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12. Olten (Schweiz), Juni 1990

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Wieder stand er am selben Imbissstand auf der Wiese neben dem Missionszelt. Die Bedienung schaute ihn erstaunt an.

„Was darf es heute sein?“

„Wieder eine Bratwurst mit Kartoffelsalat und Cola, bitte!“

„Und, gehen Sie heute zu dem Prediger?“

„Weiß ich noch nicht!“

„Sie schämen sich, nicht wahr?“

„Das stimmt, es ist mir unangenehm.“

Die Bbedienung beugte sich über die Theke und stützte den Kopf auf das Kinn.

„Haben Sie Sorgen?“

„Wie meinen Sie das?“, fragte Neumeyer.

„Ich meine, Sie sollten nicht dahin gehen, wenn es Ihnen nicht gut geht. Dann schleichen sich die Parolen in Ihr Gehirn und plötzlich glauben Sie, jemand löst alle Ihre Probleme. Alles Blödsinn. Auf denen bleiben Sie sitzen und kriegen vielleicht noch ein paar Schwierigkeiten oben drauf.“

„Nein, mir geht es gut. Ich habe gesunde Kinder.“

„Wie viele?“

„Zwei. Zwillinge!“

„Oh! Toll. Und Ihre Frau?“

„Sie ist verstorben, schon vor fünf Jahren.“

„Das tut mir leid. Aber meine Vermutung ist doch richtig. Sie leiden und suchen Trost und Hilfe. Solche Exemplare liebt der Prediger.“

„Sie können ganz schön sarkastisch sein. Ich bin sicher, dass der Mann keiner Fliege was zuleide tut.“

„Das glaube ich auch. Aber ich meine, die Menschen enden in einer anderen Unmündigkeit. Wieder nehmen sie an, ein anderer, z. B. ein großer Manitu dort droben, wird es richten.“

„Das habe ich noch nie geglaubt. Ich will vielleicht einfach nur zuhören. Man lernt nicht aus.“

„Kommen Sie, sooft Sie wollen, an meinen Stand. Dann finde ich die Sache auch in Ordnung.“

Neumeyer lachte und begann zu essen. Verstohlen blickte er die Bedienung an. Sie war beinahe hübsch, ungefähr 30 – 35 Jahre alt. Sie machte keinen Hehl aus ihrer Sympathie für ihn. Es gefiel ihm und er lächelte ihr manchmal während des Essens zu. Hinter ihm trafen viele Autos auf der Parkwiese ein. Der Besucherstrom für die Abendpredigt setzte ein. Neumeyer wollte nicht bei den Ersten sein, er wollte lieber ganz weit hinten sitzen, um notfalls das Zelt unbemerkt wieder zu verlassen. Als er aufbrach, rief ihm die Bedienung noch einen Gruß zu, den er erwiderte. Unsicher betrat er den Zelteingang. Ein Mann stand am Eingang und schüttelte jedem Ankömmling die Hand. Vermutlich war das der Prediger. Er war ein großer, jüngerer und schlanker Mann mit einem schmalen Gesicht und gekräuselten Haaren. Er hatte markante Gesichtszüge, seine Augen strahlten und er schaute Neumeyer mit offenem Blick an. Der Prediger ergriff seine Hand und sagte: „Guten Abend, schön, dass Sie gekommen sind. Der Herr wird heute zu Ihnen sprechen. Ich hoffe, wir sehen uns noch ganz oft.“

Neumeyer stotterte: “Danke … ich lasse mich überraschen.“

Ganz hinten waren Plätze auf einer einfachen Sitzbank frei. In einem Kasten neben der Bank lagen kleine Bücher mit rotem Kunststoffeinband. Eine freundliche junge Dame griff hinein, holte ein Buch heraus und drückte es Neumeyer in die Hand.

Immer mehr Menschen strömten herein und vorsichtig rückten die Besucher enger zusammen. Pünktlich traten junge Männer auf ein Podium und spielten mit Posaunen und Trompeten ein Instrumentalstück. Für Neumeyers Ohren klang es unbekannt. Der Prediger trat nun vor das Publikum.

