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1. Über das kriminalistische Denken

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Ziel des vorliegenden Buches ist es, Hinweise zu Überlegungen und Denkleistungen zu geben, welche nötig sind, um eine Straftat zu erkennen, eine vermeintliche bzw. tatsächliche Straftat aufzuklären oder nachzuweisen, dass keine Straftat begangen wurde. Die beschriebene Tätigkeit kann man als kriminalistisches Denken bezeichnen. Diese Art des Denkens verbessert die Arbeitsweise all derjenigen, die mit der Aufdeckung, Aufklärung und Verfolgung von Straftaten beruflich betraut sind, und das sind nicht nur Mitarbeitende der Strafverfolgungsbehörden und der Gerichte. Das kriminalistische Denken ist gewissermaßen die Basis kriminalistischen Arbeitens; man könnte auch sagen, das kriminalistische Denken ist die DNA des Kriminalisten.

Die Frage liegt nahe, ob die Methoden des kriminalistischen Denkens jenen ähnlich sind, welche Forscher im Bereich der Natur- oder Geisteswissenschaften anwenden, um Probleme zu analysieren und zu lösen. Die Frage ist einerseits zu bejahen: Systematisches Überlegen, das Denken in Hypothesen und die Methode des Verifizierens oder Falsifizierens können Kriminalisten durchaus von Mathematikern oder Sozialwissenschaftlern lernen und übernehmen, und sie sollten es auch tun. Die Frage muss anderseits aber in Teilbereichen auch verneint werden: Vor allem haben es Kriminalisten nicht mit Laborsituationen zu tun, sondern mit dem wirklichen Leben. Sie müssen deshalb oft rasch unter hohem Zeitdruck und bei bescheidener Faktenlage Entscheidungen treffen, welche sich dann nicht wieder rückgängig machen lassen. Kriminalisten können die Ergebnisse ihrer Ermittlungen auch nicht beliebig reproduzieren: Fehler, die etwa bei der Erstvernehmung des in flagranti erwischten Gewalttäters gemacht werden, lassen sich später überhaupt nicht oder nur mit erheblichen Schwierigkeiten beheben. Es lohnt sich deshalb, über das kriminalistische Denken und seine Besonderheiten nachzudenken.

Kriminalistisches Denken kann man lernen und üben. Forschungen haben gezeigt, dass die Anwendung gewisser Methoden bei der Lösung von kriminalistisch relevanten Sachverhalten zu deutlich besseren Ergebnissen führt. So ist empirisch belegt, dass Befrager, welche die Technik des Kognitiven Interviews anwenden, zu deutlich besseren Resultaten bei Vernehmungen kommen als diejenigen, die nicht nach dieser Methode vorgehen (allerdings brauchen sie dazu etwas mehr Zeit). Henriette Haas hat nachgewiesen, dass Kriminalisten, die mit der Technik des systematischen Beobachtens vertraut sind, signifikant bessere Lösungen von kriminalistischen Aufgaben produzieren als Personen, die diese Technik nicht kennen.[1]

Nicht nur die Auswertung von Personenbeweisen[2], sondern auch die von Sachbeweisen verspricht eher Erfolg, wenn Kriminalisten die neusten Techniken der Beweiserhebung kennen und sie in der richtigen Art und Reihenfolge Schritt für Schritt anwenden. Gerade die modernen, hochpräzisen und sehr zuverlässigen Beweiserhebungen (DNA-Analysen und andere Techniken der Spurenauswertung; Überwachungen der Telekommunikation; Auswertungen technischer Aufzeichnungsgeräte) führen in vielen Fällen zu klaren Beweisergebnissen, deren Beweiswert kaum mehr angezweifelt werden kann.

