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1.2 Gute Kriminalisten

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Was in diesem Buch gesagt wird, ist für den erfahrenen Kriminalisten nicht grundlegend neu. Jeder, der mit Ermittlungen zu tun hat, ist schon auf die zu besprechenden Probleme gestoßen, und hat sie gleich, ähnlich oder besser gelöst oder einfach ignoriert. Der Versuch, einige grundsätzliche Erkenntnisse zu klären und systematisch zu ordnen, dürfte dem Spezialisten trotzdem neue Erkenntnisse bringen. Dem weniger Erfahrenen wird gezeigt, dass das kriminalistische Denken keine erstaunliche Kunst oder ein beneidenswertes Talent ist, sondern bloß eine erlernbare Methode.

Was zeichnet einen erfolgreichen Kriminalisten aus?

Grundvoraussetzung ist die gründliche Kenntnis des Straf- und Strafprozessrechts. Dies erfordert dogmatisches Verständnis. Nur wer weiß, welche Straftaten der Gesetzgeber mit Strafe bedroht, nur wer die heiklen Rechtsfragen im Zusammenhang mit den wichtigsten Tatbeständen kennt, wird überhaupt zuverlässig wissen, was in einem konkreten Fall zu beweisen ist. Nur wer die prozessualen Rahmenbedingungen kennt, kann die Beweise so erheben, dass sie vom Gericht auch verwertet werden können.

Klares kriminalistisches Denken benötigt wie jedes systematische Arbeiten einen scharfen Intellekt. Eine gute Beobachtungsgabe („… die sorgfältige Wahrnehmung aller Details“[7]) ist Voraussetzung dafür, die wichtigen Informationen zu erkennen; ein gutes Gedächtnis ist hilfreich, um die gesammelten Informationen verknüpfen zu können. Scharfsinniges und konsequentes Denken ermöglicht es dem Kriminalisten, die richtigen Schlüsse zu ziehen.

Nicht zu unterschätzen ist die Bedeutung der Fantasie. Kriminelle sind in der Regel nicht Menschen, die ihre Taten aufgrund logischer Überlegungen und klarer Planung begehen. Nur wer die Begabung hat, sich das nicht Naheliegende vorzustellen, wird sich eher in die Denkweise der verschiedensten Delinquenten einfühlen und deren Überlegungen nachvollziehen können. Insbesondere wenn es um die Entwicklung von Hypothesen geht, ist mangelnde Fantasie kaum (oder höchstens durch sehr viel Erfahrung) zu kompensieren.

Immer wichtiger wird in der kriminalistischen Arbeit die ganz bodenständige Ausdauer und Hartnäckigkeit. Wer komplizierte Wirtschaftsstraffälle lösen oder Deliktsserien von organisierten Banden aufklären will, der braucht Ausdauer, Entschlossenheit und Geduld. Zunehmend wird nicht das Fehlen von Daten, sondern deren zu große Fülle zum Problem. Werden die Schriftsachen von Wirtschaftskriminellen beschlagnahmt, dann handelt es sich oft um mehrere hundert schlecht organisierte Ordner; dazu kommen häufig elektronische Daten im Terabyte-Bereich. Die Schwierigkeit ist dann nicht, dass sich die wesentlichen Akten nicht darunter befinden, sondern nur, wie diese zu finden sind. Sind die Taten einer aus fünf Mitgliedern bestehenden Diebesbande aufzuklären, dann spielt oft der Kommunikationsverkehr mit den Mobiltelefonen oder Smartphones eine entscheidende Rolle. Wenn aber jeder der Beschuldigten (wie man es heute oft antrifft) mehrere tausend Kurznachrichten (die klassischen SMS sind heute zunehmend von WhatsApp, SIMSme, Telegram, Signal, Wire, Viber, Snapchat oder Threema abgelöst worden) auf seinem Handy gespeichert hat, dann lässt sich nur noch mit elektronischen Analysetools herausfinden, welche Gespräche die entscheidenden sind, um Absprachen über Einbrüche und den Kommunikationsverkehr während der einzelnen Straftat nachzuvollziehen. Machen dann die fünf Verdächtigen zu jedem der ihnen vorgeworfenen Einbrüche noch abweichende Aussagen, dann wird es schwierig, jederzeit den Überblick über die aktuell gerade vorhandene Beweislage zu behalten, wenn man sich die Arbeit nicht gut organisiert und strukturiert.

