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4. Kapitel

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Im Kommissariat in der Via Urbana herrschte friedliche Ruhe, als Sparacio und Sciutto gegen zehn Uhr dort eintrafen. Die Kollegen der Carabinieri befanden sich noch zur Unterstützung der Tatortsicherung am Tiber-Ufer und so waren sie vermeintlich die einzigen Anwesenden im Büro des Sergente. Sparacio nutzte die Zeit, die von Sciutto geschossenen Fotos im Computer zu betrachten, während sein Kollege ihm über die Schulter sah.

Plötzlich hörten sie ein Poltern aus dem Nachbarzimmer, dem Büro Sparacios, das sich anhörte, als sei ein Stuhl umgefallen oder ein Mensch gegen ein Möbelstück gestoßen.

„Wir sind doch die Einzigen hier, oder?“ Sparacio starrte Sciutto an und richtete sich langsam auf. Sciutto blieb wie versteinert auf seinem Stuhl sitzen. Dann hörten sie es erneut. Dieses Mal klang es, als zöge jemand einen Stuhl über den Fußboden. Dann verstummte auch dieses Geräusch.

Sparacio legte den Zeigefinger seiner linken Hand auf seine Lippen und zückte mit der rechten seine Pistole. Dann schlich er zur Tür, die in den Nebenraum führte und Sciutto folgte seinem Chef auf Zehenspitzen.

„Commissario, ich glaube …“

„Psst!“ Sparacio winkte energisch ab und Sciutto zuckte ergeben mit den Schultern. Er sah, wie sein Chef langsam den Türgriff umklammerte und hörte, wie er tief einatmete. Sparacio drückte mit einer plötzlichen Bewegung den Türgriff nach unten, stieß die Tür mit einem kräftigen Ruck auf und machte Anstalten, nach vorne zu stürmen. Doch angesichts dessen, was er vor sich sah, brach er seine Bemühungen jäh ab.

Vor ihm präsentierte sich das Hinterteil einer, ja, nennen wir es einmal kräftigen Frau, mit den dazu passenden rundlichen Beinen. Das Gesäß wurde umspannt von einem, bedingt durch die Körperhaltung, enganliegenden dunklen Rock, die prallen Beine mit den undurchsichtigen und braunen Strümpfen steckten in einem Paar beiger Halbschuhe.

„Commissario, ich …“ versuchte sich Sciutto erneut Gehör zu verschaffen, doch wiederum winkte Sparacio hektisch ab.

Inzwischen war auch das Oberteil der Frau zum Vorschein gekommen. Sie richtete sich langsam in ihrer vollen Größe auf und drehte sich erst mit dem Oberkörper zu den beiden Polizisten um, dann folgte der Rest ihres Körpers. Nun, da sie in voller Größe vor ihnen stand und sich die Proportionen ihres Körpers dorthin verteilt hatten, wo sie hingehörten, offenbarte sie schon eine stattliche Erscheinung. Kräftig, mit Fettpolstern versehen und Rundungen, die, man kann sagen, überproportional ausfielen.

„Wer … wer sind Sie?“, stotterte Sparacio und betrachtete die sich ihm bietende Fülle von Kopf bis Fuß, wobei sein Blick über die schulterlangen pechschwarzen Haare, über das rundliche Gesicht und die dunklen Augen glitt und auf dem riesigen Vorbau unter der locker getragenen beigefarbenen Bluse der etwa fünfzigjährigen Frau haften blieb.

„Wonach sieht es denn aus?“, kam die spitze Gegenfrage und Sparacio glaubte ein rauchiges Kratzen in der Stimme festzustellen. „Sind Sie hier der Chef? Ja, Sie sind der Chef, sieht man sofort“, gab sie sich die Antwort selbst. „Ich bin Carla. Carla Formosa. Ihre neue Sekretärin. Hat Ihnen der Sergente nicht erzählt, dass ich heute hier anfange?“

Mit einem ungläubigen Ausdruck im Gesicht drehte sich Sparacio wie in Zeitlupe zu Sciutto herum. Der hatte die Schultern eingezogen und die angewinkelten Unterarme mit den Handflächen nach oben zu einer Unschuldsgeste geformt. Den Kopf hatte er mit einem demütigen Lächeln leicht zur Seite geneigt.

