Knechtes verscheuchte die tiefen Schatten der Todesfurcht. Perrudja hatte gewiß nicht einmal als Kind an den Brüsten der Mutter gelegen, daß er, erwachsen, die leichte Berührung eines Mitschläfers nicht gleichgültig nahm.
In der Dunkelheit, im Vorschlaf war seliges Sichersein.
Es ist jemand neben mir, auch wenn mein Leib der Krankheit und dem Verfall übergeben wird.
Schloß er die Augen, glitten Fratzen, Menschenköpfe, verzerrt, dunkel wie aus Holz, doch sich bewegend wie aus Muskel, an seinem inneren Auge vorüber. Es war eine Lästigkeit im Glück. Er vermochte nichts dawider. Er legte seine Hand um die Brust Hjalmars. Der war entschlafen. Aber es war Herz und Atem in ihm.
Am Morgen beim Erwachen fühlte Perrudja den Mund schmerzhaft verklebt. Er richtete sich auf. Der Knecht verließ das Bett, entzündete eine Kerze, bekleidete sich. Auf des Herrn Bitten reichte er einen Handspiegel. Das Instrument warf schwarzumrandete, geborstene Lippen zurück. Die nur widerstrebend die Zähne freigaben. Um die Zähne hingen eitrig Fetzen des Zahnfleisches.