Es gilt also, eine Vielzahl von Daten so gründlich wie möglich auszuwerten, mit Geduld zahlreiche Vernehmungen von Beschuldigten durchzuführen und die Ergebnisse laufend so miteinander zu verknüpfen, dass erkennbar ist, wo die Beweisführung noch Lücken hat. Das ist per se weder besonders spannend noch sehr befriedigend, sondern vor allem mit viel Anstrengung verbunden: Kriminalistische Arbeit besteht häufig aus einem kleinen Teil Kriminalistik und einem überwiegenden Teil Arbeit.

Unvoreingenommenheit ist eine weitere, wichtige Eigenschaft, die sich nicht nur aus dem rechtsstaatlichen Prinzip der Unschuldsvermutung ableitet. Sie hilft, den Blick für andere Erklärungen nicht zu verstellen und verhindert, auch und insbesondere bei Vernehmungen (in der Schweiz: Einvernahmen), eine selektive Wahrnehmung. Der Kriminalist Ernst Gennat, der die Arbeit der Berliner Kriminalpolizei in den 20er Jahren revolutionierte, war bekannt dafür, dass er niemals dem ersten Eindruck traute, sondern sich stets alle möglichen Varianten offen hielt.[8] Einer seiner Leitsätze war zudem „Unsere Waffen sind Gehirn und Nerven.“[9]

Die Fähigkeit zur Selbstkritik ist, weil es oft um Spekulationen geht, unumgänglich. Wer die erarbeiteten Beweisergebnisse nicht laufend selbstkritisch hinterfragt, wer nicht in der Lage ist, die Schwächen der Beweisführung zu erkennen, der hat schon verloren: Weil der Beschuldigte weiß, was gewesen ist, wird er die meisten materiellen Fehler der Beweisführung sofort erkennen. Sein Verteidiger wird, je perfekter die Beweisführung in der Sache ist, desto mehr darauf achten, ob in der Untersuchung prozessuale Fehler gemacht wurden. Die Rüge solcher Fehler ist dann die einzige Möglichkeit, trotz materiell klarem Beweisergebnis doch noch etwas für seinen Klienten herauszuholen. Die vielen Juristen und Kriminalbeamten angeborene Sturheit (die in diesem Berufsfeld unumgänglich ist), verbunden mit der nötigen Dosis Ehrgeiz, führt nur dann zum Erfolg, wenn sie nicht in der Unfähigkeit mündet, eigene Zwischenergebnisse kritisch zu hinterfragen und notfalls wieder zu verwerfen.

Zum guten Kriminalisten gehört auch der Wille, seine Fähigkeiten und sein Wissen nur im Interesse des Rechts einzusetzen. Ziel seiner Arbeit ist es nicht, jeden Verdächtigen mit allen Mitteln einer Verurteilung zuzuführen, sondern die Schuldigen von den Unschuldigen in einem rechtsstaatlichen Verfahren zu unterscheiden. Auf diesem Weg darf der Pfad des rechtlich Zulässigen nie verlassen werden: Wer als Strafverfolger die Einhaltung der Gesetze einfordert und Verstöße dagegen ahndet oder einer Ahndung zuführt, der darf sich selbst nicht über die Rahmenbedingungen hinwegsetzen, die ihm der Gesetzgeber für sein eigenes Handeln vorgegeben hat.

