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6. Leipzig (Deutsche Demokratische Republik), Mai 1990

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Den tristen Hauptbahnhof ließ er schnell hinter sich. Für einen Besuch der Friedhöfe war es zu spät. Direkte Erkundigungen bei staatlichen Stellen würden Spuren erzeugen. Telefonbücher halfen auch nicht weiter, denn Monika hatte mit Sicherheit ihren Familiennamen gewechselt. Falls der Friedhofbesuch morgen zu nichts führte, würde er ein Tageszeitungsarchiv durchpflügen. Vielleicht stieß er auf eine Todesanzeige. Angehörige pflegten oft den Geburtsnamen einer gestorbenen Frau zu erwähnen. Auch das Nachtquartier durfte keine Nachprüfung nach sich ziehen. Er klingelte am Pfarrhaus der Nikolaikirche. Eine ältere Dame öffnete. Neumeyer bat höflich um eine Empfehlung für ein kostenloses Nachtquartier. Das wurde ihm prompt gewährt. Er durfte im Gästezimmer übernachten und genoss die Annehmlichkeiten einer Dusche. Es folgte der Ruf zum Abendessen. Zu seiner Verwunderung saßen die Haushälterin und ein junger Vikar bereits bei Tisch. Beide erkundigten sich vorsichtig nach seinen Verhältnissen, worauf er nur erwähnte, dass er auf der Suche nach dem Grab einer lieben Freundin sei. Spontan erklärte sich der Vikar bereit, ihn bei der Suche zu unterstützen. Neumeyer bedankte sich, betonte aber, dass er es gerne alleine versuche. Diese Nacht schlief er traumlos. Das Frühstück, das man ihm bot, glich einem Wunder. Um neun Uhr morgens stand er bereits vor dem Zentralfriedhof. Ein alter Mann in einer undefinierbaren Uniform öffnete die schmiedeeisernen Tore.

„Kann ich Ihnen weiterhelfen, junger Mann?“, fragte er.

„Ja, ich suche das Grab einer Frau, die 1984 starb. Ihr Vorname war Monika und ihr Mädchenname war Dessler. Sie wohnte zuletzt in Leipzig und wurde in Leipzig begraben.“

„Da kommen Sie mal mit, junger Mann. In den Büchern des Friedhofs sind alle Verstorbenen verzeichnet. Das ist Vorschrift, weil manche ja kein Grab wünschten, sondern die Einäscherung. Nicht alle Urnen haben eine Inschrift, manche sind anonym vergraben. Nur wir von der Friedhofsverwaltung wissen, wo sie liegen. Kommen Sie mit, wir finden Ihre Bekannte.“

Der alte Mann war offensichtlich froh, dass er so früh morgens schon Gesellschaft bekam. Freudig erregt eilte er mit Neumeyer zu einem großen Gebäude, das von drei Seiten mit Säulen umgeben war. Unterwegs winkte er zwei Arbeitern zu, die gerade ein neues Grab aushoben.

Das Inventar des großzügigen Büros war museumsreif. Die riesigen Kladden, die in einem überdimensionalen Regal standen, fielen Neumeyer sofort auf.

„1984 sagten sie? Und wie lautet der Name?“

„Mit Vornamen hieβ sie Monika und der Mädchenname lautete Dessler. Ihren letzten Familiennamen kenne ich leider nicht.“

„Die Verstorbene finden wir, hier geht keiner mehr verloren.“

Er kicherte kurz über seinen Witz und begann, eine der Kladden blitzschnell abzusuchen.

„Hier im April gibt es eine Monika Hauptmann … aber keine geborene Dessler. Ich schaue weiter …“

Hoch konzentriert überflog er alle Einträge.

„Da!“, rief er plötzlich aus. „Grab 436. Monika Wagenbach geborene Dessler. Sie wurde am 17. März begraben. Soll ich Sie zu dem Grab begleiten?“

Das schnelle Ergebnis überrumpelte Neumeyer. Würde er das durchstehen? Wissend, dass diese wunderschöne Frau vielleicht auf schreckliche Art zu Tode gekommen war und jetzt nur noch ihre Knochen in zwei Meter Tiefe herumlagen? Konnte er den Traum an sie bewahren?

„Ja, zeigen Sie mir das Grab“, presste er heraus.

Der alte Mann merkte, wie Neumeyer mit sich kämpfte.

„Der Tod, junger Mann, ist noch nichts für Sie. Der ist noch weit weg in Ihrem Leben. Ich dagegen muss mich schon darauf vorbereiten. Und das geht hier besser als irgendwo anders. Der Tod bedeutet das Ziel unseres Lebens. Aber das verstehen Sie noch nicht. Kommen Sie. Ich rede auch nichts mehr Törichtes!“

Schweigend geleitete ihn der alte Mann zum Grab 436. Ein matter, schwarzer Grabstein ohne Schnörkel mit eingraviertem Kreuz und verwitterter Goldschrift: Monika Wagenbach, geb. 1953, gest. 1984. Der alte Mann wandte sich ab und ließ ihn allein. Hier war die Mutter seiner Kinder begraben. Es gab keine Gelegenheit mehr, mit ihr zu reden. Es gab keine Verbindung. An ein Jenseits glaubte er nicht, er begriff die Endgültigkeit, wenn etwas nicht mehr ist. Er dachte an die Worte des alten Mannes … das Ziel des Lebens ist der Tod … sein Ziel war es nicht! Er wollte leben und seine Kinder kennen lernen. Sie waren sein Leben.

