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4.3 Das Umfeld der Tat

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Erst in der letzten Phase der kriminalistischen Arbeit an einem schwierigen Fall kann die Straftat als ein strafbares Verhalten beschrieben werden, das zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort an den Tag gelegt worden ist und alle objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmale einer bestimmten Straftat erfüllt.

Zunächst geht es in einem unklaren Fall, vor allem in einem mit unklarer Täterschaft, um einen ganz konkreten Lebenssachverhalt mit vielen Einzelheiten, Besonderheiten oder Spuren. Nicht nur bei der Frage, um welche Straftat es sich handelt, sondern vor allem bei der Frage, wer als Täter in Frage kommt, ist das Umfeld der Tat von entscheidender Bedeutung. Zu denken ist zum Beispiel an die Art und Weise der Ausführung, die Anwendung besonderer Werkzeuge. Alle diese Einzelheiten können auf bestimmte Täter weisen oder bestimmte Personen als Täter ausschließen, und vor allem diese Einzelheiten sind für die Strafzumessung oft von entscheidender Bedeutung.

Für die Beurteilung der Frage, ob eine Vergewaltigung begangen wurde, genügt der Nachweis, dass der Täter gegen den Willen des Opfers unter Anwendung von Gewalt oder anderen Nötigungsmitteln den Beischlaf vollzogen hat. Für die Frage, wer als Täter in Frage kommt, ist eine Vielzahl von Besonderheiten des Tatablaufs, gerade auch vor und nach dem Vollzug des Beischlafs, von entscheidender Bedeutung. Auch für die Strafzumessung gibt die Konzentration auf die objektiven Tatbestandsmerkmale nur wenig her.

Das kriminalistisch relevante Verhalten erschöpft sich deshalb nicht nur in der deliktischen Handlung als solcher; es hat regelmäßig

eine Vorgeschichte,
eine gewisse Breite, Nebenerscheinungen und -ereignisse sowie
Nachwirkungen und Folgen.

Bekannt ist auch die Untergliederung in Vortat-, Haupttat- und Nachtatphase.

Die Vorgeschichte oder Vortatphase beginnt mit dem ersten Gedanken des späteren Täters an das Delikt. Zwar muss auch der Kriminalist nicht Gedanken lesen, der Täter zeichnet aber solche Überlegungen mitunter auf oder teilt sie anderen mit oder verhält sich so, dass im Nachhinein erkennbar ist, dass dieses Verhalten als Vorbereitung der Tat gewertet werden muss. Viele Straftaten verlangen sodann nicht nur gedankliche, sondern auch logistische Vorbereitungen: Bevor Tatwerkzeuge eingesetzt werden können, müssen sie beschafft werden. Plant der Täter die Tat im Voraus, dann wird er in der Regel den Tatort zuerst auskundschaften oder, wenn verschiedene Tatorte möglich sind, den aus seiner Sicht günstigsten aussuchen. Allenfalls muss das Opfer beobachtet werden. Zufalls- oder Gelegenheitstaten haben zwar ein Minimum an Vorgeschichte; ob es sich um solche handelt, zeigt sich aber erst bei der Untersuchung, wie sich der Täter vorher verhalten hat. Man kann daher nicht immer mit einer Vorgeschichte rechnen; wo sie aber besteht, kann sie wertvolle Hinweise auf Tat und Täter, insbesondere auf seine Motive, geben.

Zur Breite einer Straftat (Haupttatphase) gehört etwa die Tatsache, dass möglicherweise nicht nur an einer Stelle gehandelt worden ist und Spuren zu finden sind. Das tote Opfer wurde vielleicht vom aufschlussreichen Tatort weggebracht. Es kann auch an einem zweiten Ort ein Ablenkungsmanöver inszeniert worden sein, um leichter an die Beute heranzukommen oder die Polizei dort zu beschäftigen. Nicht selten hängen bestimmte Verbrechen mit anderen zusammen; eine Brandstiftung wird etwa begangen, um Spuren einer Gewalttat oder (bei Brandstiftungen in Unternehmungen) um Akten zu vernichten, die ein Vermögensdelikt beweisen würden. Kriminalistisch interessant ist in diesem Zusammenhang, dass der Täter sich beim Verwischen von Spuren oft aufs Kerngeschehen beschränkt, sei es aus Zeitgründen oder weil er nicht daran denkt, auch Spuren von Nebenumständen zu beseitigen. Wird mit einer gewissen Breite nach zu erwartenden Spuren gesucht, wird man deshalb häufig eher fündig, als wenn man sich aufs Kerngeschehen beschränkt.

