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Bericht Anima

Der Schrei riss mich aus meiner Lethargie.

Ich hatte irgendwo zwischen dem fünfzigsten und dem hundertsten Stockwerk eines Komplexes aus zahllosen mit- und ineinander verschachtelten Bauelementen einen Schlafplatz gefunden und meiner Erschöpfung und Müdigkeit nachgegeben.

Das war vor etwa zehn Stunden gewesen, wie ich nach einem Blick durch die fünf dreieckigen, schmutzigen Fenster des dreieckigen Zimmers schätzte. Draußen herrschte die Dunkelheit der Nacht, nur vage aufgehellt vom Sternenhimmel der Galaxis Manam-Turu.

Ich rieb mir den Schlaf aus den Augen und lauschte angespannt.

Vergeblich.

Der Schrei wiederholte sich nicht.

Ich überlegte, ob ich mich wieder hinlegen und weiterschlafen sollte. Ich fühlte eine Müdigkeit, die wohl aus der Hoffnungslosigkeit kam. Hartmann vom Silberstern war für immer vergangen. Das wusste ich seit meinen (wenn auch viel zu spärlichen) Kontakten mit Guray genau. Zwar war etwas von meinem früheren Ritter und auch etwas von mir damals zurückgeblieben und inzwischen in Guray aufgegangen, aber eine Wiedergeburt daraus war nicht möglich.

Nur ich existierte weiter.

Ich wollte, ich wäre damals ebenfalls vergangen beziehungsweise in Guray aufgegangen – oder ich könnte jetzt noch in Guray aufgehen. Doch nichts von dem allem war mir vergönnt. Ich schien dazu verurteilt zu sein, hilflos auf Barquass umherzuirren und das Vergangene zu betrauern.

Goman-Largo und Neithadl-Off verstanden mich auch nicht.

Sie versuchten nur immer, mich dazu zu überreden, Barquass zu verlassen. Vor allem der Spezialist der Zeit war ein ruheloser Geist. Manam-Turu hatte ihm nun schon so viele Abenteuer geboten und Hinweise auf sehenswerte Welten und Völker gegeben – und doch verlor er niemals sein Hauptziel aus dem Sinn: festzustellen, ob es die vom Orden der Zeitchirurgen noch gab und wenn, sie zu bekämpfen – sowie nach Spuren seines Volkes zu suchen und Ermittlungen über die Zeitschule von Rhuf anzustellen, an der er vor vielen Jahrtausenden oder Jahrhunderttausenden ausgebildet worden war.

Ich rappelte mich auf, stakste durch die trockenen Pflanzenfasern, die den Boden des Zimmers kniehoch bedeckten und früheren Bewohnern wahrscheinlich als Schlafpolster gedient hatten, und blickte durch eines der Fenster.

Mich fror.

Aber nicht etwa, weil die Temperatur hier drinnen zu niedrig gewesen wäre. Mich fror, weil mich der Anblick erschütterte, der sich meinen Augen bot.

Das war die Stadt Barquass, zweifellos.

Aber es war nicht die Stadt Barquass, wie ich sie bei meiner ersten Ankunft kennen gelernt hatte, und auch nicht die, die sie noch vor zirka sechs Wochen gewesen war.

Mit ihr hatte sie ungefähr soviel gemein wie ein Skelett mit dem springlebendigen Lebewesen, das es einmal gewesen war.

Barquass war tot und leer – und zur Zeit war es außerdem noch dunkel.

Ich kam mir verlassen und nutzlos vor.

Ich hämmerte mit den Fäusten gegen das Glasplastik des Fensters.

»Guray!«, schrie ich. »Melde dich! Ich bin es, Anima! Ich will dir helfen. Was ist mir dir los? Warum schweigst du? Ich weiß doch, dass du da bist.«

Es war zwecklos.

Ich schluchzte.

Es war mir unbegreiflich, warum sich Guray nicht meldete. Er musste doch inzwischen genau wissen, wer ich war und dass er von mir nichts zu befürchten hatte. Außerdem war er allgegenwärtig. Er steckte in Pflanzen, Tieren, Felsen und Gebäuden – zumindest aber in einem Teil dessen, was den Planeten Barquass bedeckte.

