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XI
ОглавлениеDas Pferd/Sassanidischer König
Ein Knabe weint
Zum 17. Mai war auf den freien Plätzen in der Nähe der Holmenkollenbahn-Endstation Majorstuen in Oslo eine lustige Zeltstadt aufgeschlagen worden. Buden, in denen Tand verkauft wurde. Plakate mit aufgedruckten Reichsfahnen und dem Spruch: Ja vi elsker dette landet. Fliegende Kaffeestuben. Recht im Mittelpunkt der vergänglichen Schönheit stand ein Prachtbau, eine Art Wunderwerk der Ingenieurkunst: ein großer schiefer Kreisel oder Schirm. Ein Rad konnte man es auch nennen. Über und über besät mit elektrischen Glühlampen. Am äußeren Rande des drehbaren, halb umgekippten Karusselldaches hingen an Drahtseilen bootförmige Gondeln, mit Plätzen für Fahrgäste, allseitig offen, aber doch notdürftig überdacht, mit kümmerlich ausladenden Lappen an den Flanken. Offenbar eine abgekürzte Formel für die Tragflächen von Flugzeugen. Beim Drehen wurden die Gondeln wegen der Stellung des Kreises einseitig haushoch geschleudert, kulminierten, sanken mit unnatürlicher Hast zutal, der Gegenseite zu, um wieder emporgeschleudert zu werden. Auf der Vorderseite, dargestellt durch ein wellenförmiges, hügelhohes, auf Kreisgrundfläche errichtetes Podium, das dazu diente, den Fahrgästen beim Stillstehen des Karussells das Besteigen der erhöht hängenden Gondeln zu ermöglichen, stand ein Orchestrion, eine mechanische Orgel von auffallender Größe. Sie füllte die Höhlung des hölzernen Berges eigentlich aus. Sie tönte. War verpackt in einem eigens für ihre Ausmaße zugeschnittenen geschlossenen Wagen, von dem man eine Längswand fortgenommen, daß man das Werk sehen und hören könne.
Die Abenddämmerung kam nur langsam und widerwillig. Zu einem gewissen Zeitpunkt war es soweit, daß ohne Beleidigung gegen den noch farbigen Himmel die elektrischen Glühlampen konnten zum Entflammen gebracht werden. Mit zunehmender Dunkelheit entschleierte sich die unnatürliche Pracht einer sinnvollen, aber im Rationalen zwecklosen Helligkeit. Die Art der Besucher des Vergnügungsplatzes, Bewohner der heiligen Stadt Oslo, wurde gegen die Mitternacht hin allmählich umgeschichtet. Die frommen Familien wurden mehr und mehr durch frivole Burschen und Mädchen verdrängt. Der Lärm und die Lustigkeit wuchsen. Die glaubensstarken Brüder der Heilsarmee und der Pfingstgemeinden, die vom Hause Elim und vom Hause Zoar konnten zorniger ihre Gesänge und Predigten ertönen lassen. Ihre Gerechtigkeit wuchs an auf dem Hintergrund soviel sündiger Freude.
Wie nun die Frömmigkeit und die sündige Freude, der Eifer und die Frivolität, das Licht und der Lärm, der Gesang und das Trompeten, der Duft von Schmalzkuchen und der von Bratwürsten, das Zeitliche und das Ewige in rechter Proportion zueinander standen und auf die rechte Weise dazu beitrugen, daß das Gleichgewicht im Geschehen erhalten wurde, die Menschen also nicht, in einer Anwandlung von Übereifer, etwa gemeinsam, in den Himmel fuhren, und auch nicht, der glaubensstarken Brüder wegen, ein Sündenpfuhl an der Stätte sich auftat, gekennzeichnet durch drastische Attituden des Teufels oder gar, viehischerer Art, durch solche der Geschlechtlichkeit oder des Alkohols – stand vor dem hölzernen Berg des schiefen Kreiselkarussells, genauer gesagt, vor der automatischen Orgel, ein Knabe im Alter zwischen zwölf und dreizehn Jahren. Obgleich auf den breiten Wegen die Menschen sich drängend hin- und herfluteten, verharrte er, wenige Schritte von ihnen entfernt, unberührt, recht allein.
