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10. Olten (Schweiz), Juni 1990

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Sein nächster Besuch des Schließfachs enthielt die genaue Anweisung für den Kauf einer Baustoffhandlung in Bad Krozingen. Die juristische Abwicklung des Firmenkaufs würde ungefähr vier Wochen in Anspruch nehmen. Dann war er Besitzer eines kleinen Industrieareals mit ein paar Angestellten und vier großen Lkws, Marke Mercedes Actros. Weiterhin erhielt er die Instruktion, Kontakt herzustellen mit einer Baustoffhandlung in Olten in der Schweiz. Sein Ansprechpartner, ein Herr Kühni, wartete bereits auf seinen Anruf. Neumeyer hatte zuvor die Telefonnummer über die internationale Auskunft überprüft. Man tauschte nur wenige Höflichkeiten aus, Herr Kühni hoffte auf gute Zusammenarbeit. Nach dem Telefonat verspürte Neumeyer das dringende Bedürfnis, die Baustoffhandlung persönlich in Augenschein zu nehmen. Er fuhr am späten Nachmittag nach Olten und mithilfe des Stadtplans fand er zügig das angegebene Industriegebiet und die Firma. Es erschien eine große, moderne Halle in einem umzäunten Gelände. An den Wänden und neben der Einfahrt prangten das übergroße Logo und der Firmenname. Im Freien lagerten sauber angeordnete Baustoffe auf großen Paletten: Steine, Rohre, Kübel, Hölzer …

Neumeyer verspürte Hunger, und nachdem er unauffällig das Firmenareal fotografiert hatte, entschloss er sich, den Imbiss aufzusuchen, an dem er zufällig am Rande des Industriegebietes vorbeigefahren war. Beim Aussteigen fielen ihm die vielen auf der Wiese geparkten Fahrzeuge und ein großes Zelt auf, das in einigem Abstand zu den geparkten Autos aufgebaut war. Gesang tönte herüber, während er das dürftige Speisenangebot, das mit Kreide auf eine Tafel neben dem Imbissstand geschrieben war, ratlos studierte. Die Besitzerin im Imbissstand sprach ihn an.

„Was darf es denn sein?“

„Geben Sie mir eine Cola und eine große Bratwurst mit Kartoffelsalat.“

„Kommt sofort. Macht fünf Franken neunzig.“

„Ich habe nur Deutsche Mark.“

„Dann macht es genau vierfünfzig, bitte“, antwortete die Bedienung, ohne lange zu rechnen.

Immer wieder drehte er den Kopf zu dem Zelt, aus dem der seltsame Gesang ertönte.

„Die missionieren wieder“, erklärte die Bedienung.

„Was macht wer, bitte? Ich bin nicht von hier“, antwortete Neumeyer verblüfft und biss in die Wurst.

„Das ist so ein christlicher Verein, die singen und beten und wollen die Leute bekehren.“

„Aber gibt es hier keine Kirchen?“

„Das hat damit nichts zu tun. Diese Frommen nehmen alles viel ernster und leben eben auch im Alltag viel frommer als die anderen Menschen. Die machen alles so, wie es in der Bibel steht. Ich finde das übertrieben, wenn man vorgeschrieben bekommt, wie man zu leben hat. Und wozu das alles? Nur, damit man in den Himmel kommt? Quatsch, den gibt es sowieso nicht. Die werden sich noch wundern, wenn sie gestorben sind.“

Sie lachte herzhaft über ihren Witz. Der Gesang verklang und jetzt hörte man eine sehr entschlossene und dennoch sanfte Stimme.

„Das ist wieder der Prediger. Jeden Abend spricht der über eine halbe Stunde. Heute erzählt er über den Sinn des Lebens.“

„Woher wissen Sie das so genau?“

„Überall verteilen die ihr Programm. Hier habe ich noch welche im Papierkorb liegen. Die Veranstaltung zieht sich die ganze Woche hin, dann packen sie und bauen das Zelt im nächsten Ort wieder auf.“

Die Bedienung bückte sich und tauchte mit einem bunten Faltblatt in der Hand wieder auf. Sie hielt es Neumeyer hin, der es ihr abnahm und neben sich auf den Tisch legte. Er las die Themen der Woche: „Wenn die Schuld Dich erdrückt!, Wann warst Du das letzte Mal richtig glücklich?, Auf der Jagd nach dem Sinn des Lebens!“ Jetzt nahm die Stimme des Predigers eine beschwörende Tonlage an.