„Liebe Besucher. Ich bin ganz sicher: Der Herr hat Euch geschickt. Weil er einen Samen in Ihre Seele legen will. Und ich freue mich, dass ich dieser Sämann bin. Ich grüße Sie, wie jeden Abend, mit dem Wort des Herrn. Heute lese ich aus dem Matthäusevangelium Kapitel 19 Vers 16 bis 22:

Da trat einer zu Jesus und fragte: „Meister, was soll ich Gutes tun, um das ewige Leben zu erlangen?“ Er aber antwortete ihm: „Was fragst du mich über das Gute? Gut ist nur einer. Willst du aber zum Leben eingehen, so halte die Gebote!“ Da fragte er: „Welche?“ Jesus aber sagte: „Du sollst nicht morden; du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht falsch Zeugnis geben; ehre Vater und Mutter; und: du sollst deinen Nächsten lieben, wie dich selbst!“ Da antwortete ihm der junge Mann: „Das habe ich alles gehalten; was fehlt mir noch?“ Jesus sprach zu ihm: „Willst du vollkommen sein, so gehe hin und verkaufe, was du hast, und gib es den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben; dann komm und folge mir nach!“ Da der junge Mann das hörte, ging er betrübt weg; denn er hatte viele Güter.

Der Prediger klappte seine Bibel zu und schaute in die Runde der Zuhörer.

„Das war das Wort unseres Herrn. Amen!“

„Amen“, murmelte die Menge.

„Lasst uns zum Herrn beten!“, rief der Prediger.

Automatisch erhoben sich alle Anwesenden. Nur wenige, so auch Neumeyer, wurden davon überrascht und erhoben sich sichtlich zu spät.

Neumeyer hatte aufmerksam zugehört. Die Stimme des Predigers war angenehm und melodiös. Anders als jene Stimmen, die Befehle und Instruktionen schnarrten. Der Bibeltext war ihm unbekannt. Eigentlich war ihm die Bibel gänzlich unbekannt. Allerdings klang der Text sehr altertümlich und überraschend sozialistisch angehaucht. Also war Jesus doch so etwas wie ein Sozialreformer. Davon hatte er schon gehört.

„Oh Herr! Wieder hast Du Menschen eingeladen, Dein Wort zu erleben und Dich zu erfahren. Öffne unsere Herzen und Sinne für Deine Botschaft. Hilf uns, dass wir Deinen Ruf erkennen und gib uns die Chance, unser Leben auf den Prüfstand zu stellen. Amen.“

Wieder murmelten die Zuhörer ihr lautes „Amen“ und setzten sich.

Vier junge Männer erhoben sich und traten nach vorne. Einer von ihnen richtete das Wort an die Anwesenden: „Zur Einstimmung wird unsere Gospelgruppe ein altes Lied singen, das Sie gut kennen. Sie dürfen auf mein Zeichen den Refrain alle mitsingen.“

Eine sehr eingängige Melodie schlich sich in Neumeyers Ohr, den Text, der in Englisch gesungen wurde, verstand er nicht. Er sprach kein Englisch. Die Menschen um ihn herum sangen eifrig mit oder hörten begeistert den jungen Stimmakrobaten zu.

Wieder stand der Prediger auf. Er sprang aufs Podium mit einem Mikrofon in der Hand. Das Licht im Zelt wurde ausgemacht. Nur noch das Podium war beleuchtet.

„Sie sitzen mächtig in der Tinte! Wieder will der Chef mehr, als Sie leisten können. Wieder hat der Sohn oder die Tochter eine schlechte Note aus der Schule heimgebracht. Sie streiten sich nur noch mit Ihrem Mann oder Ihrer Frau. Die Schulden drücken Sie. Eine krumme Geschichte ist ans Tageslicht gekommen. Sie kämpfen, rackern, suchen, sichern, rennen, flüchten. Wer denkt da an das ewige Leben? Wie oft am Tag denken Sie an das ewige Leben? Blöde Frage! Unangenehme Frage! Da denke ich mal in Ruhe drüber nach, wenn ich Zeit habe. Bei einer guten Tasse Kaffee, bei einem schönen Glas Wein, am gemütlichen Kaminfeuer. Das eilt jetzt nicht. Und doch: Ab und zu könnte ich mal was Gutes tun. Vielleicht mal wieder eine Spende. Oder für etwas demonstrieren, was ganz weit weg passiert. Letzte Woche entfuhren mir so hässliche Worte im Streit mit der Nachbarin, das muss wieder eingerenkt werden. Beim Kollegen, für dessen Idee ich von meinem Chef gelobt wurde, muss ich noch beichten. Wenn Sie wirklich eine halbe Stunde über Ihr Leben nachdenken, dann muss da Einiges geradegerückt werden. Sie entdecken schnell: Wir hinterlassen sehr unangenehme Spuren, vor allem jene, die wir in die Seelen anderer Menschen getrampelt haben …“

