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17. Oensingen (Schweiz), August 1990

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Auf der Fahrt nach Olten hielt Neumeyer an einer Raststelle. Sie aßen eine frische Rösti und tranken Oranginalimonade.

„Du bist unser Vater“, sagte Kevin unvermittelt und schaute ihn dabei prüfend an.

Neumeyer wich seinem Blick aus.

„Wir spüren, dass etwas nicht stimmt. Du bist in Gefahr!“, behauptet Nicole.

Neumeyer schluckte. Tränen schossen ihm aus den Augen. Er vergrub das Gesicht in seinen Händen. Die Kinder rückten dicht an ihn heran.

„Ja ich bin Euer Vater. Die alten DDR-Bonzen zwingen mich zu einem schweren Vergehen gegen das Gesetz und ihr ward das Faustpfand, was sie in der Hand hatten, um mich gefügig zu machen. Ich wusste bis vor zwei Jahren nicht, dass es Euch gibt. Ich habe fieberhaft nach Euch gesucht und bin der glücklichste Mensch, seit ich Euch gefunden habe. Wir können nicht nach Deutschland zurück. Wir haben soeben die Brücken hinter uns abgebrochen. Ich muss nur noch diese Ladung abgeben. Dann ist Eure Zukunft gesichert.“

Neumeyer Gefühle wirbelten durcheinander, als ihn beide umarmten. Er umschlang sie und dann schluchzten sie zu dritt. Länger als eine Viertelstunde verharrten sie regungslos in der Umarmung, als wollten sie diesen Zustand niemals verändern.

„Papa, was ist das für ein Vergehen, das Du begehst?“, fragte Nicole schließlich. „Kommst Du dafür ins Gefängnis?“

„Nein, jetzt nicht mehr. Aber Ihr seid in Gefahr, weil ich zu viel weiß und ich darf Euch darüber nichts erzählen, damit ihr nie in die gleiche Gefahr geratet.“

„Wir beschützen Dich, Papa“, versprach Kevin und drückte seine Hand.