Bald darauf fand er auch die Todesanzeige in der Zeitung. Und sie war aufschlussreich. Als Trauernde nannte die Anzeige ihre Eltern, ihren Mann und die Namen dreier Kinder. Sie erboten einen letzten Gruß zu Ehren ihrer Mutter. Zwei davon mussten die Zwillinge sein. Aber woher bekam er die Adresse der Verstorbenen? Wo mochten die Kinder sich heute aufhalten? Das örtliche Telefonbuch enthielt siebzehn Wagenbachs. Notgedrungen musste er sie alle anrufen. Abgehört würde wahrscheinlich nicht mehr systematisch. Er notierte alle Telefonnummern sorgfältig mit Adresse und besorgte sich Kleingeld. Für die ersten zehn Anrufe benötigte er über eine Stunde. Fast alle Wagenbachs nahmen den Anruf entgegen. Er gab sich als Vater eines Schulfreundes der Zwillinge aus, der wegen einer bevorstehenden Geburtstagsfeier anrief. Bis jetzt waren allen Angerufenen Zwillinge unbekannt. Der Adressat in der Inselstraße meldete sich. Neumeyer grüßte höflich und trug erneut seinen Wunsch vor. Sofort traf ihn eine wütende Erwiderung.

„Warum belästigen Sie mich?“ schrie eine Männerstimme. „Die Scheißzwillinge haben mir mein Leben kaputt gemacht. Fragen Sie doch die Jugendwohlfahrt, dort sind sie auch aufgewachsen. Was geht mich diese Brut an? Wagen Sie es nicht, hier noch einmal anzurufen!“

„Vielleicht habe ich die Namen der Kinder verwechselt“, antwortet Neumeyer hastig, „wie heißen denn Ihre Zwillinge?“

Neumeyer blieben die Worte fast im Hals stecken.

„Was fragen Sie so blöd? Nicole und Kevin heißen die Bälger. Und jetzt reicht’s mir!“ blaffte der Angerufene und unterbrach die Verbindung.

In Neumeyers Kopf drehte sich alles. Jugendwohlfahrt? Die betreiben Kinderheime. War es möglich, dass seine Kinder in einem Heim aufwuchsen? Mutterseelenallein? Neumeyer spürte einen Kloß im Hals und schluckte. Er rechnete noch einmal nach: Die Kinder kamen 1976 zur Welt. Also waren sie jetzt dreizehn oder vierzehn Jahre alt. Sie lebten wahrscheinlich in einem Kinderheim. Er ging zurück zur Nikolaikirche. Leise öffnete er die schwere Tür und lief auf leisen Sohlen ganz nach vorne. Etliche Menschen saßen in Stille vertieft in den Bänken. Er setzte sich in die zweite Reihe. Es roch nach altem Holz und Bohnerwachs und man hörte nur den leisen Widerhall des Lärms, der außen auf die dicken Mauern traf. Zum ersten Mal in seinem Leben war Neumeyer zum Losheulen zumute. Er war überwältigt von dem Gefühl, dass seine Kinder ihn brauchten. Und er wusste nicht, wo sie waren. In diesem Augenblick betrat der Vikar die Sakristei. Neumeyer folgte ihm und klopfte vorsichtig an die Tür.

„Herein“, rief der Vikar.

Neumeyer betrat die große, düstere Sakristei.

„Hallo. Schön, Sie zu sehen. Haben Sie gefunden, was Sie suchten?“

Die Worte purzelten aus ihm heraus: „Ja. Es gibt ein Grab, aber sie hat Kinder zurückgelassen und ich möchte Monikas Kindern mitteilen, wie sehr ich ihre Mutter verehrt habe. Sie sind in irgendeinem Kinderheim der Jugendwohlfahrt. Jetzt weiß ich nicht mehr weiter.“

„Bei der Jugendwohlfahrt?“, der Vikar schaute an die Decke. „Es gibt ein Kinderheim der Wohlfahrt am Leipziger Stadtrand. Aber warum sind die Kinder in einem Heim?“

„Ich weiß es nicht. Vielleicht ist der Vater mit ihnen nicht mehr zurande gekommen?“ fragte Neumeyer.

„Ja vielleicht. Ich erkläre Ihnen, wie Sie hinfinden. Kommen Sie heute Abend wieder zu uns? Ich würde mich freuen.“

Die Stimme und die Augen des Vikars verkündeten die Wahrheit. Er freute sich tatsächlich.

