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12. Kapitel

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Accolito betrachtete sich in dem halbblinden Spiegel über dem Waschbecken in seiner aktuellen Behausung, während er sich mit beiden Händen auf dem Beckenrand abstützte. Dass die offensichtlich verrosteten Halteschrauben ihm durch starke Knirschgeräusche mitteilten, dass sie eine weitere Gewichtsverlagerung kaum mehr akzeptieren würden, ignorierte er. Materielle Dinge, insbesondere das Eigentum anderer, waren ihm gleichgültig, ausgenommen natürlich Geld; doch für Geld, da riskierte er schon einiges. Wie heute beispielsweise.

Ich bin bereit, sagte er sich und betrachtete weiter sein Spiegelbild, als ob dort ein Fremder vor ihm stünde. Ich bin bereit für die zweite Tat, die mir der Meister aufgetragen hat. Ich werde nicht zögern, seiner Anordnung Folge zu leisten, auch wenn ich nicht weiß, was der wahrhaftige Grund für diesen Auftrag ist. Ich habe nicht danach gefragt und werde es auch in Zukunft nicht tun. Der Meister wird wissen, was richtig ist. Auch die Vernichtung der Zeichen, die ich nicht zu deuten vermag, wird seinem Wunsche entsprechend erfolgen.

„Durch den vom Zahn der Zeit zernagten Quecksilber-Untergrund des Spiegels starrten ihn zwei stahlblaue Augen aus einem runden kahlgeschorenen Kopf mit wulstigen Lippen an. Seine Hände, die das Becken umklammerten, begannen zu zittern. Accolito kniff die Augen zu Schlitzen zusammen und schüttelte leicht den Kopf. Nein, keine Aggressivität, ich muss ruhig bleiben. Ich muss einen kühlen Kopf bewahren. Alles muss so laufen, wie sich der Meister das vorstellt. Ich werde ruhig sein. Er kann sich auf mich verlassen.

Accolito stieß sich vom Waschbecken ab, das sich mit einem leichten Stöhnen in seine Ursprungsposition zurückzog und griff sich seine schwarze Umhängetasche, die ihn stets begleitete. Er griff in eine der Taschen und entnahm ihr eine kleine Schachtel, die er vorsichtig öffnete. Mit spitzen Fingern griff er hinein und als er sie wieder herauszog, sah er auf die beiden kleinen Tabletten in seinen Fingern, ging zurück zum Waschbecken und drehte den Wasserhahn auf. Dann warf er sich mit einem Ruck die beiden Pillen in den Mund und bückte sich, um das fließende Wasser mit seinem Mund aufzufangen.

Schließlich wischte er sich den Mund ab und mit einem letzten Blick in den Spiegel griff er nach seiner Tasche, die seine wenigen Habseligkeiten, darunter seinen Laptop, beinhaltete und verließ seine Behausung. Wer nun in der Wohnung nach dem Mieter suchen würde, hätte kaum eine Chance, die Person ausfindig zu machen, die sich in den vergangenen Tagen dort aufgehalten hatte.

*

Aus der römisch-katholischen Basilika Santa Maria del Popolo an der Piazza del Popolo im Stadtteil Campo Marzio, unmittelbar an der Porta del Popolo, strömten die Besucher nach Abschluss der Abendmesse in den schwülen Juliabend. Die Sonne verschwand irgendwo zwischen den Häusern an den belebten Straßen und brach ihre letzten Strahlen an den Dächern, als wollte sie sich mit ihnen dort festklammern aus Angst vor dem Absinken in die kommende Nacht.

Die Basilika befindet sich ziemlich weit im Norden der Stadt und die große, runde Piazza del Popolo ist, wie auch das Gotteshaus, Anziehungspunkt zahlreicher Touristen

Auch der Innenraum ist wegen der beiden Werke von Michelangelo Merisi da Caravaggio, -der Kreuzigung Petri und zum anderen die Bekehrung des Paulus-, in einer der Seitenkapellen für Kunstfreunde eine Sehenswürdigkeit. Von der Treppe, die von der Piazza di Popolo hochführt, hat man einen fabelhaften Ausblick auf die Stadt.

