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Prolog
ОглавлениеTeil 2
An einem anderen Ort in San Lorenzo, Rom
Die großgewachsene dürre Gestalt eilte gebeugt und mit staksigen Schritten über die Piazza di San Lorenzo in Lucina, einem südlichen Stadtteil Roms, den langen Schatten ihres Körpers mit der wehenden Kutte und der seinen Kopf verdeckenden Kapuze in der untergehenden Abendsonne vor sich herschiebend. Ihre Schritte waren nahezu lautlos, als sie an der Längsseite der Basilika entlangeilte und schließlich an einer stählernen, mannshohen Tür verharrte.
Die vermummte Gestalt schaute sich nach allen Seiten um und griff nach dem metallenen Türknopf. Das Portal gab dem Druck ihrer Hand nach und schwenkte mit einem leisen Quietschen nach innen. Dann sah sie sich noch einmal nach allen Seiten um und verschwand schließlich hinter der Tür, die sie mit einer bedächtigen Bewegung hinter sich schloss.
Die Gestalt eilte über drei bis vier steinerne Stufen abwärts, um sich anschließend in der Sakristei des Gotteshauses wiederzufinden. Dort öffnete sie die Tür zum Kirchenschiff, sah sich nach allen Seiten um und nickte zufrieden. Die Bänke waren leer, weder Gläubige, noch Touristen hielten sich dort auf. Sie lauschte noch einen kurzen Moment in die Leere der heiligen Halle und schloss die Tür. Dann begab sie sich zur der Stirnwand der Sakristei, an der ein offensichtlich ausgesonderter Hochaltar stand, der den Priestern dazu diente, die zur Messe gebräuchlichen Utensilien darin aufzubewahren, wobei auf das Aufstellen eines eher weltlich wirkenden Schrankes verzichtet werden konnte.
Die Gestalt beugte sich an der linken Seite des Altars zum Boden und tastete mit der linken Hand an der Rückseite des Altars entlang. Dann schien sie gefunden zu haben, was sie suchte, denn wiederum nickte sie zufrieden und sofort ertönte ein leises „Klack“, als ihre Hand einen Mechanismus betätigte. Sie erhob sich aus ihrer gebeugten Haltung und gleichzeitig schwenkte der Altar an der linken Seite etwa einen halben Meter nach vorne, gerade weit genug, dass sich die Gestalt hindurchzwängen konnte. Ein weiterer Griff und eine schmale unscheinbare Tür öffnete sich. Ehe sie sich durch sie hindurchzwängte, betätigte sie noch einmal den Schließmechanismus. Der Altar schwenkte hinter ihr langsam in seine ursprüngliche Stellung zurück.
*
Die Gruppe der fünf in dunkle Kutten gehüllten Männer verharrte schweigend mit gesenkten Köpfen in dem kleinen Raum, tief unter dem Kirchenschiff der Basilika San Lorenzo in Lucina. Außer einem runden Tisch aus schwerem alten Eichenholz und den darum angeordneten Stühlen sowie einigen Pechfackeln in ihren Halterungen an den Wänden befand sich keinerlei Mobiliar in dem Raum, dessen kalte und erdrückende Atmosphäre an die Folterkammern und Kerker einer vergangenen Epoche erinnerte.
Die Männer hatten diesen Raum nacheinander unerkannt durch die Sakristei und den beweglichen Altar erreicht. Nun verharrten sie wortlos, mit gesenkten Köpfen unter ihren Kapuzen, die Arme an den Körper gezogen, in dem Versuch, die Kühle des Raumes von sich fernzuhalten. Keiner schaute den anderen an, niemand eröffnete ein Gespräch, es schien, als lauschten sie in das Innere ihrer Körper, ihrer Seelen, in einer Erwartung, die sich sogleich zu bestätigten schien.
Denn, plötzlich, wie auf Kommando, erhoben sich die Köpfe der Männer. Sie lauschten den leisen Schritten, die ihnen über die Treppe entgegenkamen, über die steinernen Stufen, über die auch sie nach unten in den geheimen Raum gelangt waren.
