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1. Allgemeine Überlegungen
ОглавлениеKriminalistisches Arbeiten ist Wahrheitserforschung. Blaise Pascal hat vor mehr als 300 Jahren geschrieben: „Man kann bei der Erforschung der Wahrheit drei hauptsächliche Aufgaben haben: erstens, die Wahrheit zu entdecken, wenn man sie sucht, dann sie zu beweisen, wenn man sie besitzt, und schließlich, sie vom Falschen zu sondern, wenn man sie prüft.“[1] Auch die Aufgabe des Kriminalisten hat zunächst die gleiche Struktur: Sie besteht darin,
• | Straftaten zu erkennen oder den Verdacht auf das Vorliegen einer Straftat zu begründen, also für alle Verbrechenselemente Hinweise zu suchen und Hypothesen über Tatverlauf und Täterschaft zu entwickeln, |
• | die betreffenden Beweise in einwandfreier und rechtsstaatlicher Weise zu erheben und |
• | die Beweise kritisch zu prüfen oder eben zu zeigen, dass die für eine Überführung der beschuldigten Person notwendigen Voraussetzungen im gegebenen Fall nicht oder nicht vollständig erfüllt sind. |
Der Kriminalist will – kurz gesprochen – gerichtsfest herausfinden, was tatsächlich passiert ist. Allerdings stellt sich schon hier die Frage,
• | ob die Wahrheit immer vollständig ermittelbar ist, und |
• | ob es überhaupt eine absolute Wahrheit geben kann oder ob es nicht oftmals viele subjektive Wahrheiten gibt. |
Nach Henriette Haas hat der Wahrheitsbegriff in seiner Absolutheit im kriminalistischen Denken ohnehin nichts zu suchen.[2] Die Ersetzung durch „qualifizierten Glauben“ hält sie für ungeeignet und schlägt stattdessen „Validität“ vor[3], was im Zusammenhang mit Aussagequalität vernünftig erscheint.
Allen ist klar, dass es Fälle gibt, in denen nicht die gesamte Wahrheit ans Tageslicht befördert werden kann. Neben tatsächlichen Grenzen (ein wichtiger Zeuge verstirbt und kann nicht mehr befragt werden) gibt es auch rechtliche Beschränkungen (ein Beschuldigter darf zurecht die Aussage verweigern).
Und auch sonst ist es mit der „absoluten Wahrheit“ so eine Sache. Dass da fünf Personen gestanden haben, werden wohl alle (?) Zeugen gleichermaßen gesehen haben und bestätigen können, aber wie warm oder kalt es war, oder welche Farbe das Fluchtauto hatte, kann schon sehr unterschiedlich wahrgenommen und für wahr gehalten werden. Wir müssen hier zwischen der Bezeichnung (ein roter Sportwagen – in der Grafik ein grauer Sportwagen) und dem Bezeichneten (was es tatsächlich ist) unterscheiden. Die Bezeichnung (das, was wir daraus machen) ist die Wirklichkeit, das Bezeichnete (das, was es tatsächlich ist) entspricht der Realität. Nur die Realität führt zur Wahrheit, die Wirklichkeit hingegen führt nur zur Gewissheit. Insoweit muss uns klar sein, dass wir in manchen, vielleicht sogar in den meisten Fällen, maximal die Gewissheit erreichen können. („Es gibt keinen Zugang zur Objektivität“ (Sokrates).[4] Ferdinand von Schirach, ehemals praktizierender Strafverteidigter, beschreibt in seinem Roman TABU auf eindrückliche Weise, dass Wahrheit und Wirklichkeit zwei verschiedene Dinge sind, so wie auch Recht und Moral. Gute Kriminalisten wissen um diese Differenzierung.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Was ist das Ziel des Strafprozesses?[5] Zum einen geht es sicherlich auch darum, die Wahrheit herauszufinden. Man sollte hier aber besser von der forensischen Wahrheit (oder Akten-Wahrheit bzw. Prozess-Wahrheit[6]) sprechen, weil auch ein Gericht beschränkt ist. Aber das eigentliche Ziel ist ein gerechtes Urteil oder Gerechtigkeit. Der unschuldig Angeklagte soll freigesprochen, der zurecht Angeklagte schuldangemessen verurteilt werden.
