Читать книгу Abuso - Hans J Muth - Страница 9
3. Kapitel
ОглавлениеAn diesem Montag, dem 11. Juli, war der Verkehr dichter als sonst und Sparacio sah keinen Sinn darin, einen anderen Weg als den direkten zum Tiber zu nehmen. Als er die Häuser seiner Wohnsiedlung verlassen hatte, folgte er der Via del Teatro Marcello, die er bis zum Tiber-Ufer nicht mehr verlassen musste.
Schon von weitem sah er die rotierenden blauen Rundumleuchten zweier Polizeiwagen, die auf dem Parkplatz an der Via di Santa Maria auf sein Erscheinen warteten. Sparacio ließ seinen Blick über die dunkle Brühe des Flusses gleiten, über den Fluss, den die Römer blonder Tiber nannten, über das Ufer, soweit es an den Bäumen vorbei einsehbar war und schließlich zu den wartenden Kollegen in Uniform, die angeregt mit zwei Männern diskutierten, ihrer Kleidung nach Jogger, die sich in der frischen Morgenluft austoben wollten.
„Was gibt es?“, fragte er kurz, als Sciutto auf ihn zu lief. „Eine Wasserleiche wird es doch wohl hier oben nicht angeschwemmt haben“, stellte er sarkastisch fest.
„Wir müssen dort hinunter.“ Sciutto zeigte auf den Abhang und zum etwa fünf Meter darunterliegenden unbefestigten Uferweg. „Mit dem Auto ist es ein großer Umweg. Stromaufwärts gibt es irgendwo eine Zufahrt. Für den Leichenwagen … später.“
„Also. Was ist denn nun?“
Sciutto bemerkte, dass Sparacios Nerven am heutigen Morgen nicht die besten waren und beeilte sich, einen Rapport zu geben. „Eine Leiche, dort unten. Sie hängt im Geäst eines dieser Bäume am Ufer-Pfad. Ich glaube, sie hängt dort schon länger.“
„Ein Selbstmord? Tod durch Erhängen? Mensch, Sciutto, es ist doch nicht das erste Mal, dass sich ein Mensch in einem Baum erhängt, auch nicht in der Nähe eines Uferweges. Warum sind Sie so aufgeregt? Ist doch nicht ihr erster Toter.“
Sparacio schüttelte den Kopf und sah zu den anderen drei Carabinieri hinüber, die auf irgendwelche Befehle zu warten schienen. „Es ist nicht so, wie Sie sich das vorstellen, Commissario. Er hängt nicht am … Hals … Sie verstehen schon. Er liegt.“
„Was denn nun, Sciutto? Ein Mann also?“ Sparacio schien irritiert und verärgert. „Liegt er oder hängt er?“ Dann winkte er verärgert mit einer barschen Handbewegung ab und machte Anstalten, den Hang hinabzuklettern. „Kommen Sie, wir werden uns das mal ansehen.“
„Ich werde vorangehen. Folgen Sie mir. Aber vorsichtig, der Hang ist noch rutschig“, warnte Sciutto vor den schlammigen Resten des Hochwassers, die im Schatten der Bäume noch nicht zur Gänze weggetrocknet waren.
Den befestigten Parkplatz trennte von dem Uferweg ein mit Bäumen bewachsener Hang und Sparacio folgte Sciutto, der, sich an den Ästen der Sträucher festhaltend, mehr rutschend als gehend hangabwärts dem Uferweg näherte.
„Und?“ Als sie auf dem Uferweg angekommen waren, glitten Sparacios Blicke über den Uferweg und wanderten zu den Bäumen und Sträuchern am Tiberufer.
„Nicht in diesen Bäumen, Commissario“, bemerkte Sciutto geduldig und zeigte mit ausgestrecktem Arm in die entgegengesetzte Richtung. „Sehen Sie, dort, die Bäume oberhalb des Weges, zur Via di Santa Maria hin.“
Sparacio runzelte die Stirn und schüttelte wortlos den Kopf. Er drehte sich kopfschüttelnd in die angegebene Richtung und folgte dem Blick Sciuttos. Dann verharrte er wie versteinert und langsam öffnete sich sein Mund. Nicht in der Absicht, etwas zu sagen, es war vielmehr das ungläubige Erstaunen, das seine Gesichtsmuskeln entgleisen ließ.