Kardinalpriester Clemente Boreso fand sich eine Viertelstunde nach der Messe alleine in der geräumigen Sakristei wieder. Mithilfe der Messdiener, die nach getaner Arbeit durch das Seitenportal verschwunden waren, hatte er sich seiner Messgewänder entledigt und sie säuberlich in dem dafür vorgesehenen Schrank abgelegt. Vor dem barocken mannshohen Spiegel richtete er seine Soutane und griff nach dem roten Pileolus über seinem lichten dunklen Haar und nahm ihn ab. Sein Blick verharrte kurz an seinem sorgengeprägten Gesicht mit den kräftigen dunklen Augenbrauen und den tiefen Furchen um die Mundwinkel. Boreso überlegte, wann er zuletzt gelacht hatte. Er war ein Mann des Glaubens, was für ihn nicht nur geprägte Ernsthaftigkeit bedeutet hatte. Nur, wer seinen Humor im Herzen trägt, kann ein guter Priester sein, hatte er seinen Kollegen immer verkündet. Bis zu jenem Tag, den er am liebsten aus seinem Leben streichen würde.

Boreso fasste instinktiv mit beiden Händen an seine Brust und zuckte sogleich zurück, als habe er sich die Hände an ihr verbrannt. Sein Blick glitt wieder zu seinem Spiegelbild und ihm war, als altere er von Minute zu Minute. Nach jeder Messe holte ihn das gleiche Ritual ein. Nachdem er sich seiner Messgewänder entledigt hatte, war es der Blick in den Spiegel und die Konfrontation mit der Sünde, für die er so teuer hatte bezahlen müssen. Erst waren es die Schmerzen gewesen, die er lauthals in die Welt hatte herausschreien wollen, um sie schließlich dann doch für sich alleine zu verarbeiten, dann die Unveränderlichkeit, mit der er nicht mehr hatte leben wollen.

Er wusste nicht, wer ihm den Schmerz zugefügt hatte, den er sein Leben lang spüren würde, auch wenn er irgendwann physisch aus seinen Nervenbahnen verbannt sein würde. Doch er wusste, dass es die gerechte Strafe war, die er erfahren hatte, die Strafe für seine Sünden, die er nicht einmal seinem Beichtvater anvertraut hatte.

Lange glaubte er, nicht mit dieser Schmach, die er kaum ein Leben lang geheim halten konnte, leben zu können. Doch dann bedachte er, dass auch der Tod vor einer Enthüllung nicht würde haltmachen können. Und so lebte er in den Tag hinein, seinen Herrn und Gott stündlich anflehend, ihm zu vergeben.

*

Das Taxi hielt am Ende der Via del Babuino, wenige Meter vor Beginn der Piazza del Popolo, wie Accolito es von dem Taxifahrer verlangte. Nachdem er den Fahrer entlohnt hatte und das Taxi sich nach links einordnete und zurück durch die Via del Corso in die Richtung fuhr, aus der es gekommen war, schlenderte er an der rechten Begrenzung der Piazza entlang und nahm schließlich unter den riesigen Bäumen auf einer Bank Platz. Er schaute auf seine silberne Armbanduhr und hörte im gleichen Moment eine der Glocken der Basilika schlagen, die der Welt mitteilte, dass der heilige Teil der Messe im Inneren nun absolviert war. Es würde nun noch maximal eine halbe Stunde dauern, bis die Gläubigen das Gotteshaus verließen und die Kirche sich leerte. Auf diesen Moment wollte er warten. Sein Plan stand fest. Er wusste, wie er es angehen würde, damit er ungestört bliebe. Er wartete.

Accolito legte seine Tasche neben sich auf der Bank ab. Obwohl auf der Piazza noch vereinzelt Menschen flanierten, -die Temperaturen waren um diese Zeit, kurz vor 21.30 Uhr noch verhältnismäßig hoch und es herrschte eine trockene Schwüle-, hatte er die Sitzgelegenheit für sich alleine. Durch das tief hängende Geäst der Bäume beobachtete er den Ausgang der Kirche und dann war es schließlich soweit. Das Portal öffnete sich und die Menschen strömten aus der Basilika, verteilten sich auf der Piazza del Popolo, um schließlich in verschiedene Richtungen in den Straßen und Gassen zu entschwinden.