Die einzige Tür des Raumes wurde von außen geöffnet und gab den Blick frei auf die schmalen Steinstufen der nach oben führenden Wendeltreppe, die in diesem Moment teilweise durch einen in der Türöffnung stehenden schlanken Mitbruder mit Kutte und Kapuze verdeckt wurde.
Die Gruppe am Tisch erhob sich ehrfurchtsvoll von ihren Plätzen und grüßte den Neuankömmling mit einem leichten demütigen Kopfnicken. Der jedoch blieb noch einige Augenblicke auf der untersten Stufe stehen und besah sich die Männer am Tisch. Ein zufriedenes Gefühl beschlich ihn, als er die ausnahmslos demütige und devote Haltung der anderen zur Kenntnis nahm.
„Nehmt wieder Platz und lasst uns für einen Moment die Förmlichkeiten vergessen“, forderte er schließlich die Männer auf, schloss die Tür hinter sich und nahm auf dem letzten freien Stuhl Platz.
„Ist Euch auch niemand gefolgt?“ Er sah in die Runde der Anwesenden, sah auf ihre Kapuzen, denn sie hielten die Köpfe immer noch gesenkt. „Seid Ihr euch dessen sicher?“, fragte er weiter. „Ist euer Geheimnis auch weiterhin gehütet?“
Die Männer nickten stumm zur Bestätigung und langsam erhoben sie ihre Häupter und sahen den Neuankömmling erwartungsvoll an.
„Wir werden uns sputen müssen“, drängte dieser. „Die Luftzufuhr unter der Krypta, wie ihr wisst. Wenn die Fackeln zu flackern beginnen, werden wir unser Treffen beenden. Deshalb komme ich gleich zur Sache.“
Er verharrte kurz und blickte die Dreinschauenden erneut der Reihe nach an. Doch dieses Mal senkten sie nicht ihre Köpfe. Erwartung stand in ihren Mienen geschrieben.
„Unser Treffen heute und hier, es musste sein. Man trachtet euch nach dem Leben“, sagte der Mann, der ihr aller Herr zu sein schien, schließlich so leise, dass sich die Köpfe der Anwesenden wie auf ein Kommando in Richtung des Wortführers bewegten. „Einer eurer Brüder … man hat ihn gefunden, brutal ermordet. Aber keine Sorge, die Schändung an seinem Körper wurde ausgelöscht, euer Geheimnis wird also gewahrt bleiben …“
„Wer hat die Zeichen entfernt, Herr?“, kam die zögerlich fragende Stimme aus der Reihe der Anwesenden, ohne dass der Fragende den Kopf erhob. „Wer hat ihn ermordet? War es des Zeichens wegen, oder ...?“
Der Neuankömmling erhob sich von seinem Stuhl und stützte seine Arme auf dem Tisch ab. Sein Atem ging schwer, als er in die Runde schaute und sah, wie einer nach dem anderen unterwürfig den Kopf senkte.
„Jemand ist hinter sein Geheimnis gekommen“, zischte er und sah erneut in die Runde. „Entweder, wir haben einen Verräter unter uns oder jemand führt einen Rachefeldzug gegen euch.“
„Aber …“ versuchte einer der in Kutten gehüllten Gestalten einen Einwand, doch die schroffe Handbewegung des Wortführers schnitt seinen begonnenen Satz im Ansatz ab.
„Wir werden von heute an mehr als vorsichtig sein. Nein, mehr noch. Wir müssen demjenigen, der uns das antut, zuvorkommen. Wir müssen ihn ausfindig machen.“ Die Stimme des Wortführers wurde lauter und fordernder. „Und wir werden dafür sorgen, dass es keine weiteren Opfer gibt. Ich habe Vorkehrungen getroffen. Euch wird ein Leibwächter zugewiesen, jedem Einzelnen. Ihr werdet ihn nicht sehen, nicht hören. Doch er wird in eurer Nähe sein. Es ist für alles gesorgt. Von euch erwarte ich Schweigen und absolute Loyalität. Niemand wird von eurem Geheimnis erfahren. Niemand!“ Und leise, fast flüsternd, fügte er hinzu: „Wir werden uns in nächster Zeit immer an diesem Werktag und zur selben Uhrzeit hier unten treffen. Legt nun das Schweigegelübde ab. Wer es bricht, wird den Zorn Gottes erfahren.“