Und er sah:
Daß ein Mechanismus von sinnverwirrender Kompliziertheit kraft unbegreiflicher Mittel sich zu gewissen Betätigungen und Verrichtungen herbeiließ, die dazu angetan waren, höchste Bewunderung, darüber hinaus ergreifende Gedanken zu erwecken.
Er sah nicht:
Welcher Gestalt der (verborgene) Automat war, noch erkannte er, in welcher Weise und durch welche Formen vom Herz des Instrumentes aus eine Verbindung mit den sichtbaren oder den hörbaren Funktionsträgern hergestellt war. Er war versucht, an Maschinen, ausgesuchte Meisterwerke der Feinmechanik, zu glauben, etwa von der Beschaffenheit und dem glänzenden Gelb kleiner Taschenuhrwerke, versehen mit ineinandergreifenden Zahnrädern, mit Federn, deren man 1 Kilogramm mit 2000 Kronen bezahlen mußte, oder der metallenen Taster, wie er sie zufällig auf einem Telephonamt für automatische Bedienung gesehen hatte, auf- und abfahren, doch ohne die Kraft, die sie trieb, noch die Wirkung und den Erfolg ihres (offenbar willkürlichen) Zieles zu begreifen. Auch nicht konnte und durfte er wagen, auf den verwegenen und doch zugleich einfachen Gedanken zu verfallen, daß die Luft, die er selbst (war er nicht vielleicht gleichfalls so ein Meisterwerk?) einatmete, mit im Spiele sei als ein Körper gewisser Dichte, der zwar unsichtbar, aber darum nicht minder konkret. Er würde also, das stand ihm bevor, eines Tages beschämt werden durch die Überlegenheit eines Fachmannes, eines Orgelbauers, eines Spezialisten auf dem Gebiet der Pneumatik, der aus Erfahrung, vielleicht aus Überlegung, wußte, daß diese Luft, der unbegreifliche Himmel, ein Ding, ein Körper, verdünnt aus sich und mit sich und durch sich selbst, was man Gas nannte, Aggregatzustand (fest, flüssig, gasförmig), und somit wie Wasser, zwar viel behender als dieses, durch Rohre geleitet werden konnte, um an vorbezeichneten Stellen, durch Bälge nämlich, eine Arbeit zu verrichten, darüber hinaus durch einen immerhin unbegreiflichen Vorgang mittels eigentlicher Musikinstrumente (Pfeifen) Töne, um nicht zu sagen Musik zu erzeugen.
Er sah:
Diese Bälge, weiß, offenbar ledern, wie sie sich hin und wieder bewegten. Dann nämlich, wenn die Trommelstöcke (es gab dieser Instrumente eines auf der rechten Seite des Orchestrions) in Bewegung gesetzt wurden zu einem kurzen, rhythmisierenden, stakkatoähnlichen Anschlag oder auch zu einem Wirbel von solcher Dauer, wie er für die Stelle des gerade gespielten Musikstückes erforderlich oder doch dienlich war.