„Das ist lieb von Euch. Ihr macht mich zu einem glücklichen Menschen.“

Umschlungen gingen sie zum geparkten Lastzug. Auf der Weiterfahrt, nach dem Belchentunnel, bemerkte Neumeyer ein Fahrzeug, das ihnen in weitem Abstand folgte und sich bereitwillig vom restlichen Verkehr überholen ließ. Vor ihm erschien ein Parkplatz. Neumeyer blinkte und bog ab. Um die Kinder nicht zu beunruhigen, sagte er, die Ladung müsse kontrolliert werden und sei eventuell verrutscht. Gewissenhaft prüfte er die Befestigungen. Dabei nahm er aus den Augenwinkeln wahr, dass auch das verdächtige Fahrzeug in den Parkplatz gefahren war. Wegen des abendlich flachen Sonnenstandes konnte er den Innenraum nicht erkennen. Vor der Weiterfahrt bat er seine Kinder, sich ab jetzt wegzuducken. Niemand solle sie mehr sehen oder sich an sie erinnern. Er hatte vor, sie in einem Hotel abzusetzen. Als er losfuhr, folgt auch das verdächtige Fahrzeug. Wer konnte das sein? Schweizer Polizei in Zivil? Viel schlimmer wäre es, wenn ihn die Häscher seiner Auftraggeber verfolgen würden. Er konnte die Kinder unmöglich absetzen, ohne dass es bemerkt wurde. Und sobald er die Baustoffhandlung Kühni erreichte, wäre ihr Ende besiegelt. Er ließ sich seine Panik nicht anmerken. Die Gedanken wirbelten durch seinen Kopf. Ein Königreich für einen Plan. Unbemerkt vergewisserte er sich im Rückspiegel, dass sie immer noch verfolgt wurden. Er wühlte in der Seitenablage. Irgendwo musste die Straßenkarte doch stecken. Er fand das Faltblatt der Zeltmission. Die Ausfahrt Olten war nur noch fünf Kilometer entfernt. Er studierte den Zeitplan der Zeltmission. Morgen Nachmittag begann das Programm in Oensingen. Der Ort lag an der nächsten Ausfahrt in Richtung Bern. Heute und gestern gab es keine Veranstaltung. In ihm keimte ein Plan. Einen halben Kilometer vor der Ausfahrt Olten fuhr er langsamer. Er schaltete den Diesel niedertourig und entließ mächtige Rauchstöße aus dem Auspuff. Mit eingeschalteter Warnblinkanlage lenkte er das Gespann auf den Seitenstreifen. Der Wagen, der sie verfolgte, zog nun langsam an ihnen vorbei. Zwei Männer saßen darin. Sie drehten sich nicht um. Neumeyer wartete, und sah, wie sie in die Ausfahrt nach Olten abbogen in der Gewissheit, dass Neumeyer ihnen folgen würde. Oder er blieb mit Panne liegen, dann entkam er ihnen genau so wenig. Neumeyer beschleunigte wieder und fuhr, anstatt nach Olten abzubiegen, weiter in Richtung Bern. Inständig betete er, dass die Verfolger sein Manöver nicht bemerkten. Er achtete jetzt nicht mehr auf die Höchstgeschwindigkeit, sondern sehnte verzweifelt die Ausfahrt Oensingen herbei. Mit überhöhter Geschwindigkeit raste er schließlich in die Ausfahrt. Weit hinter ihnen, er war sich sicher, hatte er den Verfolger wieder gesichtet. Jetzt ging es um Sekunden. Vor ihnen tauchte eine Ampel auf, die gerade umsprang auf Gelb. Neumeyer schoss darauf zu, blinkte nach links und riss auch die Lenkung nach links. Langsam folgte der Zugwagen der Richtungsänderung. Er war richtig, in der Oltenstrasse. Er schaute sich um. Sie erreichten schon den Ortsausgang. Plötzlich sah er auf der linken Seite das große, helle Zelt. Es stand unbeleuchtet in der Dämmerung. Eine kleine Straße bog ab. Trotz des Gegenverkehrs, den Neumeyer zu einer Notbremsung zwang, bog er in die kleine Straße ab, die zum Missionszelt führte. Neumeyer schaltete alle Scheinwerfer aus. Er lenkte auf die Wiese und in einem Bogen fuhr er auf den Eingang des Zeltes zu. Ohne anzuhalten, zielte er zwischen die Stützen. Das Dach des Lastwagens schob den Eingang vor sich her, dann schnellte der Stoff darüber. Er fuhr weiter ins Dunkle. Er hörte, wie Gegenstände gegen das Fahrzeug schlugen, das waren Stühle, die er zermalmte. Er blickte hinter sich. Das Zelt hielt, trotz des demolierten Eingangsbereichs. Jetzt kam der Lastwagen direkt vor dem Podest des Predigers zum Stehen. Sofort schaltete er den Motor aus. Stille. Die Kinder hoben die Köpfe. Sie hatten sich die ganze Zeit geduckt und bemerkt, wie sehr ihr Vater kämpfte. Keiner von beiden hatte sich getraut, ihren Vater zu unterbrechen.

„Wo sind wir?“, fragte Nicole.

„In Sicherheit!“, antwortet ihnen Neumeyer, legte dabei seinen Oberkörper auf das Lenkrad und schloss die Augen.

„Was ist das für ein Zelt?“, wollte Kevin wissen.

„Das gehört einer Freikirche, die missionieren hier.“

„Missionieren? Freikirche? Wir sind doch hier nicht in Afrika“, bemerkte Nicole.

„Vor was sind wir denn in Sicherheit?“, wollte jetzt Kevin wissen.

Bevor Neumeyer antworten konnte, erschien die Projektion von Autoscheinwerfern auf der Zeltwand. Ein Auto näherte sich der Straße entlang dem Zelt.

„Verdammt!“, rief Neumeyer. „Versteckt Euch draußen im Gebüsch hinter dem Zelt! Nehmt Eure Rucksäcke mit. Los! Los! Raus mit Euch! Es gibt einen Hinterausgang. Ich rufe Euch, wenn die Luft wieder rein ist.“

Erschreckt durch die knappen Befehle ließen sich beide Kinder aus dem Fahrerhaus fallen und rannten über das Podium. Sie schlüpften unter der Zeltplane hinaus ins Freie. Man hörte es rascheln. Neumeyer räumte blitzschnell das Fahrerhaus auf. Die Pässe der beiden Kinder ließ er in der Kiste mit den Gesangbüchern verschwinden. Alles andere, was noch herumlag, war nicht verdächtig. Die Scheinwerferkegel wanderten über die Zeltplane, jetzt hörte man auch den Motor. Es war ein PKW. Neumeyer rannte zum Eingang, der noch offenstand und ziemlich ramponiert aussah. Vorsichtig schaute er um die Ecke. Es war ein helles Fahrzeug, also nicht die Verfolger von vorhin. Direkt vor dem Eingang kam das Fahrzeug zum Stillstand. Ein Mann saß darin. Er ließ den Motor laufen, die Scheinwerfer leuchteten genau auf den Eingang des Missionszeltes. Der Mann trat vor die Scheinwerfer. Neumeyer erkannte den Prediger. Der murmelte etwas vor sich hin und schaltete seine Stablampe ein. Neumeyer trat aus dem Eingang. Zornig herrschte der Prediger ihn an: „Wer sind Sie? Was haben Sie hier zu suchen? Und wer hat diese Zerstörung angerichtet?“ Dabei hielt er die Lampe genau auf Neumeyer gerichtet.

