Читать книгу Der Immanuel-Plan - Hans Jürgen Tscheulin - Страница 4

1. Waren (Deutsche Demokratische Republik), April 1989

Оглавление

Die grelle Morgensonne ließ auf einen ungetrübten Tag hoffen. Die ungewohnte Helligkeit wurde jäh von den seit Jahren ungeputzten Fensterscheiben getrübt, die gefährlich lose und nur noch von wenigen Kittbrocken festgehalten in einem verwitterten Holzrahmen hingen. Dabei projizierten die Sonnenstrahlen aberwitzige Muster auf die braunen, vom Kochdunst aufgequollenen Tapeten. Hermann Wagner saß an seinem kleinen, mit Linoleum bezogenen Tisch in der Küche, ausnahmsweise in Zivil. Er durfte heute Morgen nichts essen. In wenigen Stunden würden Ärzte sein Aussehen verändern, seine Nase würde schmäler und die Stirn etwas höher, das Kinn würde markanter hervortreten und die Augen durch die Lidkorrektur größer erscheinen. Er würde in Zukunft die Haare länger tragen, nicht mehr militärisch kurz. Linsen würden seine grüne Augenfarbe ins Bräunliche verändern. Sein grauer, abgewetzter Koffer stand im Flur mit seiner ganzen Habe. Sein bisheriges Leben, sein Name, seine gesamte Existenz würde in wenigen Stunden ausgelöscht sein. Er würde einfach von der Bildfläche verschwinden. Niemand würde ihn vermissen. Noch nie hatte ihn jemand vermisst. So auch diesmal nicht. Sein Ableben stand endgültig bevor. Offiziell würde er durch Selbstmord enden. Das führte immerhin zu einer Aktennotiz. Seine letzte Spur führte dann ins Krematorium. Der Staat spendierte Selbstmördern keinen Grabstein und keine Urne. Die Asche würde als verschollen gelten. Und mit ihr alle offiziell unnötigen Dokumente über ihn, wie Fingerabdrücke, Fotos, Handschriftliches. Alles würde aus den Akten getilgt. Sein unwichtiges Leben würde keine Spuren hinterlassen. Jede intensive Recherche würde ergebnislos abgebrochen. Er verabschiedete sich innerlich von dem alten Leben und von dem alten Hermann Wagner. Er weinte der Vergangenheit keine Träne nach. Auch nicht, als er damals hörte, dass seine Eltern gestorben waren. Aber die Fotos seiner beiden Kinder hatten ihn aufgewühlt bis ins Mark. Bis vor Kurzem hatte er nicht die Spur einer Ahnung, dass aus seiner Affäre mit Monika zwei Kinder hervorgegangen waren. Die Erinnerung an Monika war damals schnell verblasst. Zwillinge. Dreizehn Jahre alt. Der Junge sah ihm ähnlich. Seine Gedanken kreisten ständig um die Fotos. Die beiden Gesichter hatten sich unauslöschlich eingraviert. Die vor ihm liegende Operation konnte diese Gedanken nicht verdrängen. Er fühlte eine klammheimliche Freude, dass weder Ärzte noch Bonzen in sein Gehirn hineinsehen konnten. Sie ahnten nicht, was sie angerichtet hatten. Jetzt enthielten sie ihm seine Kinder vor und bildeten sich allen Ernstes ein, er würde sich nicht trauen, nach seinen Zwillingen zu suchen, solange er seinen Teil des Vertrages nicht vollständig erfüllt hatte. Sein perfider Befehlshaber hatte ihm beiläufig bei einer Lagebesprechung die Fotos der beiden Kinder mit kaum zu verbergender Schadenfreude vor die Nase gehalten und ihn in bravem Amtsdeutsch in Kenntnis gesetzt, dass seine Romanze mit der Studentin damals nicht folgenlos geblieben sei. Sie hatten eine Schwachstelle bei ihm gefunden, von der sie glaubten, er würde sich noch bedingungsloser für das Projekt einsetzen. Dann steckte sein Befehlshaber die Fotos wieder ein. Aber er würde die Kinder finden. Er würde um sie kämpfen, bevor ihn die Bosse betrogen. An Letzterem bestand für ihn kein Zweifel. Aber er musste seinen Vertrag erfüllen, um die Zukunft der Kinder abzusichern und um ihr Leben nicht aufs Spiel zu setzen. Seine Hand bewegte sich automatisch zum alten Kofferradio, Westmarke. Es war kurz vor neun Uhr morgens. Die Nachrichten würden in wenigen Minuten gesendet. Der lösliche Kaffee, ebenfalls Westmarke, schmeckte fürchterlich und er kippte den Rest ins Spülbecken. Der Sprecher im Radio kündigte die Neunuhrnachrichten an.

Der Immanuel-Plan

Подняться наверх