Er sah:
Sehr viele Äußerungen des (wie er meinte) verborgenen und rätselvollen Herzens (Uhrwerk, Telephontaster, Lokomotive, Kolbenmaschine auf Dampfern. Hochspannungsaggregat), das, wenn auch nur sehr ungefähr, trotz der mehr mechanischen, nicht fleischlichen Struktur, eine Ähnlichkeit (durch die Erhabenheit seiner Mission) mit dem seinen, dem fleischlichen (wie er wußte, und weshalb er sich zuweilen fürchtete) haben mußte. Er trennte diese Äußerungen in offenbare und geheime und sichtete sie von einer anderen Warte aus in drei Klassen; von denen die eine mehr ein Attribut als eine Leistung des Herzens, also die beigegebene Form war, ein Ausdruck, wie man meinen konnte, der Seele, die recht ohne Kontrolle neben der Funktion stand; so öffnete sich in der Mitte das weißliche Gehäuse der Orgel zu einer großen, ovalen, tiefen Öffnung, in der man frei, nach zwei Seiten ansteigend, lackierte Pfeifen aus eben gemasertem Tannenholz sah, was sehr eindrucksvoll, mehr noch, geheimnisvoll sich ausnahm, obgleich diese unwahrscheinliche Offenheit nicht eine Funktion des Instrumentes, sondern eine Beigabe, eben die Form war, die in diesem Fall, wegen ihrer Rätselhaftigkeit, so tief anrührte – und die zweite Klasse, die nicht mehr Attribut, sondern direkte Tätigkeit war, mit tieferer Bedeutung erfüllte. Sie griff, das hätte beinahe übersehen werden können, weiter als augenscheinlich, hinein in die erste Kategorie. Über dem Staunen aus der Ursache des Instrumentes als Ganzes hatte er Teile übersehen, jene, um derentwillen er seine schwankende Betrachtung abermals in einen anderen Zusammenhang setzte, der, wenn er auch nichts Wesentliches verrückte, so doch den Reichtum des Eindrucks vermehrte, auch eine neue Art Strömung in ihn hineintrieb, die seine Wangen ein wenig rötete. Es standen nämlich an der Vorderseite des barockweißgoldenen Gehäuses auf Konsolen, die schwer mit geschweiftem Blattwerk ausluden, fünf menschliche Figuren, die nicht allein zur Kategorie der Attribute gezählt werden konnten, einmal, weil sie Instrumente in Händen hielten, die klingend waren (Glocken nämlich) und auch bedienten, daß sie klangen, zum andern, und gerade deshalb hatte er die Puppen selbst solange Zeit gänzlich übersehen, befanden sich hinter jeder zwei oder drei Bälge, Funktionsträger, die sich bewegten, wenn ihr Augenblick da war, und die offenbar den Figuren ihre Bewegung mitteilten, den Befehl nämlich, sich zu rühren (den Kopf, die Arme) und ihre Glocke ertönen zu lassen. Die Aufgabe der dem Menschen nachgebildeten Statuen, die bekleidet waren, und deren Anzug sehr realistisch, wenn auch reich, bunt und golden, durch Farbe dargestellt war (die Form durch geschnitztes Holz) war im wesentlichen, daß sie sich bewegten und somit, wiewohl hölzern, den Eindruck lebenden Fleisches erweckten. Erschüttert wurde er, als er die Form des dargestellten Fleisches mit seinen Augen näher abtastete. In der Mitte, also als dritte Puppe von rechts und links, stand ein Kapellmeister (ohne Musikinstrument) mit einem Taktstock in der rechten Hand, den er sehr temperamentvoll bewegte, offenbar um anzudeuten, daß er willens zu behaupten, die jeweils erklingende Musik sei seinem Hirn entsprungen. Er war gekleidet etwa wie die großen deutschen Kantoren Buxtehude und Bach, die zur Zeit des verebbenden Barock lebten – oder wie der Dichter Holberg, nämlich mit Schnallenschuhen, weiß- oder gelbseidenen Strümpfen, mit kurzer dunkler seidener Kniehose und einem farbigen, leicht betreßten Mantel, dazu eine Halskrause aus Spitzen und ebensolche Manschetten. Es war eine anmutige Kleidung.