Im Grunde genommen war Guray groß und mächtig, aber sein Mut war so klein wie der einer Maus in einem Tigerkäfig.

Trotz packte mich.

Ich spie gegen die Fensterscheibe (vielleicht war sie auch ein Teil von Guray). Erschrocken rieb ich den nassen Fleck mit dem Ärmel trocken. Ich wollte Guray ja nicht kränken.

Verbittert starrte ich hinaus, über die künstlichen Hügel der Gebäudekomplexe, die sich hier im Zentrum der Stadt teilweise bis zu tausend Metern hoch auftürmten. Aus zahlreichen Fenstern fiel bleicher Lichtschein. Aber es wäre ein Trugschluss gewesen, dort Bewohner zu vermuten. Alle Piraten und auch alle anderen Bewohner hatten die Stadt und den Planeten verlassen, als Guray sie nicht mehr daran hinderte.

Ich hatte gleich gewusst, was die unheimliche Stille zu bedeuten hatte, die sich damals über den Planeten gelegt hatte. Es war die Stille der Atemlosigkeit von Guray gewesen – und atemlos war Guray geworden, weil ihn ein mächtiger psionischer Impuls aus dem All erreicht hatte.

Der Impuls, der den Beginn der Entscheidungsschlacht zwischen EVOLO und dem Erleuchteten ankündigte und damit das große Spiel um Gurays Schicksal.

Denn eines war sicher.

Wer immer diese Schlacht für sich entschied, der würde nach Barquass kommen, um auch hier zu triumphieren und in gewisser Weise den Kampf zu beenden, der vor unendlich langer Zeit zwischen Hartmann vom Silberstern und Vergalo getobt hatte.

Ich war bereit, das Panier aufzunehmen, das meinem sterbenden Ritter damals entglitten war – und ich war bereit, zu siegen oder zu sterben.

Etwas polterte.

Ich fuhr herum.

In meinem Bewusstsein jagten sich die Gedanken.

Ich erinnerte mich, dass ich über Treppen und Treppchen, Gassen und Gässchen, Brücken und Brückchen an diesen Ort gekommen war. Eines der krummen Treppchen endete genau vor der Wohneinheit, in der ich mich befand – und sie war schadhaft, so dass ich auf ihr gestrauchelt war. Dabei hatte ich ein polterndes Geräusch verursacht.

So eines, wie ich es jetzt gehört hatte!

Jemand war draußen!

Ich schrie, stürmte auf die Tür los, riss sie auf und sprang den Feind an, der sich über die Treppe angeschlichen hatte, um mich meuchlings zu ermorden.

Allerdings war der Feind nicht nur unsichtbar, sondern auch masselos, so dass ich durch ihn hindurchfiel und ziemlich albern auf den Stufen landete.

Es raubte mir die Fassung.

Als ich wieder zu mir fand, saß ich auf der schmalen, krummen Treppe und lachte hysterisch.

Ich war auf einen eingebildeten Feind hereingefallen.

Mein Lachen blieb mir in der Kehle stecken, als ich schräg über mir zwei glühende Kohlen grünlich in der Dunkelheit glimmen sah.

Ein Dämon!

Ich rührte mich nicht, sondern durchbohrte die Dunkelheit mit den Blicken – und senkte beschämt den Kopf, als ich feststellen musste, dass der vermeintliche Dämon ein Nachtvogel war, der mit aufgeplustertem Gefieder auf dem wackligen Treppengeländer hockte und mit riesigen Pupillen das Restlicht verstärkte.

Unwillkürlich musste ich an Urg denken, den großen flügellosen Vogel, dem ich damals, als Guray verrückt spielte, begegnet war. Es gab ihn nicht mehr. Manchmal war ich in den letzten Wochen versucht gewesen, den Keller aufzusuchen, in dem ich ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Ich war immer wieder davon abgekommen. Zu groß war die Angst vor einer Enttäuschung gewesen, denn ich hatte damals gesehen, dass Urg nicht in die Kornkiste zurückgeklettert war, wie er mich hatte glauben machen wollen, sondern dass er sich dicht davor in Luft aufgelöst hatte.