Neumeyers Gedanken schweiften ab und machten sich selbstständig. Gerade jetzt plante er eine letzte Riesenschweinerei. Das Projekt. Außerdem musste er seine Kinder retten aus der Gewalt der Bonzen. Das war beileibe keine Schweinerei. Und das damals mit Monika? Sie verließ ihn! Viele Verhöre während seiner Laufbahn fielen ihm ein. Menschen, die in Handschellen an ihm vorbeigeschleppt wurden und von denen ihm viele flehende Blicke zuwarfen, die er geflissentlich ignorierte, wissend, dass er alles tun würde, um immer auf dieser Seite zu stehen. Lieber verhaften, als verhaftet zu werden, lieber jagen, als gejagt zu werden, das war sein Motto. Es war ihm immer wichtig, der Stärkere zu sein.

„… und dann kommt dieser perfekte Mensch, der überzeugt ist, er habe immer alles richtiggemacht, er habe nie gefehlt, und will wissen, was ihn ganz perfekt macht. Und die Antwort Jesu haut ihn um. Es reicht nicht! Nur Gebote befolgen reicht nicht! Er muss seine Hinwendung zu Gott auch leben, überzeugend leben. Sichtbar leben. Es muss einen Ruck in seinem Leben geben. Er muss seine Götzen opfern. Man muss es sehen, wofür er eintritt. Man muss wissen, wofür er steht. Jetzt sagen Sie, es ist besser, wenn ich über Reichtum verfüge, da kann ich besser helfen. Gott kann nicht verlangen, dass ich mein kleines Häuschen verkaufe und meine Ersparnisse fürs Alter verschenke. Nein! Das ist damit auch nicht gemeint. Jesus will, dass wir unser Leben verändern. Schluss mit dem Glauben, man sei gut genug und man genüge den Anforderungen, die eine Gebotsreligion an einen Menschen stellt. Werde ein Nachfolger. Überlegen Sie, was Sie daran hindert, voller Überzeugung für das Reich Gottes einzustehen. Man muss es sehen …“

Was wird aus einem gemacht? Die Gedanken wirbelten durch Neumeyer. Wofür stand er? Wo war seine Menschlichkeit geblieben? Während des Studiums diskutierte er mit seinen Kommilitonen nächtelang über die ideale Gesellschaft. Damals war es für ihn ein unerträglicher Gedanke, einmal ungerecht zu handeln und andere Menschen zu übervorteilen. Aber alles Gute, was er sich vorgenommen hatte, war auf dem Altar des Alltagsvorteils, des Buckelns und Hochdienens blutig geopfert worden. Das Überleben auf der richtigen Seite war Gebot. Die Schuld, wenn er wegschaute oder man einen anderen Menschen vorsätzlich erniedrigte oder vernichtete, fühlte er immer. Der Staat schuf sich seine tragenden Feiglinge. Oft fragte er sich, wie lange es wohl dauern würde, ab wann seine Gefühle zu Eis kristallisierten. Er hatte nicht mitbekommen, dass die Veranstaltung noch nicht zu Ende war, stand einfach auf und verließ das Hauptzelt. Im Vorzelt eilte ein junger Mann auf ihn zu und sagte leise: „Bitte warten Sie noch einen Moment, der Prediger will Sie noch sprechen!“

„Mich? Er kennt mich doch gar nicht! Was will er denn mit mir besprechen?“

„Ich bitte Sie einfach sehr herzlich, mehr weiß ich auch nicht!“

Neumeyer entschloss sich, zu warten. Es dauerte noch paar Minuten. Dann kam als Erstes der Prediger und schüttelte jedem Besucher die Hand zum Abschied. Zum Schluss fiel sein Blick auf Neumeyer. Ober er ihn jetzt fragt, warum er so früh die Veranstaltung verlassen hatte?

„Mein lieber Freund. Sie sind jetzt schon zum zweiten Mal unser Gast. Ich spüre Ihre Unruhe. Ihr Leben wirft Ihnen Fragen auf, die Sie beantworten müssen. Wenn ich Ihnen helfen kann, tue ich das gerne.“

Der Prediger zog ein Faltblatt aus seiner Jacke.

„Hier ist unser Tourneeplan für die nächsten sechs Wochen. Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie wieder zu uns finden.“

Der Prediger streckte ihm die Hand hin. Spontan ergriff sie Neumeyer und verabschiedete sich wortlos. Der Prediger blickte ihm nach, wie er in die Dämmerung hinausging.

Der Immanuel-Plan

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