„Wenn es Ihnen nichts ausmacht?“

„Alle sind willkommen, die ihren Weg erkennen und ihn gehen!“

Neumeyer bedankte sich und schritt auf leisen Sohlen aus der Kirche. Er fand das Heim noch am gleichen Nachmittag. Der Bau der Jugendwohlfahrt war ein riesiger alter Backsteinkasten, umrahmt von gewaltigen Kastanienbäumen. Auf dem Vorplatz tummelten sich spielende Kinder. Er sah keine Erwachsenen, umrundete aber das große Gebäude in sicherem Abstand. In ihm reifte ein Plan, wie er herausbekommen konnte, ob seine Zwillinge sich in dem Heim befanden.

Das Abendessen im Pfarrhaus fand in der vertrauten Runde statt.

Unvermittelt fragte ihn der Vikar: „Glauben Sie an Gott?“

Neumeyer blieb fast ein Happen Brot im Hals stecken. Er hüstelte gekünstelt, um die Antwort hinauszuzögern.

„Nein, eigentlich nicht. Es tut mir leid, wenn ich das so ehrlich sage. Schließlich ist das hier ein Pfarrhaus und ich werde von Ihnen ernährt.“

„Oh, das macht nichts. Wir teilen gerne, ganz egal, was die Menschen glauben.“

„Möchten Sie mich denn gerne vom Heiden zum Christen bekehren?“

„Das liegt mir fern. Ich wünsche, dass Sie sich wohl fühlen und uns in guter Erinnerung behalten. Und eines Tages kommen Sie vielleicht wieder hier her und dann teile ich wieder mein Brot mit Ihnen. Aber dann sind Sie vielleicht ein Anderer, mit anderen Fragen.“

„Schon möglich, jedenfalls habe ich Respekt vor Ihrer Überzeugung. Ich schäme mich fast, weil ich Ihnen zur Last falle. Wenn ich wieder hierherkomme, werde ich Sie einladen.“

„Das ist ein Wort. Ich lese in Ihren Augen, dass Sie aber noch einmal Hilfe brauchen.“

„Ich bin überrascht, was Sie alles in meinen Augen lesen. Es stimmt.“

Neumeyer machte eine Pause. Er entschloss sich zur halben Wahrheit.

„In dem Heim gibt es vermutlich ein Zwillingspaar. Ein Mädchen und ein Junge. Sie sind vermutlich 13 Jahre alt. Sie heißen Nicole und Kevin Wagenbach. Ich würde gerne Kontakt mit ihnen aufnehmen. Ich bin ihnen jedoch unbekannt. Ihre Mutter starb vor sieben Jahren. Der Mann, mit dem sie verheiratet war, ist nicht der Vater der beiden Zwillinge. Ihr richtiger Vater war vermutlich ein Seitensprung, den die Mutter kurz vor ihrer Heirat beging. Ich vermute, sie hat es ihrem Mann auf dem Totenbett gebeichtet. Aber der hartherzige Mensch hat die Kinder sofort in einem Heim abgeliefert. Der wahre Vater, der seine Kinder nie sah, floh in den Westen. Der Kummer hat ihn gebeugt. Er ist ziemlich unter die Räder geraten. Ich habe ihn kennen gelernt und mir geschworen, ihm zu helfen. Ich glaube fest daran, dass seine Kinder wissen wollen, wer ihr Vater ist. Ich habe ihm geholfen, seine alte Liebe wieder zu finden, aber zusätzlich fand ich auch seine Kinder. Deren Interesse wird auch ihn wieder aufrichten.“

Aufmerksam hatte der Vikar jedes seiner Worte aufgenommen. Er sah in durchdringend an.

„Und jetzt hoffen Sie, dass ich Ihnen helfe? Stimmt’s?“

„Ich kann das nicht verlangen, aber wünsche es mir. Sie könnten vielleicht herausfinden, ob die Zwillinge in dem Heim leben, was ich stark vermute. Sie könnten Kontakt mit ihnen aufnehmen. Ihnen vertrauen die Kinder vielleicht. Und Sie könnten sie fragen, ob ich sie einfach mal kurz treffen könnte.“

„Haben Sie Ihren Freund schon informiert?

„Nein, natürlich nicht“, antwortete Neumeyer wahrheitsgemäß.

„Haben Sie ein Foto von ihm? Wie heißt er denn, wo wohnt er?“, fragte der Vikar wie aus der Pistole geschossen.

„Dafür ist es noch zu früh. Ich muss meinen Freund schützen. Er wird nur kommen und die Kinder besuchen, wenn diese es ausdrücklich wünschen. Deshalb müssen Sie mir dabei helfen, die Kinder zu treffen. Ich will ihnen das persönlich vortragen.“

„Ich verstehe, sagte der Vikar. „Gleich morgen früh werde ich im Heim vorbeifahren und verdeckt nach Zwillingen Ausschauhalten. Die anderen Kinder werden mir dabei helfen. Wenn die Zwillinge tatsächlich in dem Heim wohnen, werde ich sie unauffällig befragen. Niemand wird Verdacht schöpfen, alle dort wissen, wer ich bin und ab und zu verirrt sich ein Kind aus dem Heim auch in unsere Kirche.“

Neumeyer bedankte sich überschwänglich bei dem Vikar.

Der Immanuel-Plan

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