Er sah:
Mit Erschrecken, mit völliger Verwirrung, daß der Kapellmeister sehr erhabene, runde, zwei Brüste besaß, wie er wußte, daß nur Frauen sie hatten, daß jener ganz schmal, wie geschnürt oberhalb der Hüften, und diese selbst breit und ausladend. Er irrte betäubt mit seinen Blicken zu den vier anderen Figuren, den Glockenschlägern und erkannte, daß sie Frauen (Glockenschlägerinnen), auch frauenhaft gekleidet waren, doch angetan mit seidenen Kniehosen wie der (die) Kapellmeister(in). Er verglich die Brüste, die Schenkel, die Taille der fünfe und fand sie übereinstimmend. Fünf Frauen also. Es bedrängte ihn; er hatte noch niemals von einer Kapellmeisterin reden hören.
Er sah:
Daß als symmetrischer Gegenpol der Trommel, die auf der rechten Seite des ausladenden Gehäuses, auf der linken eine Pauke aufgestellt war, die nur sehr selten, offenbar wegen der Artung der gespielten Musik, ertönte.
Er versuchte zu sehen:
Die geheimen Äußerungen (des Herzens nämlich), die dritte Kategorie, die er sich, von richtigen Schlüssen geleitet, als eine Bewegung vorstellte, wenngleich sie ihm offenbar wurde durch seine Ohren. Aber er entdeckte nur, daß seitlich ein graugrünes, mit Löchern versehenes Papp- oder Lederband angehoben wurde, im Gehäuse der Orgel verschwand und auf der Gegenseite wieder erschien, um, sorgfältig gefaltet, sich in einem Holzkasten selbsttätig abzulagern. Er erahnte, daß eine unmittelbare Beziehung bestand zwischen den gestanzten Löchern in dem laufenden Band und dem Klavier aus Stahlstäben, das ganz vorn, zu Füßen des (der) Kapellmeisters(-meisterin) aufgestellt war und nahezu unablässig gespielt wurde mittels auf Federn montierter eiserner Hämmer, deren zweites Hebelende durch einen starken Draht gefaßt wurde, der wiederum durch ein schwarzes Loch im Gehäuse verschwand – wo nicht das Herz selbst sich befand, aber eine seiner Absichten sich verwirklichen mußte.
Er sah:
Daß ein Kranz von Glühbirnen sich bemühte, alles offen antag zu bringen, was ihnen doch nur unvollkommen gelang.
Er sah:
Ganz am Boden des Instruments eine geheimnisvolle Inschrift auf weißem Grund mit roten Buchstaben: Gebrüder Bruder, Waldkirch, renovierten das Werk.
Er begriff:
Daß er tiefer, als er bisher getan, auf sein Ohr vertrauen müsse, um den Äußerungen näher zu kommen, deren Ehrgeiz es offenbar war, im Verborgenen zu beharren. Er richtete die Augen auf die hölzernen Pfeifen, die rechts und links ansteigend in der Öffnung des tiefen Ovales aufgestellt waren und gab sich den Vorgängen des Klanges hin.
Und er hörte:
Zuerst, daß er nicht auffassen konnte, welche Beziehung die augenblicklichen Töne zu einem Ganzen (dem Musikstück) hatten, weil er auf die voraufgegangenen (des perforierten Pappbandes wegen) nicht aufmerksam gewesen war, und die in den weiteren Augenblicken folgenden, weil ihr Zustand erst in der Zukunft lag (liegen würde), nicht von ihm gewußt werden konnten. Dieser ungewisse Zustand der Spannung hatte den Vorteil, daß er, nicht ergriffen durch die Begeisterung einer sequenzhaft vermittelten Vorausahnung des Musikstückes, mit gewisserer Deutlichkeit die Klangfarbe der Töne zu erwägen vermochte, also tiefer ihre Sinnlichkeit erfahren konnte, wozu ihm sein Alter an und für sich erhöhte Bereitschaft gab.