„Sie wird vom Hochwasser dorthin gespült worden sein“, versuchte Sciutto eine Erklärung. „Und dann die Sonne. Wer weiß, wie lange sie schon dort hängt … äh liegt.“
Sparacios Sprachlosigkeit legte sich mit einem Schlag und er begann die Situation zu analysieren. Einige Meter über ihm, an einem der eher kleinen Ahornbäume, die wild am Uferweg wucherten, hing mitten im buschigen Geäst eine unbekleidete Leiche. Eigentlich hing sie nicht. Es war so, wie der Sergente es sagte: Sie lag. Sie lag in einer Art und Weise, als habe man sie dort mitten im Astwerk aufgebahrt. Die Rückseite zeigte gegen den Boden, die Arme hingen schlaff seitlich am Körper herab, die Beine waren in den Kniekehlen über einem Ast nach unten abgewinkelt. Ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte, konnte Sparacio nicht feststellen. Was er aber sah, war die auffallend rote Farbe der Haut im oberen Bereich des Körpers, soweit man das von unten her erkennen konnte. Die der Erde zugewandte Körperseite wies eine dunkle Farbe auf, ein Gemisch von Grün, Dunkelblau und Schwarz. Seilartige Gebilde hingen an der Leiche herab und verliefen sich unterhalb des strauchartigen Baumes.
„Wer hat die … Leiche gefunden?“
„Zwei Jogger, Sie haben sie vielleicht oben bei den Kollegen bemerkt“, beeilte sich Sciutto zu antworten. „Zwei Feuerwehrmänner, hatten Nachtschicht und wollten sich vor ihrer Bettruhe nochmal auspowern.“
„Dann scheinen sie einen leichten Dienst gehabt zu haben, letzte Nacht. Sind die beiden befragt?“
„Ja, ich habe ihre Aussagen notiert und die Personalien aufgenommen. Sie laufen uns nicht davon, wenn wir sie noch brauchen sollten.“
Sparacio schien in Gedanken versunken und hatte seinen Blick auf die Leiche im Baum gerichtet.
„Was halten Sie davon?“, hörte er Sciutto neben sich fragen. „Eine seltsame Art, sich aus dem Leben zu verabschieden.“
„Sciutto, was soll das? Was glauben Sie, wie die Leiche dorthin kommt? Na? Haben Sie es eben nicht selbst vermutet?“
Sciutto schien kurz zu überlegen. „Jetzt weiß ich, worauf Sie hinauswollen, Commissario: Das Hochwasser. Genau, so ist es“ brach es triumphierend aus ihm heraus. „Das Hochwasser des Tibers in den letzten Wochen hat die Leiche angeschwemmt und als die Flut zurückging, spuckte sie die Leiche aus, dort auf den Baum.“
„Nun werden Sie mal nicht theatralisch.“ Sciutto bemerkte aus den Augenwinkeln, dass Sparacio lächelte. „Was ist mit der Spurensicherung? Rufen Sie die Polizia Scientifica. Di Silvio soll sich auf den Weg machen. Wir müssen verhindern, dass sich hier ein Menschenauflauf bildet. Wir können von Glück sagen, dass die Mauer dort oben entlang der Via della Greca die Sicht hier herunter auf den Fundort verhindert. Aber die Bergung muss schnell geschehen, sorgen Sie dafür.“
„Di Silvio habe ich bereits verständigt“, sagte Sciutto beflissen und schob schnell die Frage hinterher: „Soll ich einen Arzt verständigen?“
„Einen Arzt, Sciutto? Wozu?“ Sparacio schüttelte verständnislos den Kopf. „Es reicht, wenn der Tod in der Gerichtsmedizin festgestellt wird. Ordern Sie den Leichenbestatter und sagen Sie ihm, welche Aufgabe hier auf ihn wartet, damit er sich danach richten kann. Haben Sie einen Fotoapparat dabei?“
„Si, Commissario.“ Sciutto nickte beflissen. „Sie wollen, dass ich ein paar Aufnahmen schieße? Ich werde ein paar Aufnahmen schießen. Aus allen Perspektiven. Noch bevor die Polizia Scientifica eintrifft. Sie werden zufrieden sein.
Sie trafen fast gleichzeitig ein, Andrea di Silvio von der Spurensicherung und Pietro Foresta vom Erkennungsdienst. Sie hatten mit ihrem Fahrzeug den Weg über den Uferweg gewählt. In angemessener Entfernung ließen die Kollegen das Fahrzeug stehen und kamen, jeder einen Spurensicherungskoffer in der Hand, die letzten Meter zu Fuß auf Sparacio und Sciutto zu.
Beide sahen sich um und schienen etwas zu suchen. Dann folgten ihre Blicke der kurzen Kopfbewegung Sparacios und ebenso wie er standen die beiden schließlich mit offenen Mündern da.
„Was ist das?“ stotterte Foresta, ohne seinen Blick von dem Toten im Geäst abzuwenden.