„Und ist es immer voll?“

„Sie sehen die vielen Autos. Dieses Jahr ist es ein Hit. Der Prediger, so sagten es mir schon viele Kunden, sei toll und man habe bereits nach einmal Zuhören das Gefühl, es gehe einem besser. Ich freue mich, weil mein Geschäft nach den Veranstaltungen noch mal richtig brummt. Sonst hätte ich schon längst geschlossen.“

„Und was für Leute gehen da hin?“, wollte Neumeyer wissen.

„Alle möglichen. Ich kenne Geschäftsleute, auch einige Eltern aus der Klasse meiner Kinder habe ich schon gesehen, manche sind zufällig da. Da gibt es keine Regel.“

Neumeyer aß alles auf, bedankte und verabschiedete sich. Eigentlich hatte er nichts mehr Besonderes vor. Er hörte dem Prediger aus reiner Neugier zu. Um sich keine Blöße gegenüber der Imbissbedienung zu geben, fuhr er den Wagen auf die andere Seite der Wiese. Vielleicht konnte er von dort etwas mithören. Das Areal war schnell umrundet und ein Parkplatz war schnell gefunden. Allerdings drangen bis hierher nur undeutliche Wortfetzen. Deshalb spazierte er näher heran und fand eine Sitzbank am Wegrand, auf der er sich niederließ.

„Unermüdlich jagst Du nach immer mehr“, tönte die Stimme aus dem Zelt. „Unaufhaltsam steigern sich Deine Bedürfnisse: noch ein größeres Auto, noch ein größeres Haus, noch mehr Geld! Und warum das alles? Es ist heute modern geworden, auch den Mann oder die Frau auszuwechseln, weil man unzufrieden ist. Ehe mit Rückgabegarantie. Und wozu das alles?“

Der Prediger konnte seine Stimme geschickt einsetzen und er spielte mit der Betonung und der Länge der Worte. Unwillkürlich hörte auch Neumeyer weiter zu.

„Einer erbringt große sportliche Leistungen und opfert jede freie Minute seines Lebens, um dem Siegertreppchen einen Schritt näher zu kommen. Ein anderer geht in seinem Beruf auf, er verlässt nie mehr sein Büro. Wozu das alles? Was suchen diese Menschen? Was treibt sie?“

Der Prediger machte eine bedeutungsvolle Pause.

„Sie wollen Anerkennung, auf dem Siegertreppchen stehen, jemand, der ihnen auf die Schulter klopft und ihnen sagt: Du bist gut! Sie suchen einen Sinn, ein Ziel, das ihnen das Leben lebenswert erscheinen lässt. Etliche haben jedoch schon längst aufgegeben und resigniert. Sie hadern, ertränken ihre Suche, werfen sich weg, geben sich der Leere hin, sind mutlos, kraftlos, nichts gelingt ihnen, ohne innere Befriedigung gehen sie zu ihrer Arbeit, nichts trägt sie mehr, weil sie wissen, dass sie nie Anerkennung finden werden, nie auf einem Siegertreppchen stehen werden. Auch die neue Frau, der neue Mann sind schnell entzaubert. Da war ja die alte Beziehung fast noch besser! Sollen diese armen Menschen noch fünf, zehn oder zwanzig Jahre so weiterleben? Mit ihren kaputten Seelen, die nach einem Sinn schreien?“

Wieder machte der Prediger eine bedeutsame Pause.

„Sie werden keinen Sinn finden, es sei denn…“, wieder machte er Pause, „... sie bringen ihr Verhältnis zu Gott in Ordnung!“

Neumeyer stand spontan auf. Gott!? Er konnte nicht mehr hinhören. Die Worte wühlten ihn auf. Als würde jemand an seiner Maske reißen. Jeder musste seinen Sinn selbst finden, so lief das Spiel. Nicht jeder war glücklich, nicht jeder konnte Sieger sein, nicht jeder konnte toll verdienen. So what! Es stimmte, auch er brauchte Anerkennung. Das hatte er gespürt, als er seine Kinder sah. Aber er war lieber ein einsamer Wolf. Und er würde auch über mehr als genug Geld verfügen, wenn das Projekt abgeschlossen war. Wieso sollte er da was mit Gott in Ordnung bringen. So, wie es lief, war alles in Ordnung.

Der Immanuel-Plan

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