So hörte er:
Schneidende, einer Violine nicht unähnliche Flötentöne, die vielleicht jeder Schönheit bar, vergleichbar dem menschlichen Knochengerüst ohne Fleisch darüber, wenn nicht ihnen beigesellt ähnliche Töne anderer Lagen gewesen wären, die noch zudem eine, wenn auch unaussprechbare, Verwandtschaft oder Beziehung mit den streichenden unterhielten, die ihnen, wenn auch nicht das mangelnde Fleisch, so doch einen Überwurf verliehen, der sie recht körperhaft erscheinen ließ. Ihre Tugend konnte darin bestehend angenommen werden, daß sie sich in Bewegungen aufwärts und abwärts ohne Bruch aneinander reihen ließen; keine Lücke entstand, kein Übergreifen eines Tones in den anderen. Dann waren sie starr. Von gläserner Stärke. Man konnte es sagen, mit dem deutlichen Wissen im Hintergrund, daß Glas spröde und brüchig. Ein Glas konnte man zudem durch Anschlagen zum Ertönen bringen wie eine Glocke. Alle diese nicht bildhaften, sondern singenden Eigenschaften lagen in den Tönen und konnten wahrgenommen werden. Einen Zustand hatten sie, der ohne Vergleich ihnen allein eigen sein mußte, daß sie saugend waren. Wie die Fangarme eines Kraken. Sehr unbegreiflich, weil sie doch mehr frech als bescheiden. Es war das Wunderbare. Er fühlte deutlich, daß ein schluchzendes Wirbeln von seinem Herzen verlangt wurde.
Er hörte:
Ein wenig auffälliges, vielmehr leises Knacken, das auf mancherlei Weise gedeutet werden konnte. Es war so kurz und so regelmäßig gewesen, daß der erste Verdacht eines plötzlich entstandenen inneren Schadens aufgegeben wurde. Eine ständig vorhanden gewesene Nachlässigkeit in der Konstruktion schon war wahrscheinlicher. Oder eine Alterserscheinung, was möglicherweise sich in dem für ihn halbverständlichen Wort »renoviert« andeutete.
Er hörte:
Wenige Augenblicke nach dem Auftreten des Geräusches, daß es der hörbare Begleitumstand einer Bewegung (verborgen) gewesen sein mußte (wozu er Parallelen an seinem eigenen Körper fand), die etwas bewirkt hatte, was hinterher durch die Pfeifen hörbar wurde (werden würde) mittels veränderter Tonlagen, die veränderte Sinnlichkeit bedeuteten, wofür er empfänglich.
(Hörbar) wurde:
Was ausdrückt, daß er die Gegenwart der voraufgegangenen Funktion in ihrer Übersetzung durch die Töne, hervorgerufen durch das perforierte Pappband, bedingt durch Mittel (den Wind, was er nicht wußte), angestellt durch das Innerste (Herz), gegründet auf etwas noch Höheres (Geist des Menschen, des Erfinders), angetrieben durch ein Weltgesetz (das neidlos in Gott gesucht werden konnte), hörte (hört).
Er hörte:
Daß aus dem tiefsten Innern des erleuchteten Ovales, von rechts und links, stark seitlich, lokalisiert etwa da, wo verhältnismäßig dicke, seltsam geformte, prismatische und konische, gekröpfte und gedeckte Pfeifen (Tannenholz lackiert) standen, sehr tiefe, runde, kräftige und wohllautende Klänge kamen. Unähnlich den voraufgegangenen violinartigen. (Durch Zungen erzeugt, was er nicht wissen konnte.) Sie spielten offenbar die ergreifende und tragische Stelle einer Komposition, die sich nur der Bässe bediente. Es war Überfließen an Klang; aber die Übersattheit wurde zerstreut durch einen abwechselnd gleichtaktigen und synkopierten Rhythmus. Wie er in tiefer Ergriffenheit jetzt hineingetrieben wurde in den Ablauf der Komposition, gebannt durch die vollkommene Kugelform der Bässe, setzten die hohen Flöten, die violinartigen, singend ein, und sie erschienen nicht frech, sondern zagend. In das Zagen gellte das Stahlklavier hinein; aber es war mehr metallisch als schrill. Mit leisem Knacken kündete sich eine neue Veränderung an; ein aufsteigender Gesang, vergleichbar einem Zwiegesang zwischen Jüngling und Mann, der die Bässe, das Stahlklavier, die Violinflöten durchdrang.