Was das bedeutete, war eigentlich völlig klar. Aber ich wollte es nicht wissen.

Wieder polterte es.

Ich sprang hoch und blickte mich um, am ganzen Körper zitternd vor Zorn, Furcht und Enttäuschung.

Die gewundene Treppe, auf der ich stand, löste sich aus ihren Halterungen und schwankte zirka zwanzig Meter weit nach rechts. Dadurch verlor sie den Kontakt mit dem Mauerwerk der anliegenden Wohneinheiten.

Ich stand plötzlich auf einem schwankenden, knarrenden und verdächtig knacksenden Gebilde – ungefähr hundert Meter über den flachen Dächern der tiefer liegenden Wohnkomplexe.

Und plötzlich verflogen der Zorn, die Furcht und die Enttäuschung.

Ich hörte und sah nichts mehr von den »normalen« Wahrnehmungen, sondern spürte nur mit übersinnlicher Eindringlichkeit die unmittelbare Nähe Gurays.

»Ich verstehe dich!«, rief ich laut, obwohl ich wusste, dass er der akustischen Wahrnehmung nicht bedurfte. »Du bist für mich wie ein Bruder.«

Ein Wetterleuchten tanzte lang anhaltend über einen Horizont. Unheimlich langsam schwang die Treppe zurück und rastete in ihren Halterungen ein.

Ich stürzte und blieb liegen – und versuchte, das geistig zu verarbeiten, was gleichzeitig mit dem Wetterleuchten auf mich eingestürmt war.

Der mentale Schrei Gurays, der seine Angst vor EVOLO ausdrückte, die Angst vor dem Geschöpf der Finsternis, das über den Erleuchteten gesiegt hatte und nunmehr die letzten Hindernisse beseitigen wollte, die seiner Ausbreitung im Wege zu stehen schienen.

*

Nur allmählich beruhigte ich mich wieder.

Seltsamerweise war es nicht etwa neuerwachte Hoffnung, die mir meine ruhige Überlegung zurückgab. Ganz im Gegenteil, es war die sichere Gewissheit des Ausgeliefertseins an den Sieger der kosmischen Auseinandersetzung.

Die Lage war so schlimm, dass sie nicht mehr schlimmer werden konnte.

Das dachte ich jedenfalls, bis ich die Wiederholung jenes Schreies hörte, der mich erst vor kurzem aus dem Schlaf gerissen hatte.

Und als mir klar wurde, dass er keineswegs mit dem mentalen Schrei Gurays identisch war.

Es durchfuhr mich wie ein elektrischer Stromstoß.

Dieser Schrei, der mich geweckt hatte, und seine Wiederholung waren keine unartikulierten Angstschreie, sondern artikulierte Rufe.

Hilferufe!

Mein Ritter hatte gerufen!

Ich spürte es überdeutlich, denn mein Orbiterinstinkt hatte angesprochen – und der konnte nur dann ansprechen, wenn ich einen Ruf von meinem ureigensten Ritter empfing.

Von Atlan!

Ich schloss die Augen und kämpfte einen inneren Kampf.

Etwas in mir wollte mir weismachen, dass es nicht Atlan, sondern Hartmann vom Silberstern gewesen war, der nach mir gerufen hatte – und zwar der Teil meines ersten Ritters, der sich als unsichtbare psionische Nukleonladung in den Atomen verteilt hatte, aus denen Guray bestand (und zwar ungefähr in dem Verhältnis, in dem sich ein Stäubchen Ruß zu einer kosmischen Dunkelwolke verhielt).

Aber ich wusste vom ersten Moment an, dass nicht dieses ohnmächtige Stäubchen nach mir gerufen hatte, sondern das lebendige Kraftpotenzial Atlans.

Der Arkonide befand sich in Gefahr!