Wo liegt die Besonderheit der Wahrheitserforschung im Strafprozess? Es geht um die Beschaffung der Grundlagen für die Entscheidung darüber, ob die beschuldigte Person wegen einer bestimmten Straftat anzuklagen und dann zu verurteilen oder ob das Verfahren einzustellen ist.
Diese Entscheidung ist nur möglich, wenn die Beweisführung alle Merkmale der fraglichen Straftat umfasst, also sämtliche objektiven und subjektiven Tatbestandselemente sowie die zeitliche und örtliche Einordnung der Tat. Damit es zu einer Verurteilung kommt, müssen wirklich alle diese Elemente bewiesen sein; bleibt nur ein einziges Tatbestandselement unbewiesen, dann muss das Verfahren eingestellt oder die beschuldigte Person freigesprochen werden.
Es ist trotzdem nicht die gesamte sich aus einem Lebenssachverhalt ergebende materielle Wahrheit zu beweisen: Nicht alle Umstände einer menschlichen Handlung spielen bei der strafrechtlichen Beurteilung eine Rolle, sondern eben nur diejenigen, die in rechtlicher Hinsicht in Bezug auf einen bestimmten Straftatbestand relevant sind. Die Beweisführung muss allerdings in heiklen Fällen vorerst oft sehr breit angelegt werden, um den Tatablauf rekonstruieren und den Täter überführen zu können. Dieses umfassende Datenmaterial kann aber zum Schluss wieder reduziert werden auf die Umstände, die für die strafrechtliche Beurteilung relevant sind.
Wie alt das Opfer einer sexuellen Handlung mit Kindern ist, lässt sich in der Regel auf den Tag genau bestimmen. Für den Schuldspruch genügt aber zunächst nur die zweifelsfreie Feststellung, dass das Kind über oder unter dem gesetzlichen Schutzalter ist (was z.B. eine Rolle spielen kann, wenn es sich um ein Flüchtlingskind handelt, dessen Geburtsdatum nicht zweifelsfrei feststeht). Erst bei der Strafzumessung spielt dann das ungefähre Alter (unter dem Titel des Unrechtsgehaltes der Tat) wieder eine Rolle.
Auf die Augenfarbe des Täters kommt es bei der rechtlichen Einordnung der Tat überhaupt nicht an; sie kann allerdings als Hilfstatsache bei der Beweiswürdigung, etwa der Aussage eines Zeugen, von zentraler Bedeutung sein.
Die Möglichkeiten der Beweisführung werden durch zahlreiche formelle Regeln einschränkt.[7] Der Beschuldigte muss zu seiner Überführung überhaupt nichts beitragen, und das muss ihm auch zu jedem Zeitpunkt des Verfahrens klar sein. Die Angaben des Beschuldigten, die er ohne die Kenntnis seines Rechts zur Verweigerung der Aussage zu Protokoll gab, können noch so zutreffend sein, sie sind trotzdem nicht verwertbar. Die Ergebnisse einer nicht richterlich bewilligten Telefonüberwachung könnten zwar eine Straftat allenfalls eindeutig beweisen, müssen aber trotzdem aus den Akten entfernt werden.
Zusammenfassend geht es also darum, in einem Strafverfahren alle Beweise zu erheben, die zum Nachweis aller Tatbestandselemente einer Straftat erforderlich sind. Diese Beweise müssen in der dafür vorgesehenen gesetzlichen Form erhoben werden. Dadurch unterscheidet sich die kriminalistische Methode der Wahrheitsfindung von der naturwissenschaftlichen.
Das Gericht stellt im Ergebnis die forensische Wahrheit fest, die übrigens von der tatsächlichen durchaus abweichen kann. Und dass die forensische Wahrheit manchmal sogar falsch ist, sieht man an Fehlurteilen, die es (leider) trotz der redlichen Bemühungen aller Prozessbeteiligten immer wieder auch gegeben hat und wohl auch zukünftig geben wird. Ein gerechtes Urteil kann schließlich auch auf der halben Wahrheit beruhen. Und das mag am Ende etwas tröstlich sein. Selbst, wenn die gesamte Wahrheit nicht ans Licht kommt, kann es zum Schluss trotzdem Gerechtigkeit geben. Was gerecht ist, soll an dieser Stelle aber nicht weiter erörtert werden. Vor Gericht und auf hoher See ist man bekanntlich in Gottes Hand.