Ob man eine Lösung auf diesem Wege findet, ist allerdings nicht sicher. Schwierigkeiten entstehen dann, wenn man davon ausgehen muss, alle verfügbaren Beweise erhoben zu haben, ohne dass sich ein bestimmter Sachverhalt vollständig beweisen lässt. Immerhin: Die saubere und möglichst vollständige Anwendung der verschiedenen Techniken der Beweiserhebung ist auch in schwierigen Fällen eine notwendige Basis. Bisweilen sind allerdings speziellere und weiterführende Überlegungen notwendig. Wie dann vorzugehen ist, spüren erfolgreiche Kriminalisten intuitiv. Weil aber Intuition nicht lern- oder trainierbar ist, muss man sie manchmal herbeizwingen. Wie man das zustande bringt, kann sich zum Beispiel aus der Überlegung ergeben, wieso man einen schwierigen Fall auf überraschende Weise doch noch gelöst hat. Blieb der Erfolg anfangs versagt, weil man scheinbar harmlose Kleinigkeiten übersehen hat, oder hat man ungewöhnliche, nicht ins Bild passende Einzelheiten verdrängt, ohne ihnen besondere Beachtung zu schenken? Ging man von einer besonders raffinierten Täterschaft aus, weil der deliktische Schaden besonders hoch war, und übersah dabei naheliegende Versionen, weil nicht der Täter besonders professionell, sondern das Opfer besonders unbedarft war?

Wer sich allerdings nur auf die Intuition verlässt, wird nur mit Glück schwierige Fälle lösen können. Methodisches Vorgehen ist nicht immer hinreichend, aber stets notwendig für die Aufklärung von Straftaten. Wer nicht schon zu Beginn der Untersuchung möglichst alle vorhandenen Daten vollständig erfasst und bei der weiteren Bearbeitung präsent hat, übersieht Umstände, die zur Lösung führen könnten. Wer dann auf Grund dieser Daten nicht alle möglichen Hypothesen in Betracht zieht, der ermittelt allenfalls in die falsche Richtung. Wer sich auf Grund der Hypothesen nicht vor Augen führt, welche Tatbestände in Frage kommen und welche Tatbestandsmerkmale es zu beweisen gilt, der ermittelt ziellos und unvollständig. Der Ermittlungserfolg insgesamt wird damit gefährdet.

Das bedeutet nicht, dass man jeden von Anfang an einigermaßen klaren Sachverhalt in all seiner Breite und Tiefe aufklären und von vornherein in Varianten denken müsste. Ausgangspunkt jeder Beweisführung muss aber unbedingt die Vorstellung davon sein, welche Straftat in Frage kommt und über welche einzelnen Tatbestandsmerkmale dabei Beweis zu führen ist. Alle erfahrenen Kriminalisten wissen, dass sie bisweilen diese Grundregel vernachlässigen: Eine mutmaßliche Straftat weckt ihre Neugierde, und sie klären dann mit großem Aufwand ab, was sich in Wirklichkeit abgespielt hat. Schließlich finden sie heraus, dass das Ergebnis der Untersuchungen vollkommen nutzlos ist, weil ein bestimmtes Tatbestandsmerkmal offensichtlich nicht erfüllt ist oder sich nicht beweisen lässt. Das ist dann besonders ärgerlich, wenn dies absehbar gewesen wäre, hätte man sich nur früh genug Überlegungen dazu gemacht.

Der schönste Geldwäsche- (in der Schweiz: Geldwäscherei-) Verdachtsfall, bei dem jede einzelne Transaktion sich sauber rekonstruieren lässt, wird nicht erfolgreich abgeschlossen, wenn die Ermittler erst am Schluss merken, dass die mutmaßliche Vortat zwar strafbar wäre, die dazu erforderlichen Beweise sich aber im Ausland nicht beschaffen lassen.

Entscheidend ist gerade nach schweren Straftaten, dass nicht einfach die üblichen Ermittlungshandlungen abgearbeitet werden, oft sogar auf breitester Basis, ohne diese Maßnahmen der konkreten Aufgabe genügend anzupassen. Man sollte nicht einfach möglichst viel Material sammeln, ohne immer wieder darüber nachzudenken, wie man es vervollständigen und welche Schlüsse man daraus ziehen sollte. Zwar führt auch solch unstrukturiertes Suchen manchmal zum Erfolg; die Lösung ist dann aber eher der einfachen Struktur des Falles zu verdanken als dem kriminalistischen Denken. Kriminalistisches Denken ist in diesem Sinn ein zyklischer Prozess: Jedes einzelne Beweisergebnis kann das Gesamtbild der Beweislage verändern, was dann allenfalls zur Anpassung von Hypothesen und vielleicht sogar dazu führt, andere oder zusätzliche Tatbestände ins Auge zu fassen.