Ich kroch auf allen vieren die Treppe hinauf und wieder in den Raum mit dem dreieckigen Grundriss hinein, dabei immer wieder den Namen meines zweiten Ritters flüsternd.

Es war sinnlos, was ich tat.

In dem Raum befand sich nichts, was ich dort zurückgelassen hatte, und nichts, was mir irgendwie weiterhelfen konnte. Meine Handlungen waren lediglich Reaktionen meines Unterbewusstseins auf die geistige Verarbeitung meiner Erkenntnis, dass ich zu lange schon versucht hatte, möglichst alle Gedanken an Atlan zu unterdrücken und mich statt dessen mit Erinnerungen an meinen ersten Ritter zu quälen.

Es war eine selbstzerstörerische Quälerei gewesen. Das wurde mir im Nachhinein klar, und mir wurde auch klar, dass ich daran zugrunde gegangen wäre, hätte ich mich nicht aus diesem Teufelskreis befreit.

Das hieß, eigentlich war ja nicht ich es, der sich aus dem Teufelskreis befreit hatte, es war Atlan gewesen, der den Anstoß dazu gegeben hatte.

Stöhnend wühlte ich mich aus den Pflanzenfasern, kroch zur Tür, öffnete sie und blickte verzweifelt hinaus in die Nacht.

Atlan war in Gefahr – und ich musste ihm helfen.

Aber wie sollte ich ihm helfen, wenn ich nicht den geringsten Anhaltspunkt dafür hatte, wo er sich aufhielt?

Ich rappelte mich hoch und betrat die Treppe.

Sie schwankte erneut, schwenkte aber diesmal nicht aus, sondern blieb in ihren Halterungen liegen.

Ich tastete mit der rechten Hand nach dem wackeligen Geländer, legte die Hand darauf und stieg Stufe um Stufe hinab.

Wenn ich nicht wusste, wo sich Atlan befand, musste ich ihn suchen – und wenn ich keine Ahnung hatte, wo ich mit der Suche beginnen sollte, musste ich da beginnen, wo ich gerade war.

*

Ich überquerte gerade eine schmale, schwankende Hängebrücke, die zwischen zwei vorspringenden Bauelementen gespannt war, als der Wind aufkam.

Es war ein eisiger Wind.

Ich hastete über die Brücke und suchte in den jenseitigen Bauelementen nach einem Eingang. Aber ausgerechnet jetzt, wo ich Schutz vor dem Eiswind gebraucht hätte, fand ich keinen. Es wurde immer kälter. Meine Augen tränten; mein Knochenmark schien zu erstarren.

Halb lief, halb rutschte ich eine steile Treppe hinunter. Über mir wurde es dunkel. Es schien, als gingen die Sterne aus, aber natürlich bezog sich der Himmel lediglich mit Wolken. Die Sicht wurde katastrophal. Allerdings stieg die Temperatur wieder an. Sie blieb zwar noch unter dem Gefrierpunkt, aber die Luft stach nicht mehr wie mit Eisnadeln in die Haut.

Am unteren Ende der Treppe stolperte ich und fiel hin. Noch im Fallen sah ich in einem von rechts aus einem Fenster kommenden blassen Lichtkegel die verstreute Landgang-Ausrüstung einer ganzen Gruppe von anscheinend hominiden Raumfahrern.

Während ich mich wieder erhob, musterte ich die Gegenstände. Ich fand nichts darunter, was ich gebrauchen konnte. Aber die Ausrüstung erinnerte mich wieder an die Piraten, die bis zur Krise Gurays auf Barquass gelebt hatten und die Hals über Kopf geflohen waren, als ihr »Schutzpatron« sie nicht mehr daran hindern konnte.

Ob sie wohl jemals zurückkehrten?

Es sah nicht danach aus.

Guray hatte sie während seiner Krise das Fürchten gelehrt – und die Furcht saß ihnen anscheinend noch so tief in den Knochen, dass sie sich in absehbarer Zeit nicht wieder zurücktrauen würden.

Was Gurays Selbstvertrauen auch nicht gerade stärken würde!

