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4.1 Heuristik und Algorithmen
ОглавлениеDie Frage, wie man methodisch richtig vorgehen sollte, um die Lösung einer Aufgabe zu finden, ist uralt. Überlegungen dazu findet man bereits bei Euklid, dem Verfasser der berühmten „Elemente“ (Geometrie), bei Apollonius aus Perga, bei Aristäus dem Älteren und Papus Alexandrinus. In neuerer Zeit waren es vor allem Descartes, Leibniz und Bolzano, die sich mit der Methode des Findens von Lösungen auseinandergesetzt haben. Besonders Letzterer hat sich in seinem Werk „Wissenschaftslehre“ der „Erfindungskunst“ (der Kunst, neue Wahrheiten aufzufinden) gewidmet. In jüngster Zeit haben George Polya[15] und Johannes Müller[16] nach Wegen gesucht, mit guten Problemlösungsstrategien rascher zu Ergebnissen zu kommen.
Es wird dabei zwischen zwei Lösungstypen unterschieden, zwischen Heuristiken und Algorithmen. Heuristische Methoden versuchen, die Komplexität eines Problems zu reduzieren, um mit weniger Aufwand zur Lösung zu kommen. Algorithmische Lösungswege suchen Handlungsanweisungen, um in endlich vielen Schritten zur eindeutigen Lösung eines Problems zu kommen. Heuristisches Vorgehen führt nur möglicherweise zu einer Lösung, ein Algorithmus dagegen sicher. Allerdings können komplexe Alltagsprobleme kaum algorithmisch gelöst werden, weil sie sich gar nicht vollständig beschreiben lassen. Kriminalistik ist deshalb vorerst heuristisch, und es sind vor allem die kriminaltaktischen Werke, welche die entsprechenden Regeln angehen.
Um Straftaten umfassend zu erkennen und aufzudecken, sind vorerst alle Tatsachen bedeutsam, die mit einer möglichen Straftat zusammenhängen und einen Hinweis oder gar den Schlüssel zur Aufklärung des Falles liefern können. Die Reduktion auf bestimmte Tatbestandselemente gelingt erst dann, wenn der Sachverhalt klare Konturen bekommt und erkennbar wird, um welchen Tatbestand es sich handeln kann. In der Praxis hat man es zwar meistens mit Sachverhalten zu tun, bei denen von vornherein relativ klar ist, worum es geht. Der Verkehrspolizist, der eine Radarmessung vornimmt, wird sich nicht überlegen müssen, welche Tatbestände in Frage kommen, wenn sein Gerät bei einem Fahrzeug eine überhöhte Geschwindigkeit anzeigt. Die wenigen interessanten Fälle, welche richtiges kriminalistisches Denken erfordern, zeichnen sich gerade dadurch aus, dass man von vornherein nicht klar sieht, worum es eigentlich geht (oder dass man übersieht, dass die richtige Lösung des Falles nicht die naheliegende ist).
Der Kriminalist, der noch nach der Lösung sucht, muss sich das verbrechensverdächtige Ereignis in der ganzen Breite, in allen Erscheinungen und denkbaren Zusammenhängen vorstellen. Das Verbrechen ist in diesem Moment noch nicht die auf die juristische Fragestellung reduzierte Angelegenheit; es ist vielmehr eine Erscheinung im Leben des Einzelnen und im Leben der Gesellschaft.
Die Straftat ist keine isolierte Erscheinung, sondern steht immer in Beziehung zu einer Person, zum Täter zur Zeit der Tat und zu einer Tatsituation, wie sie der Täter gesehen hat. Wenn man sich zu früh dafür entscheidet, diese Erscheinung im Hinblick auf einen bestimmten in Frage kommenden Tatbestand zu überprüfen, riskiert man, sie nicht vollständig zu erfassen. Erforderlich ist aber, einen komplexen Ablauf im Sinne der Heuristik so zu reduzieren, dass sich bestimmte Tatbestände herausschälen lassen.
Rechtsmediziner behaupten bisweilen, es gebe zahlreiche Tötungsdelikte, die nicht erkannt werden, weil man den Todesfall zwar als außergewöhnlich einschätzt, dann aber zu wenig gründlich nach der Todesursache sucht. Die Todesursache (also die medizinische Diagnose) muss allerdings feststehen, bevor man Aussagen über die Todesart (natürlich, deliktisch, unfallmäßig oder suizidal) machen kann. Dass eine 95-jährige Frau, die tot in ihrem Bett aufgefunden wird, eines natürlichen Todes gestorben ist, kann man selbst dann, wenn man weiß, dass sie an Krebs litt, erst mit Sicherheit sagen, wenn man die Tote gründlich untersucht hat.
Das materiellrechtliche Programm, das es bei der Aufgabe, einem Verdächtigen eine bestimmte Straftat nachzuweisen, abzuarbeiten gilt, ist dann allerdings begrenzt; es gibt nicht beliebig viele, sondern nur eine gewisse Anzahl von objektiven und subjektiven Tatbestandselementen.[17] Die Prüfung, ob alle Tatbestandsmerkmale einer bestimmten Straftat erfüllt sind, folgt dann eher einer algorithmischen Methode.