Damit soll nichts gegen die in der Praxis gängigen Checklisten für die Bearbeitung bestimmter Arten von Straftaten gesagt werden, im Gegenteil: Sie enthalten meistens ein gutes Stück (fremdes) kriminalistisches Denken. Sobald man aber bei der Lektüre eines Schemas zu fragen beginnt, warum dieser oder jener Punkt zu klären sei, fängt man an, ins kriminalistische Wissen einzusteigen und Vorhandenes zu vertiefen.

Eine besondere, rechtsstaatlich heikle und ausgesprochen schwierige Disziplin ist das Werten von Wahrnehmungen und Feststellungen über Vorgänge, von denen man vermutet, dass hinter ihnen eine Straftat steckt, ohne dass dies schon klar ist: Es geht um den Verdacht. Die kriminalistische Aufgabe ist erst erledigt, wenn die Tat nachgewiesen und der Täter überführt und verurteilt worden ist – oder wenn sich der Verdacht als unbegründet herausgestellt hat oder der Fall schlicht unlösbar bleibt. Man kann eine Verdachtslage leicht übersehen oder unterschätzen und deshalb mit der Arbeit gar nicht beginnen. Man riskiert anderseits, einen Verdacht zu vermuten, hinter dem sich effektiv gar keine Straftat verbirgt. Die Entscheidung, einer vagen Vermutung nachzugehen oder eben nicht, ist einer der schwierigsten, obschon sie alltäglich ist. Ob Vorermittlungen oder die Eröffnung einer Strafuntersuchung angezeigt sind, ist nicht nur in tatsächlicher, sondern auch rechtsstaatlicher Hinsicht eine schwierige Frage. Wer kriminalistisches Denken beherrscht, wird allerdings auch in diesem Bereich weniger Fehler machen als andere.

Inwieweit das kriminalistische Denken auch die Kriminalprognose und die Kriminalstrategie beeinflusst oder beeinflussen sollte, ist noch nicht hinreichend geklärt. Ralph Berthel forderte schon 2007, in dieser Hinsicht das kriminalistische Denken neu zu denken.[3] Neuer ist die Forderung, dass die „digitale Spur“ ein fester Bestandteil kriminalistischen Denkens sein sollte.[4] Das ist etwas irreführend, denn „digitale Spuren“ sind inzwischen ein feststehender Begriff (nämlich Tat- oder Täterspuren durch den Täter in der digitalen Welt). Die Autorinnen meinen hier aber den Einsatz von (Software)Technik, die die Ermittlungsarbeit unterstützen soll. Es herrscht sicherlich Konsens darüber, dass ein Ermittler in Zeiten von Big Data und einer z.T. unglaublichen Informationsflut ohne den Einsatz von modernen Auswertetools nicht mehr auskommen kann. Insoweit sind diese Softwareinstrumente zu einer unverzichtbaren Hilfe für die Ermittlungstätigkeit und das kriminalistische Arbeiten geworden. Ein guter Kriminalist sollte sie kennen und gezielt einzusetzen verstehen, damit man beim kriminalistischen Denken keine Fehler begeht.

Dass die Kriminalistik selbst eine Wissenschaftsdisziplin ist, die neben der Kriminologie (und nicht wie früher dieser untergeordnet) als nichtjuristische Wissenschaft zusammen mit den juristischen (Strafrecht, Strafprozessrecht) gemeinsam Teil der Kriminalwissenschaften[5] ist, ist mittlerweile unstrittig. Ebenso unstrittig wie bedauernswert ist, dass die Kriminalistik im deutschsprachigen Raum in Forschung und Lehre nach wie vor überwiegend ein Schattendasein fristet bzw. stiefmütterlich behandelt wird, was dringend geändert werden muss.

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