Aber darum durfte ich mich im Moment nicht kümmern. Ich drehte mich im Halbkreis und versuchte, mich bei dem spärlichen Licht, das aus dem Fenster fiel, zu orientieren.

Ich atmete auf, als ich die schmale Gasse wiedererkannte, durch die ich auf dem Herweg gekommen war. Wenn ich diesen Weg zurückging, musste ich in den südlichen Stadtbezirk kommen. Dort kannte ich mich einigermaßen aus. Das hieß, falls sich seit meinem letzten Aufenthalt dort nichts wesentlich verändert hatte. Völlig stabil war ja nichts auf dem Planeten Barquass und in der Stadt gleichen Namens. Die »Anwesenheit« Gurays hatte Veränderungen sozusagen vorprogrammiert.

Dennoch zögerte ich nicht, den vertrauten Weg einzuschlagen. Mit der rechten Hand an den Außenwänden von Bauelementen tastete ich mich vorwärts. Mehrmals stolperte ich über irgendwelche Objekte: weggeworfenes Gepäck oder tote Körper, ich vermochte es nicht festzustellen – und ich wollte es auch gar nicht wissen.

Die Enge und Dunkelheit irritierten mich stärker, als ich es für möglich gehalten hätte. Als ich zuletzt durch diese Gasse geeilt war, hatte Tageslicht geherrscht. Im Finsteren sah alles anders aus.

Als eine Sirene markerschütternd aufheulte, war ich so entnervt, dass ich laut schreiend gegen die Wand zur Linken rannte. Ich prallte mit der Stirn dagegen und taumelte halbbetäubt zurück. Aber wenigstens hatte der Aufprall meine Panik gelöst. Außerdem hatte das Heulen aufgehört – und mir wurde bewusst, dass es die Sirene eines Raumschiffs gewesen war, was ich gehört hatte.

Die Sirene der STERNENSEGLER!

Goman-Largo und Neithadl-Off hatten nach mir gerufen.

Es erleichterte mich und machte mich gleichzeitig nervös. Es erleichterte mich deswegen, weil es mich vom Gefühl der Verlassenheit befreite. Ganz egal, was man über sie sagen konnte, sie waren immer gute Freunde gewesen. Nervös machte es mich allerdings, weil es mir ins Bewusstsein zurückrief, was ich so lange unterdrückt hatte: dass ich meinen Gefährten sechs Wochen lang fast ausnahmslos aus dem Weg gegangen war und sie über meine weiteren Pläne im Unklaren gelassen hatte. Irgendwann mussten sie logischerweise die Geduld verlieren.

Komisch, bis vor kurzem hätte mich dieser Gedanke nicht beunruhigt. Es wäre mir sogar recht gewesen, wenn Goman-Largo und die Vigpanderin mit der STERNENSEGLER abgeflogen wären, denn dann hätte es nichts mehr gegeben, was mich zur Eile anspornte. Aber jetzt, da ich Atlans Hilferuf gehört hatte, ahnte ich, dass ich schon bald auf die Hilfe meiner Gefährten angewiesen sein würde.

Sie durften Barquass nicht ohne mich verlassen!

Ich hob unwillkürlich die linke Hand, an deren Gelenk das Funkarmband saß. Doch dann ließ ich sie wieder sinken. Wenn ich den Tigganoi und die Parazeit-Historikerin jetzt anfunkte, würden sie meine Position einpeilen und kommen, um mich mit mehr oder weniger sanfter Gewalt an Bord zu holen.

Noch dreimal heulte die Sirene auf, dann schwieg sie wieder.

Inzwischen hatte ich die schmale Gasse verlassen und mich auf eine Rampe begeben, die ich ebenfalls kannte. Sie war vor langer Zeit ein rollender Transportsteig gewesen, zirka zwei Meter breit und fünfhundert Meter lang. Wenn ich sie überwunden hatte, würde ich mich wieder auf ebenem Boden befinden und brauchte nicht länger in dem Gebäudekomplex im Zentrum der Stadt herumzuturnen.