Das mag bisweilen ärgerlich sein, weil der Hochseilakt des Gesetzgebers, den Ausgleich zwischen staatlichem Strafverfolgungsinteresse und persönlicher Freiheit des Bürgers zu finden, nicht immer gelingt. Wer aber meint, er könne im Interesse der Wahrheitsfindung abwägen, ob die Einhaltung gewisser strafprozessualer Vorschriften im konkreten Fall angebracht sei oder nicht, der betreibt nicht Strafverfolgung, sondern Inquisition, und sollte sich deshalb einen anderen Beruf suchen. „Justice should not only be done, but should manifestly and undoubtedly be seen to be done“ (Lord Hewart Gordon).[10] Auch der hartnäckige Gewohnheitsdelinquent wird möglicherweise einen Funken Einsicht zeigen, wenn er in einem korrekten Verfahren überführt wurde; zumindest wird er aber einen gewissen Respekt vor den Personen haben, die zu seiner Verurteilung beigetragen haben. Beruht der Schuldspruch dagegen auf unerlaubten Tricks in der Untersuchung, etwa der falschen (und nicht nachvollziehbaren, weil nicht protokollierten) Behauptung des Ermittlers, der Mittäter habe gestanden oder es sei am Tatort eine DNA-Spur des Verdächtigen gefunden worden, dann wird auch der überführte Schuldige am Schluss kaum das Gefühl haben, eigentlich geschehe ihm Recht.

Von dieser Regel gibt es kaum je Ausnahmen. Immerhin: Ein mutmaßlicher Kokainkurier war einerseits von seinen Lieferanten, anderseits aber auch vom Abnehmer belastet worden, eine Kokainlieferung von Zürich nach Bregenz ausgeführt zu haben. Die Fahrt ließ sich anhand eines Einreisestempels im Reisepass, aber auch aufgrund der Hotelkontrolle in Bregenz nachvollziehen, und die Aussagen der Belastungspersonen waren damit objektiviert. Der Kurier hatte einen mutmaßlichen Komplizen, dessen Rolle beim fraglichen Transport allerdings nie geklärt werden konnte, weil beide Beteiligten dazu keine Aussagen machten. Nachdem das Urteil (drei Jahre Freiheitsstrafe) verkündet worden war, sagte der Verurteilte bei der Verabschiedung im Vorraum des Gerichtssaals zu Thomas Hansjakob: „Herr Staatsanwalt, verdient habe ich es ja schon, aber nicht dafür …“ Später stellte sich heraus, dass das Kokain dem Kurier vom Komplizen „untergejubelt“ worden war und dass er erst nach der Zollkontrolle erfahren hatte, was sich im Kofferraum seines Autos befunden hatte.

Waldemar Burghard hat in diesem Zusammenhang den Begriff „Intellektuelle Redlichkeit“ geprägt, zu dem seiner Ansicht nach Gründlichkeit, Exaktheit, Gewissenhaftigkeit und Verantwortungsbewusstsein gehören.[11]

Folgendes Akronym beschreibt die Fähigkeiten, die ein Kriminalist haben sollte, ebenfalls kurz und anschaulich: 4xKI, was man sich auch mit „4mal kriminalistische Intelligenz“ schnell merken kann. Die vier „K“ stehen für kompetent, kooperativ, konsequent und kreativ, die 4 „I“ für intelligent, idealistisch, innovativ und integer.

Schließlich wäre es wünschenswert, wenn der Kriminalist menschlich wäre und es in jeder Lage auch bliebe. Wenn er schon im Namen der strafenden Gerechtigkeit handelt, dann sollte er auch versuchen, Vorbild zu sein. Menschlicher Umgang gewinnt vor allem dann große praktische Bedeutung, wenn es gilt, in einer Vernehmung brauchbare Informationen zu erhalten. Einem distanzierten und kühlen Taktiker wird sich der Täter selten öffnen. Nur wenn der Beschuldigte sich ein gewisses menschliches Verständnis erhoffen darf, wird er auch bereit sein, sich in die Abgründe seiner Seele schauen zu lassen.