„Wonach sieht es aus?“, stellte Sparacio die Gegenfrage und merkte sogleich selbst, wie ungehalten er klang. „Ein Opfer des Hochwassers, offensichtlich“, fügte er schnell hinzu. „So wie es aussieht, werden wir das nicht auf Anhieb feststellen können.“
„Also das ganze Programm?“ Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.
Sparacio nickte. „Das ganze Programm“, antwortete er und fügte noch schnell ein Danke hinzu.
Di Silvio und Foresta machten sie sich an ihre Arbeit und eine halbe Stunde später fuhr der Leichenwagen auf dem Uferweg vor. Ihm entstiegen zwei Männer in dunkler Arbeitskleidung. Einer von ihnen öffnete die Hecktür des Kombis und förderte eine Leiter zutage.
„Können wir anfangen?“, fragte der ältere, etwas korpulente Mitarbeiter, der wie sein Kollege mit schwarzer Hose und weißem kurzärmeligen Hemd bekleidet war. Schon bei der Frage verzog sich sein Gesicht, als habe er Essig getrunken. Dass diese Tätigkeit eine Arbeit darstellt, die laut mancher Leichenbestatter angeblich auch gleichzeitig aus einer Berufung heraus resultieren soll, ist nur schwer vorstellbar. Aber da ist auf der einen Seite der gute Verdienst, der raketenartig in die Höhe schnellt, wenn es Leichen wie diese zu bergen gilt. Dann die Transportkosten. Je weiter die Leiche transportiert werden muss, umso besser. Auch das erhöht die Einnahmen von Kilometer zu Kilometer.
Allerdings ist von der oftmals so propagierten Berufung nicht mehr allzu viel festzustellen, wenn Leichen wie die in dem Baum am Verlauf des Tibers zu bergen sind. Abscheu und Ekel werden dann einzig und allein in der Vorstellung von barer Münze etwas reduziert. Doch auch das gelingt nicht in allen Fällen.
Sparacio sah, dass die Kollegen von der Polizia Scientifica ihre Sachen zusammenpackten und nickte den beiden Bestattern zu. Die Männer machten sich an ihre Arbeit, erklommen den Hang, legten die Leiter an und blieben schließlich ratlos neben dem Baum stehen.
„Sie tropft zu stark“, rief der Ältere, der wie sein Mitarbeiter in sicherem Abstand von dem Baum auf eine Antwort wartete. „Und hier ist alles voller Maden!“ Er hob die Arme wie zur Abwehr und trat einige Schritte zurück.
„Sie ist eben nicht mehr die Frischeste“, rief Sparacio gut gelaunt zurück. „Ihr kennt doch euer Geschäft. Wird kaum unterbezahlt. Also runter mit der Leiche und ab in die Gerichtsmedizin.“
„Aber das da …“ rief derselbe Sprecher nun und zeigte auf die wie Seile aussehenden dünnen Stränge, die von der Leiche bis zum Boden reichten. Das sind …“
„Das sind nur Därme“, rief Sparacio zurück. „Packt sie wieder dahin, wo sie hingehören. Also: Wir sehen uns später.“
„Was haben Sie da eben gesagt? Därme? Das sollen Därme sein? Menschliches Gedärm?“ Sciutto schüttelte sich.
„Das ist die Natur, Sergente. Vielleicht haben auch Schiffspropeller dabei eine Rolle gespielt. Oder Aale, aasfressende Fische oder alles zusammen. Wer weiß? Wir werden es vielleicht nie erfahren. Warten wir den Nachmittag ab. Dann werden wir zur Gerichtsmedizin fahren. „Haben Sie die Fotos gemacht?“, fragte er Sciutto, als sie den Hang hochgekraxelt waren und auf dem Parkplatz bei den Fahrzeugen standen.
„Alles im Kasten. Aber die Polizia Scientifica hat den Tatort doch sowieso fotografiert. Was meinen Sie, Commissario? Mord, Selbstmord, Unglücksfall?“
Sparacio überhörte die Frage des Sergente. „Ja, die Kollegen werden ihre Arbeit schon richtigmachen. Ich werde mich später mit ihnen in Verbindung setzen.“ Dann blieb er kurz stehen und drehte sich noch einmal um, obwohl der Tatort mit der Leiche im Baum schon außer Sichtweite war.