Er begann zu weinen:
Langsam füllten seine Augen sich mit Wasser. Allmählich lösten die kugelförmigen Glühbirnen sich in Strahlenbündel auf, die vom Himmel bis zur Erde fuhren, nicht unähnlich gewissen kometartigen Sternen. In seinen Nasengängen häufte sich Schleim. Er kämpfte noch gegen die Triebe seines Herzens, sträubte sich, mit seinem Taschentuch das Wasser fortzuwischen. Ihm wurde bewußt, daß über seinem Kopfe menschengefüllte Gondeln durch einen schiefen Kreisel auf kreisförmigem Grundriß (Ellipse) herumgeschleudert wurden, daß auf den Wegen Tausende drängend sich stießen, daß er nicht allein und jeder, wenn er nur aufmerksam, ihn hier in seinem Zustand würde sehen können. So drängte er sich näher an den Wagen mit dem tönenden Instrument heran. Seine Tränen konnte er nicht mehr dämmen. Sie liefen die Wangen entlang. Salziger, heller Rotz mischte sich mit ihnen auf seinen Lippen. Allmählich begann es in seiner gespannten Brust (Sitz des Herzens) zu schüttern, seine Schultern wurden aufgeworfen, abwechselnd spannte und entspannte sich seine Bauchhaut. Er schluchzte. Und das Schluchzen war ein Laut. Und die, die vorübergingen, wurden aufmerksam. Ein Kunstgelehrter, der auf dem Markte anwesend war, und gerade an den Ort kam, dachte an den Jeremias des Michelangelo und daß jemand geschrieben, er säße, gemalt, in der Sixtinischen Kapelle da, in Erinnerung an das Wort: »Euch sage ich allen, die ihr vorübergehet: Schauet doch und sehet, ob irgendein Schmerz sei wie mein Schmerz, der mich getroffen hat.« Er dachte es nur, er gab es nicht aus seinem Munde, denn seine Braut war bei ihm, und sie waren ausgegangen, um fröhlich zu sein. Deshalb gingen diese Tränen sie nichts an (und es war richtig in jedem Sinne). Ein Herr zwischen 40 und 50 Jahren machte sich frei aus dem Strom der Menschen, tat die wenigen Schritte zu dem Weinenden und fragte die wortgewordene Frage der vielen, die stumm vorübergeglitten waren, nur sich selber fragend: »Worüber weinst du?« Und er antwortete, aufgelöst durch die verlorenen Tränen und den abgesonderten Schleim, mit durch Seufzer beschwertem Atem, unter einem erneuten Strom aus seinen Augen, vor Scham, Ärgernis erregt zu haben, vor Angst, trotzdem keine Besserung erfahren zu können: »Ich weiß es nicht.«
Der sehr geehrte Herr Sörensen, Probst an der Hauptpfarre von Vor Frelsers Kjirke, der mit seinen beiden Zwillingstöchtern, die zum Herbst Studenten werden sollten, vorüberging, wußte es auch nicht.
Hochwürden Rasmussen, Vikar und in naher Freundschaft mit Seiner Eminenz, dem weltklugen, weisen, doch darum nicht minder gütigen Bischof, der, um unterrichtet zu sein über die Dinge des täglichen Lebens, ihn (Hochwürden Rasmussen) auf den Markt entsandt, und der just vorüberging (recht eigentlich vermummt), wußte es auch nicht.
Der jüdische Herr Hjort, erster kristlicher Prediger der Presbyterianischen Gemeinde (Hinterhaus der Jens Bjelkes Gate), der mit seiner jüdischen Frau vorüberging, wußte es auch nicht.