Zu den Nachwirkungen und Folgen (Nachtatphase) gehören nicht nur das Verstecken oder Absetzen der Beute und das (nachträgliche) Verwischen von Spuren, sondern bisweilen auch Veränderungen im Verhalten des Täters, etwa Schuldgefühle oder Angst vor Entdeckung, die Veränderung des Aussehens oder seine Flucht. Interessant für den Kriminalisten ist der Umstand, dass der Täter mit zunehmender Dauer unvorsichtiger werden wird. Tauchen Schmuck von erheblichem Wert oder bekannte Kunstwerke in den Wochen nach dem Diebstahl nicht auf, könnte es sich lohnen, nach Monaten nochmals zu überprüfen, ob die Ware irgendwo angeboten wird.

Eine umfassende Betrachtungsweise des Verdachtsfalles führt fast immer zu indizierenden Tatsachen oder Zusammenhängen. Der Kriminalist sollte daher eigenes und fremdes Erfahrungswissen berücksichtigen und seine Suche von Anfang an auf die ganze Breite und Dauer der Straftat ausdehnen, wenn er einen unklaren Sachverhalt untersucht.

Die geschilderte Arbeitsweise erleichtert auch die richtige Einstellung gegenüber Ansprüchen der Parapsychologie. Einige Astrologen, Hellseher oder Pendler glauben, für normale Menschen noch nicht durchschautes Geschehen, etwa ein noch nicht geklärtes Verbrechen, anhand anderer Ereignisse (Bewegung der Planeten, mediale Einfälle, Pendelausschläge) aufdecken zu können. In den weitaus meisten Fällen erweisen sich die Behauptungen solcher Leute aber als falsch und die Treffer, wenn man sie statistisch erfasst, als zufällig. Man sollte die Hinweise solcher Hellseher trotzdem nicht einfach ignorieren, denn Menschen, die sich erfolgreich als Astrologen, Hellseher oder Pendler betätigen, verfügen manchmal über ein überdurchschnittlich gutes (aber durchaus natürliches) Ahnungsvermögen, außergewöhnliche Einfühlungsgabe, eine gute Intuition und ähnliche Eigenschaften. Diese Qualitäten befähigen sie, Tatsachen und Zusammenhänge zu vermuten, auf die andere nicht so leicht und rasch kommen würden. In dieser Hinsicht (und nur in dieser) können solche Leute auch dem Kriminalisten mit Hinweisen helfen.[18] Es wäre deshalb falsch, nicht näher begründete, aber doch nicht völlig abwegige Behauptungen solcher Leute nicht kritisch zu prüfen, denn dadurch identifiziert man sich noch lange nicht mit ihrer „Wissenschaft“, sondern prüft nur eine Tathypothese auf deren Folgerichtigkeit. Im Übrigen kann man es sich bei Schwerstkriminalität in der heutigen medialen Gesellschaft gar nicht leisten, solche Hinweise überhaupt nicht zu überprüfen. Wären sie nämlich zufällig richtig, würde man sich im Nachhinein dem nur schwer zu begegnenden Vorwurf aussetzen, einem zutreffenden Hinweis nicht nachgegangen zu sein.

Nach dem Verschwinden der 5-jährigen Ylenia im Sommer 2007 in Appenzell gingen etwa 20 Hinweise von Pendlern und Hellsehern ein, wo das Mädchen versteckt sein könnte, meist begleitet mit dem Hinweis dieser Leute auf ihre früheren Erfolge in anderer Sache. Die Leiche des Mädchens wurde schließlich aufgefunden, und es ergab sich, dass der Täter das Kind noch am Tag der Entführung in einem Wald umgebracht und am Tatort vergraben hatte. Keiner der Pendler und Hellseher hatte einen Tipp abgegeben, der mit der Realität auch nur annähernd zu tun hatte, was allerdings in der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen wurde – ein Grund dafür, dass sich solche Leute immer mit ihren angeblichen, in Wirklichkeit zufälligen Erfolgen brüsten können, denn ihre Misserfolge bleiben normalerweise im Verborgenen.

Der Fall zeigt übrigens auch, dass man die Nachwirkungen einer Tat von vornherein in seine Taktik einbeziehen sollte. Der Täter hatte das Mädchen begraben und dann in der Nähe Suizid begangen. Es war naheliegend, dass man in den ersten Tagen nach dem Delikt besonders gründlich in der näheren Umgebung der Täterleiche suchte, zumal sich die Erkenntnis verdichtete, dass dieser Tote tatsächlich mit dem Verschwinden von Ylenia zu tun hatte. Den späteren Fundort der Kindesleiche suchte man bereits in den Tagen nach dem Delikt sorgfältig ab, ohne fündig zu werden. Dass ein Passant die Leiche Wochen später dann doch noch fand, war auf den Umstand zurückzuführen, dass wilde Tiere mittlerweile nach der Leiche gegraben und sie deshalb teilweise offengelegt hatten. Deshalb war sie in den Tagen nach der Tat zunächst übersehen, dann aber von einem Passanten aufgefunden worden.

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