Accolito tastete nach seiner Tasche, die seine Habseligkeiten enthielt, die er für den täglichen Bedarf stets mit sich führte. Sein Laptop, diverse private Papiere, sein Mobiltelefon, -Prepaid versteht sich-, und etwas Unterwäsche, nicht mehr und nicht weniger. Seine Oberbekleidung wechselte er alle zwei Wochen auf eine unkonventionelle Art. In einem Kaufhaus besorgte er sich, was er brauchte, die getragenen Teile verstaute er in einer Plastiktüte und stellte sie irgendeinem Penner oder Bettler in der Stadt vor die Füße. Dass er derart verfahren konnte, machten ihm die Mittel möglich, die er für seine Aufträge erhielt, und kleinlich waren seine Arbeitgeber nicht. Sie wussten, dass sie sich auf ihn verlassen konnten, dass ihnen sein Schweigen und seine Loyalität in jeder Situation garantiert waren.

Das Geld, das er mit seinen Aufträgen verdiente, hatte er in einem Bankschließfach hinterlegt. Zinsen, Dividenden oder sonstige Sparvorteile waren ihm gleich, er legte keinen Wert darauf. Brauchte er Bargeld, nahm er es sich, verdiente er sich welches, legte er es dazu. Ein einfaches und sicheres Modell, falls ihm keine Inflation einen Strich durch die Rechnung machte.

Accolito beobachtete durch das Geäst der Bäume, wie sich der Platz leerte und entschied sich dann, seinen Plan zu verwirklichen. Er griff nach seiner Tasche, hängte sie sich über seine rechte Schulter und schlenderte gemächlich an der äußeren rechten Begrenzung des Platzes zum Kirchenportal. Er hatte in der Vergangenheit gründlich recherchiert. Gegen 22 Uhr verließ der Kantor die Basilika durch das Seitenportal, dessen Tür sich automatisch schloss, wenn man sie zuzog. So konnte sie sich nur noch von innen öffnen lassen. Dann begab er sich, einem festgelegten Ritual gleich, zum Hauptportal, dass er von außen verschloss. Danach betrat er die Kirche nicht mehr, sondern begab sich in seine Wohnung, unweit der Piazza del Popolo.

Bis zu diesem Zeitpunkt waren es noch knapp 15 Minuten. Accolito beeilte sich, die Stufen zum Hauptportal emporzusteigen und schließlich betrat er das Gotteshaus.

Langsam schritt er in den Eingangsbereich und in seinem dunklen Anzug und der massigen Erscheinung hätte man ihn durchaus für ein klerikales Mitglied halten können.

Bis auf eine kleine Gruppe von Touristen war die Kirche leer. Accolito räusperte sich und als die Gruppe sich ihm erstaunt zuwandte, machte er eine Bewegung mit seiner Hand, die unmissverständlich als Aufforderung zu verstehen war, die Kirche zu verlassen. Gleichzeitig zeigte er auf seine Armbanduhr und gab mit einem Handzeichen zu verstehen, dass er die Tür verschließen wollte. Mit verständnisvollen Mienen verließen die Touristen die Kirche und Accolito schlich hinüber in einer der zahlreichen Kapellen, wo er hinter einer Säule verharrte, bis er das Schließgeräusch außen am Portal wahrnahm, das ihm mitteilte, dass die Kirchentüren nun verriegelt waren.

Nun musste er nur noch warten. Was jetzt geschah, wusste er. Auch das gehörte zu seinen Recherchen. Es betraf den Priesterkardinal. Er würde nichts anderes tun, als das, was er nach jeder Messe tat.

*

Kardinalpriester Clemente Boreso setzte den Pileolus wieder auf und richtete ihn über seinem Haarwirbel über dem Hinterkopf. Dann verließ er die Sakristei und schritt durch die leere, ungewöhnlich reich ausgestattete Kirche, der Herkunft nach eine Basilika des Augustinerkonvents, der von den Päpsten Sixtus IV., Innozenz VIII. und Alexander VI. seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhundert stete Förderungen erfahren hatte.

Boreso schritt gemächlich durch den Hauptgang der Basilika, den Kopf gesenkt und den Gedanken, die ihn von morgens bis abends begleiteten, nachhängend. Sein Ziel war der Hauptaltar mit der Madonna aus dem 13. Jahrhundert. Schon seit Langem suchte er diesen Ort in der Kirche auch nach der Messe auf, um Abbitte für seine Sünden zu leisten, die er keinem Weltlichen anvertrauen konnte.