Doch die fünfhundert Meter wurden zur Qual, denn schon nach wenigen Schritten setzte ein so heftiges Schneetreiben ein, dass ich keine Hand mehr vor Augen sah. Der Rollsteig bedeckte sich mit einer Decke aus nassem, glitschigen Schnee, auf der ich ständig ausrutschte. Meine Hände tasteten vergeblich nach den Seiten. Ich fand weder ein Geländer noch eine Wand.

Als das Schneetreiben aufhörte, merkte ich es gar nicht sofort, denn meine Augen waren total zugekleistert. Erst, als der Schnee auf ihnen taute, wurde ich gewahr, dass das Wetter umgeschlagen war. Die Bewölkung war aufgerissen, so dass wenigstens etwas Sternenlicht durchkam und mir die Orientierung erleichterte.

Vor mir lagen noch gut fünfzig Meter Rampe, danach kam ein Platz – und auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes ragte etwas Dunkles empor, aus dem in zirka hundert Metern Höhe Lichter blinzelten: ein Turm.

Wenn mich nicht alles täuschte, musste es dort zwei Türme geben (früher waren es sogar drei gewesen), aber anscheinend besaß der andere Turm keine eigene Lichtquelle, so dass er bei Nacht und auf die Entfernung für mich nicht zu sehen war.

Mich zog es jedoch nicht zu den Türmen. Ich benutzte sie lediglich als Orientierungshilfe und bog ungefähr auf der Mitte des Platzes im rechten Winkel nach links ab.

Eine gute halbe Stunde ging ich anschließend durch ungleichmäßig beleuchtete Straßen, die von relativ niedrigen Häusern gesäumt wurden. Ich rekonstruierte, dass ich mich in einem Stadtbezirk befand, in dem einst hominide Piraten gelebt hatten, die von einer technisch unterentwickelten Welt stammten. Dementsprechend war ihr Viertel gestaltet. Die Häuser rochen irgendwie bodenverbunden – und das waren sie auch, denn hinter ihnen, abseits der Straßen, lagen kleine Felder und sorgfältig gepflegte Gärten.

Ich sog tief die Luft ein. Sie hatte hier etwas an sich, das anheimelnd auf mich wirkte.

Es dauerte nicht lange, da fand ich das Haus wieder, das ich suchte. Ich stieß die straßenseitige Tür auf. Ein Korridor lag vor mir, erfüllt von den Gerüchen nach Mehl, Brot, nasser Kleidung und kaltem Rauch – und nach Schimmel. Eine einzige kleine Lampe baumelte an einem dünnen Kabel von der Decke und erzeugte ein tristes Dämmerlicht.

Ich achtete nicht weiter darauf, sondern ging schnurstracks auf die Treppe zu, die vom Flur in den Keller führte. Vorsichtig ging ich die knarrenden Stufen hinunter.

Unten war es ein wenig heller. Drei Deckenlampen erhellten das Gewölbe. Riesige Weinfässer und Kisten voller Vorräte standen dort.

Ich erinnerte mich an das Brot, das ich damals gegessen hatte, als ich durch die Stadt irrte, während Guray verrückt spielte. Suchend sah ich mich um.

Tatsächlich entdeckte ich auch diesmal ein Brett voller Brote. Aber ich verzichtete darauf, sie auch nur zu kosten. Zu deutlich waren die Anzeichen von Verderbnis; zu intensiv roch es nach Schimmel.

Doch deswegen war ich auch nicht hergekommen.

Mein Blick heftete sich auf den Getreidekasten, der in einem Winkel stand.

Eine Weile verharrte ich reglos, dann imitierte ich eine kurze, einfache Melodie aus glucksenden und quakenden Tönen. Meine Augen brannten, während ich auf die Kornkiste starrte.

Und plötzlich verschoben sich die Schatten in jenem Winkel des Gemäuers ...

*

Ich empfand es als selbstverständlich, dass es unter dem Torbogen keine provisorisch gemauerte Wand mehr gab, sondern die Dunkelheit eines unbeleuchteten Gewölbes.

Langsam setzte ich mich wieder in Bewegung. Ich ging auf das Gewölbe zu – und tauchte in seine Dunkelheit ein, fiebernd vor Erwartung.

