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3. Hohenschönhausen (Deutsche Demokratische Republik), Mai 1990

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Die Eilverfahren zur Freilassung der zu Unrecht verurteilten Häftlinge liefen auf Hochtouren. Wagners alias Neumeyers Haftbedingungen erleichterten sich in den letzten vier Wochen entscheidend. Als Politischer war er sozusagen aus dem Schneider. Er erhielt plötzlich Lesestoff, die Erlaubnis, die Zelle für eine Stunde am Tag zu verlassen, wurde erteilt und man behandelte ihn viel höflicher als früher. Im Trakt machte sich zuweilen eine Art Schlendrian bemerkbar. Man konnte jetzt auch zweimal Frühstück erhalten. Die Wachen fragten bei der Essensausgabe, ob man noch mehr möchte. Es konnte auch passieren, dass eine Mahlzeit ausfiel. Aus manchem Gesicht wichen die mürrischen Züge über Nacht. Vor zwei Wochen wurde er sogar in eine Zweimannzelle verlegt. Der Gefängnisleiter dachte, er könnte Neumeyer damit eine Erleichterung verschaffen. Er war jedoch lieber allein. Seine Gegenwehr nützte ihm nicht viel und stieß auf Unverständnis. Der Zellenkumpel ging ihm auf die Nerven. Er war ein notorischer Stänkerer. Und Neumeyer vergaß nie, seine Maske anzubehalten. Man wusste schließlich nicht ...

Hohenschönhausen war bekannt als Hölle. Alle schweren Untersuchungsfälle saßen hier ein. Das Ganze war ein riesiger Apparat zur Brechung des letzten menschlichen Widerstandes. Hier begriffen auch die Letzten, dass eigenes Denken oder Abweichen vom sozialistischen Pfad drakonisch geahndet wurde. Er hatte von Gräueltaten gehört, selbst von Hinrichtungen. Meistens wurde jedoch nicht geschlagen oder misshandelt. Im Gegenteil. Den Insassen wurde der Kontakt entzogen. Monatelang war die einzige Stimme die des Aufsehers, der Essen und Wasser durch den Schlitz reichte. So wurden die Menschen gefügig gemacht. Ähnlich wie bei den Hexenprozessen im Mittelalter zeigte die Folter ihre unnachahmliche Wirkung, und die Gefangenen in Hohenschönhausen waren irgendwann bereit und gefügig, alles für ein paar wärmende Worte aufzugeben.

Eines Morgens holte ihn der Aufseher aus der Zelle. Er musste draußen antreten und wurde von zwei anderen Aufsehern kreuz und quer durch das Gefängnis geführt. Schließlich landete er in einem großen Raum, in dessen Mitte drei Tische eine Hufeisenform bildeten. Daran saßen vier Zivilisten, die er zuvor noch nie gesehen hatte. Er wurde gebeten, in der Mitte des Hufeisens Platz zu nehmen.

„Sie heißen Walter Neumeyer, sind am 9. November 1950 in Berlin geboren und wurden 1983 zu einer zehnjährigen, schweren Gefängnisstrafe verurteilt“, sagte einer der beiden Männer, die am Kopfende saßen. Vor den um ihn herum Sitzenden lagen bergeweise Akten.

„Ja, das stimmt“, antwortete Neumeyer.

„Ein Komitee für Gerechtigkeit und Demokratie hat Ihren Fall eingehend geprüft, Herr Neumeyer. Sie sind unschuldig. Man hat Ihnen schweres Unrecht angetan im Namen eines falsch verstandenen und falsch praktizierten Sozialismus. Die Schuldigen werden zur Rechenschaft gezogen. Sie sind ab sofort ein freier Mann, Herr Neumeyer.“

„Sie glauben nicht, welche Genugtuung ich fühle. Ich war immer der Überzeugung, dass die Gerechtigkeit und die Demokratie stärker sind. Ich werde Ihnen Ihre gute Tat nie vergessen.“

„Wir können Ihnen derzeit keinen Vorschlag für eine Entschädigung oder eine Starthilfe unterbreiten. Das steckt noch in der Vorbereitung. Wir fanden es wichtiger, dass Unschuldige schnellstmöglich ihre Freiheit erlangen. Vielleicht kennen Sie noch Freunde von früher oder Verwandte, an die Sie sich wenden können. Aber der Tag der Abrechnung wird kommen, an dem Sie diejenigen, die Ihnen das angetan haben, zur Verantwortung ziehen können.“

„Diesen Tag sehne ich herbei. Ich danke Ihnen.“

Neumeyer erhob sich und wurde in die Freiheit begleitet. Ab jetzt, das wusste er, musste er handeln. Er bekam ein Handgeld ausbezahlt, um sich neue Kleider zu kaufen und einen Gutschein zum kostenlosen Wohnen in einem Arbeiterheim. Trotzdem wartete er noch zwei geschlagene Stunden auf seinen neuen Pass. Ihn beschlich die Befürchtung, dass er vielleicht gar nicht existierte. Aber das Amt für Staatssicherheit hatte ganze Arbeit geleistet. Sein Name wurde laut aufgerufen und ihm wurde sein Pass ausgehändigt. Verstohlen durchblätterte er ihn. Gute Arbeit. Immerhin, das konnten sie noch. Es war bereits später Nachmittag, als er das Gefängnis verließ. Lässig hing ein kleiner Rucksack über seiner Schulter mit seinen Habseligkeiten. Er hatte ein Ziel.

Der Immanuel-Plan

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