Sein gleichnamiger Vetter (den er nicht zu kennen vorgab), seine Gütigkeit, der Unterrabbiner der jüdischen Synagogengemeinde (mit leicht melankolisch-zionistischem Zug), der mit seiner kristlichen Frau (welche, wie sich versteht, um seinetwillen eigenen Glauben und eigene Rasse verleugnet, weshalb er sie heiratete) vorüberging, wußte es auch nicht.
Herr Pieter Hendrik Cuipers (er war Holländer), Konsul, Kaufmann, Tyrann und Pfarrer der Mennonitengemeinde, die, bescheiden an Zahl, aber geldreich, in der Nähe des Schlosses einen Betsaal unterhielt (Stätte des Zornes), wußte es auch nicht.
Herr Büttner, Doktor zweier Fakultäten, Ehrendoktor einer dritten, der theologischen, der privatim mit Teertauen und rohem Hanf handelte, gewissermaßen ein guter Familienvater, mit Rücksicht auf seinen demnächst erwachsenen Sohn Heinrich, Hauptprediger der unerbittlichen reformierten Protestanten, der an der Seite seines obenerwähnten reichlich halbwüchsigen Sohnes (die Gattin war gestorben) vorüberging, wußte es auch nicht.
Prediger Ole Ellingsen, gemeinhin Johannes genannt, wegen seines mächtigen Vollbartes, von der Baptistengemeinde Kapelle Grünerlökken, der mit seiner Frau und seiner Dienstmagd vorüberging, wußte es auch nicht.
Prediger Emanuel Juul, von der Methodistengemeinde, Betsaal in Gemeinschaft mit Pieter Hendrik Cuipers, umschichtig, wußte es auch nicht.
Laienprediger Erling Haugastöl, der neu-apostolischen Kirche, wußte es auch nicht.
Ellend Dyrskar, einer der Heiligen der letzten Tage, wußte es auch nicht.
Frau Ragna Sokna, durchtriebene Bibelauslegerin und Entdeckerin des Kometen Melchisedekus, 2331 Jahre before Christ, 11 h. 55 Min. abends am Himmel sichtbar, ihrer Überzeugung nach Anhängerin der Christian Science, wußte es auch nicht.
Die Brüder Nils und Adle, vom Hause Zoar, wußten es auch nicht.
Die Brüder Kaare und Einar, vom Hause Elim, wußten es auch nicht.
Die von der Heilsarmee Sergeantin Haabjörg Vossevang und die Soldaten Leif Raeder und Daniel Mellemsund wußten es auch nicht.
Doch der Gehirnspezialist Dr. Martell(us) redete mit lauten Worten zu einer jungen Dame, deren Schwester (verheiratete Frau mit vier Kindern) vor drei Wochen auf seinem Operationstisch gestorben war, über das, was er nicht wußte: »Ich würde sagen, es handelt sich um eine Pubertätserscheinung bei diesem öffentlichen Plärren, aber der Junge ist zu kräftig.« Und weil sie alle es nicht wußten, begannen sie sich daran zu erinnern, daß man mit Hilfe von pädagogisch richtig gestellten Fragen die Ursache würde antag bringen können. Und sie schlossen doch, was verständlich, von einer großen Wirkung auf einen nicht unbeträchtlichen Anlaß (worin sie nicht irrten, denn der Junge war kräftig und groß gewachsen). Wie heißest du? Wo wohnst du? Hast du dich verirrt? Bist du deinen Eltern abhanden gekommen? Weißt du nicht nach Hause zu finden? Hast du etwas verloren? Hat dir jemand etwas fortgenommen? Hast du dir etwas getan? Hast du Schmerzen?