Ein Geräusch ließ ihn kurz innehalten. Die Kirchenbesucher hatten vor einer halben Stunde das Gotteshaus verlassen, doch es kam immer mal wieder vor, dass vereinzelt Touristen die Abendzeit nutzten, um ungestört, fern des Massenansturms, die Basilika zu besichtigen. Dann standen sie vor dem verschlossenen Portal, an dem sie ein- zwei Mal rüttelten, um dann resigniert davonzuziehen.

Boreso kam es kurz in den Sinn, dass man ihn vielleicht bewachte, auf ihn aufpasste. Ein Leibwächter vielleicht. Sein Leibwächter? Der, den man ihm bei der letzten Zusammenkunft versprochen hatte? Er sah sich um und lauschte in die tiefe Stille der gewaltigen Kirche. Doch es war kein Laut zu hören, es herrschte Totenstille und der Kardinal hielt den Atem an, um seine Sinne der Tiefe des Raumes zu überlassen.

Nichts, die Basilika war leer. Der Küster hatte vor ein paar Minuten die Kirche verschlossen, wie er es jeden Abend tat und war nach Hause gegangen, so war sein Ritual, jeden Tag, jeden Abend.

Dann war da wieder ein Geräusch. Dieses Mal ein völlig anderes. Es klang, als versuche jemand, das Hauptportal zu öffnen. Doch auch dieses Geräusch verstummte nach kurzer Zeit und wieder war es still.

Das Portal ist verschlossen, dachte Boreso. Vielleicht hat es ein Besucher versucht, das Portal zu öffnen. Er schüttelte den Kopf, als wolle er böse Gedanken vertreiben und schritt langsam weiter zu dem Altar, an welchem er die Gottesmutter um Fürsprache um seiner selbst bitten wollte. Sie wird mir nicht verzeihen können, aber sie wird meine Fürsprecherin sein, sagte er zu sich selbst, so, wie er es in letzter Zeit täglich tat.

Dann war das Geräusch wieder da, das Geräusch der Anwesenheit eines Menschen. Als Boreso hinter einem der riesigen Pfeiler nach links in Richtung des Marienaltars wechseln wollte, stand er plötzlich vor ihm.

Boreso erschrak infolge der plötzlichen Erscheinung des riesigen Mannes, dessen rundes Gesicht wie versteinert wirkte und dessen kalte Augen ausdruckslos in die des Kardinals blickten. Die Hände des Mannes hingen an seinem Körper entlang und sie waren unbewaffnet. Es war für die Einschätzung Boresos unerheblich. Er wusste, dass dieser Mann dort nicht in guten Absichten vor ihm stand. Boreso nickte vor sich hin. Der Mann war seinetwegen hier! Vielleicht war er derjenige, der ihm vor einiger Zeit die Schmerzen zugefügt hatte, die ihm seine Persönlichkeit geraubt hatten. Er blieb dicht vor dem Mann, der ihn nahezu um zwei Köpfe überragte, stehen. Er fühlte keine Angst. Er wusste: Irgendetwas würde geschehen, hier und heute Abend.

Kardinalpriester Clemente Boreso glaubte, Erleichterung in sich aufsteigen zu spüren. Er trat einen weiteren Schritt auf den Mann zu und versuchte, mit seinen Augen die des anderen zu erreichen.

„Nehmen Sie Abschied!“, sagte Accolito und sah Boreso mit seinen Augen von oben her an, ohne dabei den Kopf zu senken. Seine Stimme klang warm; fast väterlich erreichte sie Boreso, der vom Alter her sein Erzeuger hätte sein können.

„Meine Zeit ist also gekommen?“, fragte Boreso und es verlangte in ihm nicht einmal nach irgendeiner Erklärung. Er sah hinüber zum Altar der schmerzhaften Mutter und er lächelte. Wenn das der Engel ist, den du mir sendest, sprach er leise vor sich hin, dann lege ich mein Leben in deine Hand.

Er kniete auf der purpurn gepolsterten Gebetsbank nieder und erhob den Blick zu der Madonnen-Figur. Seine Lippen bewegten sich lautlos im Gebet. Er spürte, dass der riesige Mann näherkam und schloss die Augen. Dann spürte er seinen Atem hinter sich und fühlte, wie sich die Hände des Mannes um seinen Hals legten.

Es sind weiche Hände, registrierte er voller Erwartung. Seine Angst war mit einem Mal von ihm abgefallen. Weiche Hände, dachte er. Es sind die Hände eines Engels.

Abuso

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