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7. Leipzig (Deutsche Demokratische Republik), Mai 1990

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Die Rückmeldung des Vikars am nächsten Tag kam prompt und machte ihm Mut. Die Kinder lebten tatsächlich in dem Heim. Und Nicole und Kevin wollten ihn unbedingt sehen. Nichts schien sie so zu beschäftigen, wie ihr unbekannter Vater. Begierig drängten sie deshalb auf ein Treffen mit Neumeyer. Es sollte noch heute Abend nach dem Abendessen stattfinden. Die Zwillinge wollten sich dazu unerlaubt aus dem Heim schleichen. Der Vikar unterstütze diesen Plan nur ungern, es blieb ihm aber keine andere Wahl, wenn er auf der anderen Seite das Wohl der Kinder in die Waagschale legte. Neumeyer konnte seine Ungeduld kaum zügeln. Sich heute den Kindern als Vater zu offenbaren, war zu gefährlich, denn er hatte Angst vor ihrer Reaktion. Die Geschichte mit seinem Freund eröffnete ihm die Möglichkeit, nahe bei den Kindern zu sein, ohne sie sofort mit der Wahrheit zu konfrontieren. Wenn er sie besser kannte, dann konnte er ihnen die Wahrheit immer noch sagen. Er zermarterte sich das Gehirn, wie er die Kinder schnellstmöglich in Sicherheit bringen konnte. Die Vermutung lag nahe, dass jemand im Heim von den früheren Bonzen Befehle empfing. Auf keinen Fall durften die Kinder über das Treffen etwas verraten. Ihre Flucht musste er sorgfältig planen. Er brauchte Pässe für sie und aktuelle Fotos. Er wollte beim Vikar einen Fotoapparat ausborgen. Bei einem Stadtbummel stahl er in einem Fotogeschäft das zufällig herumliegende Passfoto eines anderen Mannes. Wieder zurück auf der Straße walkte er das Passfoto ordentlich durch, beschmutze es leicht und steckte es in seine Geldbörse.

Das Treffen rückte näher. Der Vikar fuhr ihn zum Treffpunkt unweit des Heimes. Als Erkennungszeichen saß Neumeyer auf einer Mauer und las Zeitung.

„Hallo, Sie!“, raunte es plötzlich hinter ihm. Neumeyer drehte sich um. Hinter ihm im Dickicht standen zwei Jugendliche. Die Zeit stand still. Wie in Zeitlupe betrachtete Neumeyer die Gesichter. Neugierig schauten sie ihn an. Beide trugen unverkennbar Monikas Gesichtszüge.

„Wissen Sie etwas über unsern Vater?“ fragte der Junge flüsternd.

Neumeyer wachte aus der Trance auf. Sein Herz raste. Er unterdrückte den Impuls, die beiden Kinder an sich zu drücken.

„Ihr seid Nicole und Kevin?“

Beide nickten heftig.

„Ja, ich soll Euch suchen!“, antwortete Neumeyer. Verdammt! Er hatte total vergessen, eine Story zu erfinden, warum ihr Vater sie nicht selbst suchte.

„Eurem Vater geht es nicht so gut, er hatte in letzter Zeit viel Pech und muss eine ziemlich schwierige Situation wieder in den Griff kriegen.“

„Bitte sagen Sie uns, wie es ihm geht. Wie er heißt, wo er wohnt. Können wir ihm schreiben oder ihn sogar anrufen?“, fragte Nicole.

Neumeyer sprang von der Mauer zu ihnen ins Dickicht.

„Nicht so hastig. Hier ist ein Foto von ihm. Er heißt Markus Worb und wohnt in Bonn.“

Begierig griffen die Kinder das kleine Passfoto. Ungläubig starrten sie es an.

„Wer sind Sie eigentlich?“, fragte Nicole neugierig.

„Ich habe Eurem Vater versprochen, Euch zu finden. Ich bin sein bester Freund.“

„Und wieso haben Sie DDR-Klamotten an?“, fragte Kevin unvermittelt.

„Ich kann mir halt nicht so viel leisten wie andere.“

„Wann kommt er? Wann können wir ihn sehen?“, fragte Nicole begierig.

„Kinder, Ihr müsst noch ein bisschen Geduld haben. Da gibt es nämlich noch ein Problem.“

„Oh nein, sagen Sie nicht, dass wir uns nicht sehen können!“, rief Nicole aus.

