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16. Leipzig (Deutsche Demokratische Republik), August 1990

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Die zweite Lieferung sollte genau vier Wochen nach der ersten erfolgen. Sein Zeitplan war von den Auftraggebern exakt vorgegeben. Neumeyer informierte den Vikar und gab den Termin für ein Treffen der Zwillinge mit ihrem Vater in der Nikolaikirche bekannt: In drei Tagen würde er sie dort abholen, ließ er den Vikar wissen. Gemäß dem vereinbarten Code wüssten die Zwillinge, dass er sie in Wirklichkeit noch in dieser Nacht abholen würde, vorher würde er den Lastwagen beladen. Er hatte sich vor zwei Wochen einen Gebrauchtwagen auf den Namen der Firma gekauft. Den Wagen hatte er vor zwei Tagen in Oberfrohna auf dem Parkplatz eines Supermarktes abgestellt. Damit keine Nachprüfungen stattfanden, hatte er dem Filialleiter erzählt, sein Wagen springe nicht mehr an und er schleppe ihn in wenigen Tagen mithilfe eines Freundes ab. Der Filialleiter gab sein Einverständnis. Pünktlich traf Neumeyer mit dem Lastzug in Oberfrohna ein und lud die 18 Paletten im Eiltempo auf. Sobald es dunkel war, schlich er sich aus der Halle. Alle Lichter hatte er gelöscht. In weniger als zwanzig Minuten hatte er sein Auto erreicht. Das Treffen mit den Zwillingen sollte um Mitternacht stattfinden. Er hatte also zwei Stunden Zeit, bis zum Treffen mit seinen Kindern, die nicht ahnten, dass er ihr Vater war. Konzentriert und zügig kämpfte er sich auf Landstraßen entlang, deren Zustand er nur zu gut kannte. Eine Viertelstunde vor Mitternacht erreichte er die Stelle, an der der Vikar letztes Mal das Auto abgestellt hatte. Er schlich sich zum Zaun und hielt dabei den Strahl der Taschenlampe auf den Boden gerichtet. Er wartete an der gleichen Stelle, an der letztes Mal die Zwillinge auftauchten. Er flüsterte leise „Hallo“ ins Dunkel.

„Nicole! Kevin!“, flüsterte er in die Büsche.

Plötzlich leuchtete ein Taschenlampenstrahl genau in sein Gesicht. Erschrocken riss er die Hände vor die geblendeten Augen.

„Er ist es wieder“ flüsterte eine Jungenstimme.

„He, Sie, wo ist unser Vater? Sie haben versprochen, er kommt mit, wenn wir fliehen, sagte die Jungenstimme leise.

„Neumeyer war froh, die Kinder zu hören.

„Ich musste alleine kommen, ich bringe Euch zu ihm. Wir müssen weit fahren. In die Schweiz. Dort wartet Euer Vater auf Euch.

„Wieso ist er nicht hier?“, fragte nun auch Nicole flüsternd.

„Er ist in Gefahr. Mehr kann ich Euch nicht sagen. Und Ihr seid auch in Gefahr. Kommt bitte schnell und möglichst leise hinter mir her.“

„Nicht, solange Sie uns nicht sagen, was mit unserm Vater ist! Warum ist er in Gefahr?“ Und warum auch wir?“, wollte Kevin wissen.

„Ich kann Euch das alles auf der Fahrt erklären. Bitte!“

„Also gut. Aber wenn Sie es nicht ehrlich mit uns meinen, dann machen wir Ihnen große Scherereien“, behauptete Nicole.

„Danke für Eure kluge Entscheidung. Aber jetzt müssen wir möglichst schnell verschwinden.“

Neumeyer half den Kindern über die Mauer. Sie hatten beide einen Rucksack dabei. Das war gegen die Abmachung. Er wollte das jetzt nicht ansprechen. Er hoffte, dass es einige Zeit dauern würde, bis eine koordinierte Fahndung nach den Kindern anlief.

Auf der rund zweistündigen Rückfahrt nach Oberfrohna erzählte er ihnen eine Geschichte eines geflohenen DDR-Staatsbürgers, der sehr viel Internes über die Bonzen wusste. Die Kinder waren sprachlos und Neumeyer merkte, wie sehr sie in Sorge um ihren Vater waren. Neumeyer lud die Kinder in Oberfrohna in der Nähe der Halle aus. Sie sollten sich verborgen halten, bis er das Auto beseitigt hatte. Er parkte den Wagen nebenan auf einem verwilderten Industriegelände. Die Nummernschilder schraubte er ab. Dann schliefen sie noch zwei Stunden bis zur Abfahrt auf dem schmalen Bett hinter dem Lenker- und dem Beifahrersitz. Unterwegs zeigte er ihnen die neuen Pässe. Sie hießen jetzt Eva und Nils Neumeyer. Sie begriffen schnell. Er besprach mit ihnen ihren Lebenslauf, falls man sie beim Grenzübertritt fragte. Er habe auch einen gefälschten Pass, erklärte er und müsse zum Zwecke des Grenzübertritts ihren Vater spielen. Sie machten zweimal Pause. Am Rasthof Baden-Baden bekam er die Kinder kaum mehr zurück ins Auto. Sie lebten trotz der Wende und des Zusammenschlusses mit der Bundesrepublik in einem alten DDR-Kokon. Alle Neuerungen und Freiheiten waren an dem Kinder- und Jugendheim abgeprallt. Deshalb standen sie meistens fassungslos vor den Auslagen und bestaunten die vollen Regale. Auf die Grenzkontrolle hatte Neumeyer sie genauestens vorbereitet. Er hoffte, wieder auf denselben Prüfer zu stoßen, wie letztes Mal und geriet prompt an einen jungen, scharfen Beamten. Das spürte er sofort. Jovial versuchte Neumeyer, seine Nervosität zu übertünchen. Aber sofort wurde klar: Der Beamte würde ihn auf die Waage schicken. Und vielleicht selbst Stichproben nehmen. Da tauchte unvermittelt der Prüfer auf, der beim letzten Mal auf penible Kontrollen verzichtete. Neumeyer begrüßte ihn. Erstaunt sah der junge Prüfer, wie Neumeyer auf seinen Kollegen zuging. Neumeyer beugte sich zum älteren Kollegen und gestikulierte.

„Josef, lass den fahren, der Mann ist okay“, sagte der Ältere zum scharfen Jungen.

„Aber die Vorschrift verlangt …“

„Ich kenne die Vorschriften. Aber was siehst Du? Steine! Nicht als Steine. Also geh rum, schau auf die Ladefläche und die Fahrerkabine und nimm dann den Nächsten dran. Ich merke, wenn jemand eine ehrliche Haut ist.“

„Ist gut. Sie können fahren“, brummte der junge Beamte Neumeyer zu und händigte ihm die Papiere und alle drei Pässe aus.

Der Immanuel-Plan

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