Und meine Erwartung wurde nicht enttäuscht.

Denn mit der Dunkelheit umgab mich plötzlich der imaginäre Mantel jenes Hauchs von Sehnsucht, der von meinem Altritter Hartmann vom Silberstern auf und in Barquass zurückgeblieben war.

»Du wirst mir helfen, nicht wahr?«, flüsterte ich in die Dunkelheit, die sich scheinbar lichtjahreweit vor mir erstreckte.

»Ja, ich helfe dir – und ihm«, flüsterte es zurück.

Ich fragte nicht, wem die Stimme gehörte, denn ich fürchtete, den »Zauber« zu zerstören, der mir diese Art von Kommunikation ermöglichte. Natürlich glaubte ich nicht wirklich an Zauberei. So etwas gab es nicht – es sei denn, in Welten jenseits der materiellen Realitäten. Wenn hier, im Diesseits, Dinge geschahen, waren sie immer Bestandteil einer linear verlaufenden Kausalkette, in die Energie gespeist werden musste, wenn am Ende eine Wirkung herauskommen sollte.

Ich fragte auch deshalb nicht, weil ich im Innersten wusste, dass auf Barquass nur Guray die Möglichkeit besaß, kosmische Hyperstrahlung so zu beugen und zu fokussieren, dass ich hier etwas wahrnahm, was sich zeitgleich an einem viele Lichtjahre entfernten Ort abspielte – und weil ich im Grunde genommen nur deswegen hierhergekommen war, hierher, wo sich hinter der vierdimensionalen Raum-Zeit-Realität verborgen eine Kreuzung fünfdimensionaler Kraftfeldlinien befand.

Sie hatte es einst ermöglicht, dass ich einer Erscheinung namens Urg begegnete – und dass ich noch einmal ganz normal mit Guray hatte sprechen können, obwohl er sich damals in tiefer Verwirrung und Depression befunden hatte.

»Wo ist er?«, fragte ich, als ich nichts weiter hörte.

Ein erschrockener Atemzug antwortete mir, dann sagte die Stimme von vorhin:

»Ich kann es nicht genau sehen. Es handelt sich um einen psionischen Knotenpunkt, der in seinem Kerngebiet so grell emittiert, dass ich geblendet werde. Aber es muss ein Planet sein, denn ich spüre die Relikte zahlreicher Mythen, die tief aus der Vergangenheit weit in die Gegenwart reichen.«

»Und dort ist Atlan?«, vergewisserte ich mich stockend.

»Von dort kommt sein Hilferuf«, lautete die nicht ganz befriedigende Antwort. »Sie ist ständig überlagert von psionischen Impulsen, die anscheinend ebenfalls nach Hilfe rufen. Dort befinden sich Wesenheiten in großer Not. Aber es gibt auch Emissionen von Wesenheiten, die Heimtücke und Hinterlist spinnen.«

»Kannst du Atlans Hilferuf nicht akustisch wahrnehmbar machen?«, drängte ich.

»Es geht nicht«, antwortete die Stimme nach einiger Zeit. »Ich weiß nicht warum, aber es geht nicht. Vielleicht denkt er nur an dich. Aber nein, denn dann wären die Linien klarer. Es scheint, als träumte er nur, allerdings einen sehr intensiven Traum.«

»Kannst du ihn für mich sichtbar machen?«, fragte ich zaghaft.

»Ich versuche es«, hörte ich die Stimme wispern.

Eine Weile ereignete sich gar nichts – und ich fürchtete schon, der Kontakt zu Guray (beziehungsweise zu jener Seite von Guray, die von ein paar Stäubchen Nukleonen meines ersten Ritters »verunreinigt« war) sei abgerissen, da schälten sich die Konturen eines hochgewachsenen Hominiden in lackschwarz glänzender Rüstung vor mir aus den wogenden Schatten.

Nein, es war keine Rüstung, die er trug. Es war eine Raumkombination. Weißblondes Haar umrahmte sein scharfgeschnittenes, ausdrucksvolles Gesicht mit den rötlich glimmenden Augäpfeln und fiel ihm bis auf die Schultern.