„Das ist es nicht. Euer Vater ist abgehauen in den Westen, bevor eure Mutter starb. Er bekommt deswegen immer noch Drohungen. Wir wissen nicht, woher und von wem. Vielleicht gibt es noch ein paar alte Stasisäcke, die eine alte Rechnung mit ihm offen haben. Und wir befürchten, dass die Euch auch überwachen. Die alten Seilschaften halten immer noch zusammen. Deswegen dürft Ihr Euch auf keinen Fall etwas anmerken lassen. Habt Ihr das verstanden?“

„Ja. Aber wie können wir ihn erreichen?“

„Im Moment gar nicht. Mit unbedachten Handlungen oder Äußerungen gefährdet Ihr ihn nur, solange wir nicht wissen, woher die Drohungen gegen sein Leben kommen. Deshalb habe ich mit Eurem Vater ausgemacht, dass ich Euch bald abhole. Heimlich. Dann verduften wir.“

„Flucht aus dem Heim?“, jubelte Kevin.

„Ja. Und Ihr sagt niemand ein Sterbenswort! Versprochen?“

„Zu keiner Menschenseele. Wir wollen zu unserm Vater. Und wir wollen, dass ihm nichts passiert!“, sagte Nicole trotzig.

„Noch was. Ich habe Eurem Vater versprochen, Fotos von Euch mitzubringen. Er hat Euch noch nie in seinem Leben gesehen. Bitte haltet einfach gegenseitig dieses weiße Tuch hinter Euren Kopf und dann mache von jedem ein paar Fotos.“

Die Kinder machten begeistert mit. Neumeyer verbrauchte einen ganzen Kleinbildfilm.

„Ich halte Kontakt zu Euch über den Vikar. Geht einfach ab und zu in die Kirche, das ist am Unauffälligsten. Der Vikar ist teilweise eingeweiht. Wenn Euch der Vikar ein konkretes Datum für ein neues Treffen mitteilt, dann ist das der entscheidende Code. Er beutet: Es ist soweit. Wir türmen. Verratet kein Sterbenswort an den Vikar über unsere Fluchtpläne. Und zur Absicherung müsst ihr Euch noch einen zweiten Code merken. Wenn ich dem Vikar ein Datum für ein Treffen vorschlage, dann nenne ich die Kirche als offiziellen Treffpunkt. Aber in Wirklichkeit treffen wir uns hier am selben Platz und um dieselbe Zeit. Ihr dürft nichts mitnehmen. Niemand darf ahnen, dass Ihr abhaut. Und zuletzt ein dritter Code: Unser Treffen findet in Wirklichkeit drei Tage vor dem offiziell genannten Termin statt. Damit verhindern wir, dass unsere Pläne scheitern, falls der Vikar etwas weitererzählt. Bei so einer wichtigen Angelegenheit darf es nur vier Eingeweihte geben. Ich, Euer Vater und Ihr beide.“

Die beiden waren begeistert von den geheimnisvollen Codes.

„Kommt unser Vater auch mit, wenn Sie uns abholen?“

„Wahrscheinlich ist er auch dabei.“

Nicole machte einen Freudensprung.

„Meinen Sie, wir können dann bei ihm leben?“

„Ich bin ziemlich sicher, dass er Euch bei sich haben will.“

„Hat er eine neue Frau?“, wollte Nicole wissen.

„Nein, er lebt alleine, er hat nie geheiratet.“

„Nicole, wir müssen gehen, es ist spät und bald ist Kontrolle“, sagte Kevin.

„Ich wünsche Euch alles Gute, bitte seid vorsichtig“, bat Neumeyer.

„Wird gemacht. Heute ist für uns der schönste Tag in unserm Leben“, sagte Nicole.

Neumeyer machte einen Spaziergang zurück zur Straße. Dann entdeckte er das Auto des Vikars. Er ging darauf zu. Der Vikar öffnete die Beifahrertür.

Neumeyer ließ sich auf den Beifahrersitz plumpsen.

„Und, haben Sie die Kinder gesehen?“, fragte der Vikar.

Ja, natürlich und ich habe ihnen versprochen, dass ihr Vater sie irgendwann besuchen kommt. Da er offiziell die Kindschaft der beiden nie anerkannt hat und außerdem Republikflüchtling ist, sollte man das Treffen mit ihm und den Kindern eventuell lieber unter den Schutz ihrer Kirche stellen?“, fragte Neumeyer. „Man weiß ja nie!“

„Natürlich, das ist nur logisch. Ich helfe gerne. Ich bin froh, dass die Kinder wieder eine Perspektive haben. Wissen Sie, das gibt jungen Menschen Mut und Zuversicht und genau das brauchen wir heute dringender denn je.“

Der Immanuel-Plan

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