„Die Maden, sie interessieren mich“, murmelte er nachdenklich
„Die Maden, Commissario? Warum die Maden? Es schüttelt mich, wenn ich daran denke.“
„Aber, Sciutto“, begann Sparacio, und es klang, als spräche ein Lehrer zu seinem Schüler. „Maden kann man essen. Wussten Sie das nicht?“
„Essen? Maden? Commissario, wollen Sie mich auf den Arm nehmen? Allein an den Gedanken wird mir schlecht.“
„Die Sarden stellen Käse her, Casu Marzu ist seine Bezeichnung. Das ist ein überreifer Schafskäse, der so lange reift, bis er Maden enthält.“
„Casu marzu? Nie gehört. Ich bin geneigt zu betonen, dass ich darüber froh bin.“
„Casu marzu bedeutet in einem sardischen Dialekt so viel wie verdorbener Käse“, belehrte Sparacio seinen Kollegen. „Der Herstellungsprozess hat einiges gemeinsam mit dem da unten.“ Er machte eine entsprechende Kopfbewegung in die Richtung des Tibers. „Käsefliegen legen bei der Herstellung ihre Eier in dem Käse ab, so wie die Fliegen auf der Leiche. In beiden Fällen entstehen dann Maden. Ist ein natürlicher Vorgang.“
„Wozu soll denn eine solche Schweinerei gut sein?“ Sciutto schüttelte sich bei dem Gedanken an seinen geliebten Parmigiano Reggiano und sah förmlich die Maden an der Oberfläche wimmeln.
„Das müssen Sie diejenigen fragen, für die solch ein Käse eine Spezialität darstellt“, antwortete Sparacio. „Die Maden dringen in den Käse ein und wandeln ihn durch Verdauung um, so dass er eine cremige Konsistenz und ein kräftiges Aroma bekommt und eine Flüssigkeit absondert, die lagrima genannt wird. Beim Verzehr befinden sich lebende Maden in dem Käse. Aber ich kann Sie beruhigen, Sergente. Nicht jeder Sarde isst die Maden auch mit. Das ist dem harten Kern vorbehalten.“
„Sie haben mir den Appetit gründlich verdorben, Commissario. Lassen Sie uns das Thema wechseln. Die Vorstellung allein …“ Sciutto schüttelte sich. „Sie wollten mir erzählen, warum Sie sich für die Maden in unserer Leiche interessieren.“
„In unserer Leiche, wie das klingt.“ Sparacio musste lachen. „Aber ich will es Ihnen sagen, Sergente. Passen Sie gut auf. Maden können uns etwas darüber erzählen, wie lange der Tote schon dort oben in dem Baum hängt.“
Sciutto zog die Augenbrauen zusammen. „Commissario, Sie wollen mich auf den Arm nehmen. Ich …“
„Nein, nein. Die Maden, und nicht nur die, sondern alle Lebewesen, die sich auf einer Leiche einnisten, sind sozusagen Zeugen, die wir eingehend befragen müssen. Sehen Sie, es ist ein Unterschied, ob wir junge Maden dort vorfinden oder ältere, ob wir verpuppte Maden vorfinden oder nur noch deren Hüllen. Oder aber, ob es vielleicht von Fliegen dort wimmelt, von ehemaligen Maden also.“
„Sie können junge von alten Maden unterscheiden?“ Sciutto verstand momentan kaum etwas von alledem, was ihm sein Commissario da erzählte. „Wie ...?“
„Es ist wie bei allen Lebewesen, Sergente. Der Alterungsprozess. Es ist der farbliche Unterschied. Junge Maden sind hell und alte sind dunkel. So einfach ist das.“
„Sie meinen, wenn sich herausstellt, dass nur junge Maden auf einer Leiche gefunden werden, dann ist das ein Zeichen dafür, dass sie erst seit kurzer Zeit am Tatort liegt?“
„Oder am Fundort. Genau. Sind die Maden älter, liegt die Leiche schon länger dort. Es gibt eine Reihe biologischer Einflüsse, die uns bei einer Zeitbestimmung unterstützen können.“
„Dann werden sie auf dieser Leiche dort nur alte Maden finden“, frohlockte Sciutto über sein frisch erhaltenes Wissen. „Das Hochwasser ist über eine Woche zurückgegangen, also hängt die Leiche rund eine Woche dort oben.“
„In diesem Punkt werden Sie wohl Recht haben, Sergente. Dennoch: Wir werden dort oben“, er zeigte in Richtung der Leiche im Geäst, „außer den alten Maden auch junge finden. Es ist eben wie bei uns Menschen. Manchmal wohnen auch mehrere Generationen in einem Haus.“
„Was glauben Sie, Commissario? Mord oder Selbstmord?“
„Es geschehen auch viele Unfälle bei Hochwasser, wer weiß, Sergente. Ich möchte mir schon vorher Gedanken machen können, ehe viel Zeit vergeht, bis wir Einsicht in die Fotos und die restlichen Unterlagen haben“, brummte Sparacio. „Dazu benötige ich dringend Ihre Aufnahmen. Wie auch immer. Der Fall wird sich vielleicht als Selbstmord herausstellen und schon morgen wird die Staatsanwaltschaft die Leiche zur Beerdigung freigeben.“