„Ich wollte es Ihnen sagen, Commissario, aber Sie …“

Sparacio winkte ärgerlich ab und ging auf die Frau zu. „Signora Formosa, entschuldigen Sie, Aber ich habe nicht damit gerechnet, dass man uns heute schon jemanden zuteilt. Ich freue mich natürlich sehr darüber.“

„Heute ist Montag“, sagte Carla Formosa streng mit leicht zusammengekniffenen Augen, was ihrem insgesamt hübschen Gesicht eine interessante Note verlieh und sah dabei nur Sparacio an. „Neue Mitarbeiter beginnen ihren Dienst meist Anfang der Woche. Übrigens: Da war ein Anruf für Sie.“

Carla drehte ihren gewichtigen Körper in Richtung des Schreibtischs, nahm einen Zettel, den sie offensichtlich dort abgelegt hatte und reichte ihn Sparacio. „Der Vice Questore. Er meint, es wäre an der Zeit, dass er Sie kennenlernt. Sie sollen ihn zurückrufen. Und so, wie es klang, würde ich ihn nicht allzu lange warten lassen.“

„Der Vice Questore also.“ Sparacio dachte an die Begegnung mit dem Questore und eigentlich reichte die ihm vollkommen. Auf der anderen Seite: Der Vice Questore war sein unmittelbarer Vorgesetzter, wogegen die Position des Questores mehr die politischen Belange der Polizei abdeckte. Er würde also nicht darum herumkommen, ihm seinen Antrittsbesuch zu machen. Alles zu seiner Zeit, dachte er und laut sagte er: „Das fehlte mir gerade noch. Ich habe weiß Gott wichtigere Dinge zu tun, als mich zu einem Kaffeekränzchen mit …“ Sparacio stockte und Carla vollendete den Satz.

„Mit Ihrem Vorgesetzten …“

„Wenn schon. Das hat Zeit. Wir haben einen Todesfall zu bearbeiten. Falls er wieder anruft, sagen Sie ihm, wenn es meine Zeit zulässt, werde ich mich bei ihm melden.“

Carla atmete tief durch und ordnete geschäftig einen Stapel Schriftstücke auf dem Schreibtisch. „Genauso soll ich es ihm sagen?“

„Genauso. Was ist nicht richtig daran?“

„Wenn Sie meinen, Chef.“

„Was soll der Unterton, Carla? Der Vice Questore hat seinen Dienst auch erst vor einigen Tagen hier in Rom angetreten …“

„Aber Signore Domenico ist eben der Vice Questore, Commissario Capo Sparacio. Er hat das Recht …“

„Domenico also.“

„Adolfo Domenico“, flötete Carla belustigt. Dieses Spiel schien ihr zu gefallen. „Vice Questore Adolfo Domenico. Was soll ich ihm sagen, wenn er wieder anruft?“

Sparacios Falten auf der Stirn waren nicht zu übersehen. „Ich werde ihn anrufen, später. Das hier geht vor. Er schüttelte den Kopf, als wolle er böse Geister verscheuchen. „Sergente!“ Es klang aggressiver, als er es vorhatte und Sciutto zog instinktiv den Kopf ein.

„Hören Sie, Enzo“, -er sagte Enzo, um den Eindruck, den er soeben erweckt hatte, vergessen zu machen, was Sciutto mit einer wohltuenden Verwunderung zur Kenntnis nahm-, „nehmen Sie sich die Vermissten-Listen der letzten … sagen wir sechs Monate, vor und legen Sie mir die Ausdrucke vor. Tun Sie es bitte gleich. Vielleicht kann ich mir in der Zwischenzeit einmal in Ruhe Ihre Fotos ansehen.“

„Des letzten halben Jahres, Commissario?“ Der ungläubige Blick Sciuttos traf Sparacio und zauberte diesem ein Grinsen ins Gesicht. „Wenn sechs Monate ein halbes Jahr sind, Sergente, das ist das wohl so.“

„Puh“, war das Einzige, das der Sergente imstande war von sich zu geben. Achselzuckend verließ er das Büro und Sparacio zog den Kopf ein, in der Ahnung, dass die Tür härter als üblich ins Schloss fallen würde. Doch seine Verspannung löste sich, als dieser Fall nicht eintraf.

Sparacio zog seinen Bürostuhl zu sich heran und vernahm hinter sich ein leises Pah, bevor sich die Tür erneut, und dieses Mal hinter Carla, schloss.

Mit einem fast unmerklichen Kopfschütteln breitete er die Ausdrucke der Fotos vor sich aus. Dass die Aufnahmen ausschließlich die Rückenansicht des Toten zeigten, nahm er zur Kenntnis. Vor ihm zeigte sich die Leiche -Sparacio tippte wegen des Körperbaus auf einen Mann-, dessen Rücken, Ober- und Unterschenkel und Fersen eine tiefblaue Färbung aufwiesen. Die Haut war infolge der Sonneneinwirkung an der ihm zugewandten seitlichen Körperhälfte an zahlreichen Stellen aufgeplatzt und zeigte angefaultes Muskelgewebe und Stellen, an denen Feuchtigkeit austrat, was die Leichenbestatter am Fundort mit Entsetzen zur Kenntnis genommen hatten. Auch Maden waren zu erkennen. Die Fotos zeigten einige der Exemplare, die sich zu weit über die Körperoberseite gewagt hatten und andere, die im Begriff waren, nach unten abzurutschen und auch einige, die das Foto im freien Fall abbildete.