Kurzum, der Kriminalist sollte also ein Übermensch sein, der bereit ist, alle seine Fähigkeiten für ein bescheidenes Gehalt notfalls rund um die Uhr im Interesse des Rechts zur Verfügung zu stellen. Er sollte für den Beruf „brennen“, seine Aufgabe jedenfalls nicht nur als Job betrachten. Kriminalist zu sein, ist schon auch Berufung. Der frühere Präsident des deutschen Bundeskriminalamts (BKA) Jörg Ziercke hat am 26.2.2004 anlässlich seiner Amtseinführung gesagt: „Entscheidend ist, dass das innere Feuer des Kriminalisten nicht erlöschen darf, dieser Hang zum Detektivischen, zum streng logischen Denken, zum Analytischen wie zum kreativen Kombinieren.“

Als alte Kriminalistenweisheit gilt auch der folgende Satz: „Eine Straftat klärt man nicht im Büro auf.“ Ein Ermittler muss rausgehen, sich (vor Ort) ein eigenes Bild machen, mit Leuten reden, aufmerksam zuhören, mit allen Sinnen wahrnehmen. Nun wird behauptet, dass sich die Ermittlungskultur verändere – vom „Bärenführer“ zum „Dataminer“.[12] Die E-Mail-Kommunikation und auch die von Vorgesetzten erwartete, schnelle Reaktion binde die Präsenz an das eigene Büro.[13] Dem ist entgegenzuhalten, dass moderne Kommunikationsmittel heutzutage nicht mehr an das Büro binden. Gleichwohl sind Ermittler auf viele Ergebnisse angewiesen, die heutzutage im Rahmen von Auswertungen und Analysen bzw. Untersuchungen und Begutachtungen in Büros und Labors erfolgen.

Es wird immer wieder gesagt, dass Kriminalist ein Erfahrungsberuf sei, was bedeuten müsste, dass ein altgedienter Ermittler einem kriminalistischen Novizen stets überlegen ist. Dennoch kann der Berufsanfänger ebenso erfolgreich sein, wenn er die Grundregeln des kriminalistischen Denkens beherzigt und gleichermaßen systematisch wie phantasievoll vorgeht. Umgekehrt kann der einseitig Erfahrene Scheuklappen entwickeln, die ihm den Weg zur Falllösung versperren.

Ein großes Problem ist der Wissensverlust, der mit der Pensionierung, oft auch mit einem Funktionswechsel einhergeht. Bisher scheint es kein geeignetes Instrument zu geben, dieses Wissen angemessen aufzubereiten und zielgruppenspezifisch vorzuhalten. Aktives Wissensmanagement ist hier gefordert. Dass fehlende personelle Kontinuität in den Ermittlungsbereichen mit der Gefahr des Wissensverlustes einhergeht, hat auch schon der sog. NSU-Untersuchungsausschuss in seinem Abschlussbericht kritisiert.[14]

Einige Merksätze:

Kriminalistisches Denken ist die Fähigkeit, mit möglichst wenig Aufwand und zielgerichtet in Verdachtsfällen abzuklären und zu beweisen, ob eine Straftat geschehen und wer dafür verantwortlich ist. Das Wissen darum, was kriminalistisches Denken umfasst, erleichtert die systematische und erfolgreiche Aufklärung von komplizierten Straftaten.
Gute Kriminalisten haben solide Kenntnisse im Straf- und Strafprozessrecht, die sie befähigen, zu erkennen, was im konkreten Fall zu beweisen ist, und diese Beweise nach den prozessualen Regeln so zu erheben, dass sie im Strafverfahren verwertbar sind. Sie haben ein gutes Gedächtnis und besitzen Fantasie sowie die Fähigkeit zur Selbstkritik, um Hypothesen bilden und allenfalls auch verwerfen zu können. Sie arbeiten hartnäckig und zielgerichtet. Ihr Wissen setzen sie nur im Interesse des Rechts ein.
Eine Straftat klärt man nicht am Schreibtisch auf.
Gute Kriminalisten besitzen 4 x KI und brennen für ihren Beruf.
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