Atlan!

Jede einzelne Nervenfaser meines Körpers schrie den Namen hinaus. Ich spürte, dass ich nahe daran war, zu vergehen, mich in etwas aufzulösen, das nicht in dieses Universum gehörte. Heiß brannten meine Augen, heiß brannte mein Herz.

Im nächsten Augenblick stach mir eine imaginäre Lanze aus purem Licht durchs Gehirn.

Anima!, flammte es in meinem Bewusstsein auf. Hüte dich vor ...!

Es krachte und blitzte fürchterlich.

Etwas packte mich und schleuderte mich brutal zurück.

Für eine ganze Weile musste ich geistig weggetreten gewesen sein, denn als mein Bewusstsein sich aus fragmentarischen Trümmern wieder zu einer Ganzheit zusammenfügte, gab es unter dem Torbogen nicht mehr die Dunkelheit eines unbeleuchteten Gewölbes, sondern nur die provisorisch gemauerte Wand – und davor die Kornkiste.

Ich aber lag auf dem Boden. Alle Glieder taten mir weh, und im Kopf summte es wie ein Bienenschwarm.

Doch mein Herz schlug kraftvoll und in freudiger Erwartung, denn ich hatte meinen Ritter Atlan gesehen, wenn auch nur auf eine indirekte Weise und wahrscheinlich über eine Art fünfdimensionaler Weiche nur eine Mischung aus Projektionen seines und meines Unterbewusstseins.

Trotz alledem – er hatte für einen kurzen Moment gespürt, dass ich indirekt bei ihm gewesen war, und er hatte die Kraft aufgebracht, mir eine Botschaft zu übermitteln.

Die Botschaft war zwar im wesentlichen eine Warnung gewesen, doch das spielte für mich keine Rolle.

Wichtig war nur, dass ich jetzt ganz genau wusste, dass mein Ritter Atlan mich brauchte und dass er sich an einem konkreten Ort innerhalb von Manam-Turu befand (andernfalls wäre sein Hilferuf sinnlos gewesen).

Und ich hatte auch schon zwei Anhaltspunkte dafür, wo sich dieser Ort befand.

Er war identisch mit einem psionischen Knotenpunkt – und ich war absolut sicher, dass ich seine Emissionen spüren würde, sobald ich mich ihm näherte.

Und an seinem Himmel befand sich eine kleine, tiefdunkelrot leuchtende Sonne.

Woher ich das wusste, das allerdings vermochte ich nicht zu rekonstruieren. Möglicherweise hatte Guray es ermittelt und mir mitgeteilt – oder es war von anderen Kräften in mein Bewusstsein geimpft worden.

Das alles waren an sich keine Fakten, die das Auffinden eines so winzigen Objekts, wie es ein Sonnensystem war, innerhalb eines so gigantischen Sternen- und Staubgewimmels, wie es eine Galaxis darstellte, ermöglichen konnten.

Dennoch war ich zuversichtlich, Atlan zu finden, denn mein Orbiterinstinkt würde mir immer wieder Hinweise auf die Richtung liefern.

Ich rappelte mich auf und blickte zurück auf die Kornkiste. Mit leiser Wehmut dachte ich zurück an Urg, der möglicherweise kein simpler Vogel gewesen war (obwohl eigentlich kein Stück belebter und beseelter Materie simpel sein konnte), dann wandte ich mich ab und verließ diesen Ort.

Einmal war es mir, als gluckste es leise hinter mir. Doch da befand ich mich schon im Korridor, und ich mochte nicht umkehren auf einem Weg, der für mich nur noch eine Einbahnstraße war.

Als ich die Haustür aufstieß, empfingen mich blauer Himmel und heller Sonnenschein.

Ich nahm es als gute Vorzeichen.

»Goman-Largo und Neithadl-Off, macht euch bereit!«, flüsterte ich zuversichtlich.

Atlan-Paket 16: Im Auftrag der Kosmokraten (Teil 2)

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