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4. Dresden (Deutsche Demokratische Republik), Mai 1990

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Hermann Wagner alias Walter Neumeyer besaß und nutzte zwei Identitäten. Er rechnete damit, dass die Akten des Ministeriums für Staatssicherheit zum großen Teil gefleddert waren. Zigtausende ehemalige Mitarbeiter versuchten, ihre weiße Weste durch Vernichtung der Akten zu retten. Da würde niemandem auffallen, dass Hermann Wagner längstens tot war. Walter Neumeyer jedoch hatte eine weiße Weste. Keiner würde ihn behelligen. Die Kontrollen waren lasch, die Mauer war schon ein halbes Jahr offen und die Westler durchstöberten das Land. Es war ihm zuwider. Sein Land war zu einem Wühltisch verkommen. Aber das Chaos würde sein Unternehmen decken. Walter Neumeyer war sicher, dass er bespitzelt wurde. Die alten Kader, die schon lange abgedankt hatten und ihn für die Durchführung des Projekts auserwählt hatten, würden ihn nicht unbeobachtet lassen. Er musste mögliche Spitzel unauffällig loswerden und gleichzeitig zermarterte er sich das Gehirn, wie er seine Zwillinge finden könnte. Und wenn er sie fand, wie sollte er sich ihnen zu erkennen geben? Sie waren jetzt schon fünfzehn Jahre alt. Er konnte ihnen nicht einfach gegenübertreten und sie damit konfrontieren, er sei ihr Vater. Zu Recht würden sie misstrauisch sein. Sie wussten nicht, dass er bis vor Kurzem keine Ahnung hatte, dass sie überhaupt existierten. Wie sollte er es ihnen das beibringen? Er spazierte an der Elbe entlang, nicht weit entfernt von der Augustusbrücke, unterhalb der Elbterrassen entlang. Er blieb öfters stehen oder tat so, als ginge er eine der großen Treppen zu den oberen Terrassen hinauf und beobachtete dabei aus den Augenwinkeln die Menschen in seiner Umgebung. Nirgends fiel ihm ein möglicher Verfolger auf. Es waren viele Menschen unterwegs, denn die Sonne verwöhnte die Stadt heute. Er ging dieselben Wege, die er damals mit Monika entlang geschlendert war. Vielleicht half das seinem Gedächtnis wieder auf die Spur. Zu seiner Schande hatte er den Familiennamen von Monika vergessen. Sie war, wie er, aktiv bei der Arbeiterjugend. Sie studierten beide in Dresden. Das Bild von ihr war zuerst nur schemenhaft präsent, dann plötzlich sah er ihr Gesicht vor sich, ihre blassblauen Augen, die schmale Nase, die halblangen blonden Haare und den vollen, sinnlichen Mund. Sie war immer braun gebrannt. Das passte zu ihren langen Beinen. Am liebsten trug sie Röcke. Oft fuhren sie mit den Rädern zum Blauen Wunder, der eisernen Bogenbrücke, die sich elegant über die Elbe spannte. Sie kletterten in das Untergerüst und ließen die Beine über dem Wasser baumeln. Dabei küssten sie sich immerfort, bis es dunkel wurde. Und dann war eines Abends mehr als Küssen. Sie liebten sich bis zur Erschöpfung. Er durfte sie immer nur bis zur Einmündung der Straße bringen, in der sie wohnte, weil sie nicht wollte, dass ihre Eltern sie zusammen sahen. Er verstand das nie, akzeptierte es aber, weil ihn das nicht unglücklich werden ließ. Völlig unerwartet blieb sie einige Tage später ihrem Treffen fern. Sie kam auch nicht mehr zur Uni. Neumeyer versuchte, ihre Kommilitonen auszufragen, denn irgendjemand musste wissen, wo sie war. Er fühlte wieder den rasenden Trennungsschmerz von damals, sein Magen krampfte. Erst auf sein intensives Drängen hin verriet ihm eine Studentin, dass Monika umgezogen sei. Sie wolle kommendes Wochenende heiraten. Er ersäufte seinen Schmerz im Alkohol. Erst viele Wochen später normalisierte sich sein Leben. Eines Tages vergaß er Monika ganz.

Am Nachmittag hatte er einen Termin beim Kanzler der Universität. Vielleicht erlaubte man den Einblick in das Studentenregister von 1975. Er hatte vor, die Geschichte etwas zu verbiegen, um das Mitleid des Kanzlers zu erregen.

Er erschien pünktlich, aber der Termin konnte nicht stattfinden, da der Kanzler gestern freiwillig zurückgetreten war. Die Sekretärin war sehr verlegen und wollte ihm helfen. Neumeyer fühlte, dass sie der Schlüssel zu der Studentenkartei war. Er erzählte ihr die schmalzige Geschichte von der einzigen Liebe, die er wiederfinden wollte. Die Sekretärin war gerührt, und weil sie nichts mehr zu tun hatte, sprang sie vollkommen enthusiastisch auf und führte Neumeyer in das Archiv. Die Jahrgangsakten der Studenten waren fein säuberlich in graubraune Pappkisten verpackt. Die Jahrgangszahlen prangten ihnen auf der Frontseite entgegen. Mithilfe einer Leiter holte Neumeyer die Schachtel mit der Aufschrift „1975“ herunter. Die Sekretärin ließ ihn alleine im Archiv. Insgesamt waren im Jahr 1975 achthundert Studenten eingeschrieben. Er fand siebenundzwanzig Mal den Namen Monika. Vier erhielten einen Abschluss im selben Jahr. Sonst entdeckte er keine Hinweise über Abgänge. Deshalb stemmte er auch den Jahrgangskarton 1976 aus dem Regal. Die Sekretärin kam wieder herein. Aber sie dachte überhaupt nicht an Feierabend, sondern bot ihre Hilfe an. Gemeinsam verglichen sie die Listen der Monikas aus beiden Jahrgängen. Und tatsächlich fehlte von einer Studentin, die 1975 gemeldet war, im folgenden Jahr jede Spur. Sie fanden beide keinen Hinweis, was mit ihr passiert sein konnte. Aber er hatte einen Nachnamen aus Dresden. Leider waren die Akten ohne Fotos. Aber der Straßenname bestätigte, dass er die Gesuchte gefunden hatte. Er stellte alle Akten an ihren angestammten Platz zurück. Der Sekretärin gab er einen dicken Kuss auf die Wange und entschwand. Er hatte sie zuvor inständig gebeten, niemand von der Suchaktion zu erzählen, es sollte eine Überraschung werden für die Gesuchte. Sie hie Monika Dessler.

Der Immanuel-Plan

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