Die teils klugen, teils hilfsbereiten, teils forschenden Fragen, die sich entluden und noch nicht erschöpft waren, weil der Knabe nicht aufgehört hatte zu weinen, und nur ein unter Schluchzen geborenes »auf St. Hanshaugen« (eine ungefähre Angabe über seinen Wohnort) gezeitigt hatten, wurden auf sehr unliebsame und ungehörige Weise durch eines Rüpels Dazwischenruf unterbrochen, der in seiner ganzen Lästigkeit besagte: »Er hat sich vergessen und in die Hosen geschissen.« Diese gewiß unerwartete Wendung erzeugte gleichzeitig einiges Lachen und die erregte Entgegnung einer Dame mit der Feststellung: »Man würde es riechen.« Diese Rechtfertigung, die ziemlich unwidersprochen hingenommen wurde, hinderte indessen nicht, daß viele Augen sich auf die Hose (welche eine kurze blaue Kniehose war, die ziemlich stramm um des Knaben Schenkel saß) richteten. Angetrieben durch einen unkontrollierbaren Instinkt, wandte er den verdächtigen Körperteil von den Umstehenden ab, der Orgel zu, so daß sein rot gewordenes Gesicht der Betrachtung freistand, weshalb er es, das verweinte, mit beiden Armen, kreuzweis übereinander gelegt, verdeckte. Die einmal gesenkten Augen der Zuschauer blieben dabei, seine Hose zu betrachten, zwar von vorne jetzt, wo sie weder unappetitlicher noch einladender war als hinten. Die Würde des Augenblicks wurde dadurch wiederhergestellt, daß die Fragen erneut in Fluß gerieten, eindringlicher als vordem, aufgereizt, ins Ethische verdrängt durch des Rüpels ungehörige Rede.
Man wird dir nicht helfen können, wenn du schweigst. Ein halsstarriger Junge hat kein Anrecht auf das Mitleid der Fremden. Wer weint, hat dazu eine Ursache. Hast du dir den Magen übernommen mit Schmalzkuchen oder Würsten? Hat man dir Geld anvertraut, und du hast, etwas leichtsinnig, mehr vertan als sich gebührt oder dir zugestanden war? Haben deine Kameraden dich verlassen? Wer hat dich hierher geführt? Oder bist du allein gekommen? Hast du dich in der Zeit vergessen und ist es so spät geworden, daß du heimzugehen dich fürchtest? Was gedenkst du zu tun? Willst du heimwärts gehen oder – fahren? Oder hast du es dir noch nicht überlegt? Soll man dir Ratschläge geben für irgend etwas?
»Er hat eine beträchtliche Traube in seiner Hose hängen«, sagte ein jemand.
»Dorsch«, sagte der andere, »halt’s Maul.«
Da auf alle Fragen keine Antwort kam, zerbröckelte das Interesse an dem Kind. Man wandte sich enttäuscht ab. Man war sogar bereit zu verletzenden Redewendungen. In dieser allseitig lästigen Situation trat ein Mann vor, zog eine zierliche Geldbörse, entnahm ihr ein Zweikronenstück und drückte es in die eine Hand des Knaben. Dabei fühlte er, daß sie schweißig und fettig und kalt war. Ein Ekel wollte in ihm aufsteigen, vor so naher Berührung mit der Absonderung eines ihm unbekannten Menschen; aber er überwand ihn und dachte daran, daß es geschehen könnte, ein Dritter empfände vor ihm (dem Geber) bei einem verwandten Umstand auch Abscheu. Das bekehrte ihn. Er brachte sich darauf, daß Knaben oft unsauber und unflätig, aber den Zauber einer Jugendlichkeit besäßen, der das Abstoßende aufhöbe. Er vermied es, was er beabsichtigt hatte, sich die Hand an seinem Taschentuch abzuwischen und führte sie ohne Widerwillen an den Mund, teils verlegen, teils befriedigt, teils neugierig, den Schweiß des Fremden zu riechen, halb Tier, das sehnsüchtig, halb Intelligenz, die lächelt.
Ganz unbehelligt, ganz unbeachtet schlich der Junge an den Menschen vorüber, krampfhaft ein Zweikronenstück in schweißiger Hand haltend, nach St. Hanshaugen, Ullevaalsveien 14.