Die Tür schlug erneut und Sparacio wusste, dass Sciutto seinen Ermittlungen nachging. Er schaute auf die Uhr und schüttelte missmutig den Kopf. Der Weg in die Via Portuense, -dort hatte der Vice Questore sein Büro-, würde ihm nicht erspart bleiben. Der Vice Questore würde keine Ruhe geben. Er musste es hinter sich bringen. Doch er nahm sich vor, erst der Gerichtsmedizin einen Besuch abzustatten. Er musste den Toten sehen und vielleicht konnte man ihm schon etwas über dessen Identität sagen.

Er griff zum Telefon und wählte die Nummer der Polizia Scientifica und ließ sich mit Pietro Foresta vom Erkennungsdienst verbinden.

„Ah, Marcello, ich dachte schon, du rufst nicht mehr an“, scherzte dieser, denn üblicherweise nervte ihn Sparacio schon dann, wenn es noch zu früh für irgendwelche Einschätzungen war.

„Und? Wie sieht‘s aus?“, fragte Sparacio ohne Umschweife. „Gibt es Anzeichen für ein Fremdverschulden?“

„Machst du Witze?“, gluckste es aus der Leitung. „Ach, ja, du hast die Leiche ja nur von unten, ich meine, ihre Rückseite, gesehen. Fremdverschulden? Überlassen wir das dem Gerichtsmediziner. Nein, was ich dir sagen kann: Es handelt sich um einen Mann. Das steht fest. Das Alter? Schwer zu bestimmen“, gab er sich selbst gleich die Antwort. „Die Fische … oder vielleicht Schiffsschrauben haben der Leiche arg zugesetzt. Und dann noch die Maden. In seinem Körper befanden sich Unmengen dieser Viecher. Aber alles hat ja zwei Seiten, wie du weißt. Sie werden uns dabei helfen, die Lagezeit der Leiche zu bestimmen.“

„Lagezeit klingt gut“, witzelte Sparacio. „Aber er lag ja, wenn auch in einem Baum.“

Foresta überhörte die Bemerkung. „Wir werden versuchen, die Identität des Mannes festzustellen, Fingerabdrucks-Vergleiche und so. Tut mir leid, dass ich dir nicht vorerst mehr sagen kann.“

Sparacio wollte gerade auflegen, da fiel ihm noch eines ein. „Wir vergleichen derzeit unsere Vermisstenfälle. Hat der Tote irgendwelche besonderen Kennzeichen? OP-Narben oder so? Du weißt schon.“

„Die haben die Maden weggefressen“, lachte Foresta und Sparacio stellte ihn sich am Ende der Leitung vor, wie der ewig fröhlich wirkende Kollege die Fotos vor sich mit Blicken abtastete. Sparacios Vermutung bestätigte sich sogleich. „Aber warte mal. Ich habe da jede Menge Fotoaufnahmen von der Leiche gemacht“, sagte Foresta. „Dank digitaler Technik habe ich sie schon vor mir auf dem Bildschirm.“

Was sonst? dachte Sparacio. „Na und?“, fragte er ungeduldig.

„Im Bereich der rechten Brusthälfte, in Höhe des Rippenbogens, da ist etwas. Ich kann es nur vermuten … aber du wirst es in der Gerichtsmedizin aus der Nähe betrachten können.“

„Bitte, komm‘ zur Sache. Ich habe noch Termine heute Nachmittag.“

„Kann mir schon denken. Der neue Vice Questore. Will Informationen aus erster Hand. Ich finde ja, er sollte selbst erst einmal Fuß fassen auf seiner neuen Dienststelle, anstatt …“

„Pietro!“

„Ja, ja. Ich verstehe. Also: Sieht aus wie der Teil einer Narbe. Eine Verbrennung vielleicht. Kann man nicht mehr erkennen. Ist einfach zu klein. Die Haut mit dem restlichen Teil der Narbe … die Maden, die Aale, oder was auch immer … du verstehst? Kann vielleicht wichtig zur Identifizierung sein.“

Sparacio beendete das Gespräch und schnappte sich sein Jackett. Dann eilte er die Stufen ins Erdgeschoss hinab und stand schließlich auf dem Gehweg, geblendet von der heißen Mittagssonne. Dann fasste er einen Entschluss. Questore oder Gerichtsmedizin? fragte er sich. Dann sah er den vorbeifahrenden Autos zu und fasste eine Entscheidung. Hell für den Vice-Questore, dunkel für die Gerichtsmedizin.

Es dauerte nur wenige Sekunden, dann tauchte ein Mercedes älteren Baujahrs mit einem deutschen Kennzeichen auf. Urlauber. Fünf Personen, eine komplette Familie. Der Fahrer, ein dicklicher älterer Mann mit Hut, hatte das Lenkrad krampfhaft umfasst und schaute konzentriert geradeaus.

Der Mercedes war schwarz. Sparacio lächelte. Der Vice-Questore musste warten.

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