„Wir kennen uns, ich war vor einem Monat in Olten Ihr Zuhörer.“

„Das gibt Ihnen aber nicht das Recht, hier einzudringen und unser schönes Zelt zu zerstören!“, erwiderte zornig der Prediger.

„Ich bin in einer Notlage und bitte Sie, mir zuzuhören“, versuchte Neumeyer ihn zu besänftigen.

„Notlage? Was ist das wieder für eine Ausrede!“

„Bitte machen Sie doch den Motor und das Licht aus. Ich werde verfolgt!“

„Was ist das hier für eine Sauerei, warum ist das alles zerstört?“ Er klang sehr aufgebracht.

„Bitte schauen Sie in das Zelt, dann verstehen Sie, warum.“

Der Prediger stellte sich vor den klaffenden Eingang, das Innere lag im Dunkel. Er leuchtet mit der Stablampe hinein. Der Strahl erfasste die Konturen des Anhängers und jetzt bemerkte er auch das Führerhaus des Zugwagens.

„Du meine Güte, da steht ja ein Lastwagen im Zelt! Sind Sie total verrückt? Ich muss die Polizei verständigen. Das geht über jedes Maß hinaus, das man mit einem Gespräch erledigen könnte. Es tut mir leid, aber ich muss die Gendarmerie informieren. Es wäre sehr gut, wenn Sie hier stehen bleiben und sich eine gute Erklärung einfallen lassen, bis wir zurück sind.“

„Bitte gehen Sie nicht. Ich will Ihnen erst alles erklären und dann können Sie entscheiden.“

Der Prediger wich zurück.

„Bitte hören Sie mir einfach nur fünf Minuten zu. Fünf Minuten! Ich bin nicht gefährlich und ich bin kein Gangster, aber ich weiß nicht mehr weiter.“

Neumeyer hatte es irgendwie geschafft, dass der Prediger sich umdrehte.

„Wahrscheinlich würden mich jetzt alle für irrsinnig erklären, dass ich Ihnen genau fünf Minuten gebe.“

„Dann machen Sie bitte Ihren Motor aus und schalten die Scheinwerfer ab.“

Zögernd folgte der Prediger Neumeyers Vorschlägen. Dann folgte er ihm ins Innere des Zeltes.

Neumeyer wandte sich um.

„Ich bin ehemaliger DDR-Bürger und bringe heimlich Vermögen der Bonzen in Sicherheit. Unglaublich viel Vermögen. Die Planung ist schon seit fast zwei Jahren im Gange. Ich mache die Transportarbeit. Als Druckmittel hatte man gedroht, meinen Kindern etwas anzutun. Ich hatte bis vor zwei Jahren selbst keine Ahnung, dass ich Kinder habe. Sie sind das Ergebnis einer Studentenliebe, die plötzlich aus meinem Leben verschwand. Ich habe meine Kinder heimlich ausfindig gemacht, Kontakt zu ihnen hergestellt und sie letzte Nacht aus einem Heim in Leipzig entführt. Vor wenigen Stunden gestand ich ihnen, dass ich ihr Vater bin. Auf der Autobahn wurden wir verfolgt. Ich bin sicher, dass man mich zur Rechenschaft ziehen will. Auf diesem Lastzug befindet sich ein Kubikmeter Gold, die wiegen über 19 Tonnen, eingegossen und verteilt in tausende von Ziegelsteinen. Derzeitiger Goldwert ist ca. 250 Millionen US Dollar.“

Völlig sprachlos starrte der Prediger ihn an.

„Ich sollte dieses Gold heute Abend in Olten bei einer getarnten Firma abliefern, habe es aber nicht getan, weil ich befürchtete, man würde mich beseitigen, da ich zu viel weiß. Dieses Gold ist illegal, niemand weiß etwas davon, außer einer Handvoll Leute. Ich habe auch Angst um meine Kinder, sie haben sich draußen im Gebüsch versteckt.“

Der Prediger wachte aus seiner Erstarrung auf.

„Holen Sie die Kinder sofort her“, herrschte er Neumeyer an.

Der Immanuel-Plan

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