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3.1 Täter-Opfer-Delikte und Delikte mit beidseitiger Täterschaft
ОглавлениеIn der Praxis hat man es in vielen Fällen mit den klassischen Delikten zu tun, bei denen dem Täter ein Opfer gegenübersteht. Der Grund für die Strafbarkeit liegt bei diesen Delikten darin, dass die Interessen des Opfers in einer bestimmten Konstellation auch strafrechtlich geschützt werden sollen.
In Bezug auf die Beweisführung zeichnen sich Täter-Opfer-Delikte dadurch aus, dass das Opfer an der Aufklärung der Straftat in der Regel ein Interesse hat. Die Frage ist dann nur noch, inwieweit das Opfer zur Aufklärung der Straftat tatsächlich beitragen kann. Dabei spielt eine wesentliche Rolle, ob das Opfer bei der Tatbegehung direkt anwesend war (wie dies beispielsweise bei der Vergewaltigung der Fall ist) und damit aus unmittelbarer eigener Wahrnehmung weiß, wie sich die Tat abgespielt hat, oder ob das nicht der Fall ist (was in der Regel für Urkundenfälschungen gilt). Bei dieser Konstellation ist wiederum zu unterscheiden, ob das Opfer den Täter kennt oder nicht; selbst wenn es ihn nicht kennt, wird es in der Regel in der Lage sein, den Täter zumindest zu beschreiben.
Dass das Opfer an der Aufklärung der Straftat ein Interesse hat, heißt allerdings noch lange nicht, dass es deshalb eine objektive Schilderung über die Straftat geben wird. Gerade Opfer, die direkt mit dem Täter konfrontiert waren, werden oft bewusst oder unbewusst unter- oder übertreiben, weil sie von der Tat stark betroffen sind.
Unbewusste Verfälschungen können für den Täter belastend oder entlastend sein. Es ist beispielsweise bekannt, dass Opfer von Vergewaltigungen die Dauer der Vergewaltigung oft wesentlich überschätzen, weil es nach ihrer Wahrnehmung ewig dauert, bis der Täter endlich wieder von ihnen ablässt. Es gibt aber auch Verfälschungen in die andere Richtung: Unter dem Stockholmsyndrom etwa versteht man den Umstand, dass Opfer von Entführungen sich mit zunehmender Dauer der Entführung mit ihren Tätern identifizieren, sich ihre Ziele zu Eigen machen. Solche Opfer werden im Nachhinein die Umstände der Entführung wesentlich weniger dramatisch darstellen, als sie es in Wirklichkeit waren.
Bewusste Übertreibungen kommen etwa dann vor, wenn das Opfer davon ausgeht, der Täter werde ohnehin keine gerechte Strafe bekommen. Es dramatisiert deshalb die Tat.
Damit ist zum Beispiel zu rechnen, wenn von einer Personengruppe vorerst sehr bedrohliche verbale Gewalt ausgeht, welcher dann nur geringfügige physische Gewalt folgt. Die Opfer fühlen sich in dieser Situation stark bedroht, ohne dass augenfällige Beweise dieser Bedrohung vorliegen, und werden dies möglicherweise zu kompensieren versuchen, indem sie die physische Gewalt dramatisieren.
Auch bewusste Untertreibungen kommen (allerdings selten) vor, wenn das Opfer die Straftat selbst nicht als so dramatisch empfindet, wie die Gesellschaft sie wertet. Das Opfer wird dann versuchen, den Täter eher zu entlasten und den Ablauf der Tat zu banalisieren.
Bei einer sexuellen Beziehung eines Erwachsenen zu einem Kind nahe am Schutzalter kommt es vor, dass das „Opfer“ sich gar nicht gegen die Zumutungen wehrt; das Gesetz schützt allerdings solche Opfer auch (und zu Recht) gegen ihren Willen.
In besonderem Maß mit Verfälschungen zu rechnen ist, wenn sich Opfer und Täter kennen. Auch dieser Umstand kann sich in beide Richtungen auswirken, wobei oft nicht im Voraus absehbar ist, was eher erwartet werden muss.
Auch in diesem Zusammenhang sind sexuelle Übergriffe besonders heikel: Kinder etwa können einerseits die Tendenz haben, solche Übergriffe zu verharmlosen, weil sie (oft aufgrund einer Androhung des Täters) befürchten, die Familie werde auseinanderfallen, wenn die Sache herauskomme. Auf der anderen Seite besteht auch die Gefahr, dass solche Übergriffe nachträglich dramatisiert werden, damit der Täter der nach Auffassung des Opfers gerechten Strafe zugeführt wird und das Opfer möglichst lange Ruhe vor ihm hat.
Es ist immer auch zu überlegen, ob Anhaltspunkte dafür bestehen, dass das Opfer sich vor dem ihm bekannten Täter fürchtet und insbesondere annimmt, der Täter könnte sich an ihm rächen, wenn die Wahrheit bekannt werde. Solche Konstellationen sind regelmäßig bei kindlichen Opfern von sexuellen Übergriffen, aber beispielsweise auch in kriminellen Milieus zu erwarten.
Bekannt ist zum Beispiel, dass der Nachweis der Zuhälterei (oder Förderung der Prostitution) kaum je zu erbringen ist, indem auf die Aussagen der ausgebeuteten Prostituierten abgestellt wird. Zu groß ist in diesem Milieu die Angst vor Rache, und dieser Angst können Strafverfolgungsbehörden in der Regel wenig entgegensetzen, weil auch sie letztlich die Opfer kaum auf Dauer schützen können, es sei denn, sie verfügen über spezielle Opferschutzprogramme.
Rezepte dafür, wie solche Verfälschungen der Beweisführung erkannt werden, bietet die Lehre von der Beurteilung der Glaubhaftigkeit. Sie hat in den letzten Jahren vor allem die Alltagsweisheit widerlegt, dass es in erster Linie auf die Glaubwürdigkeit der Person (also der Frage, ob eine Person im Allgemeinen die Wahrheit sage oder nicht) ankomme, denn niemand lügt immer, und niemand sagt immer die Wahrheit. Abgestellt wird heute im Wesentlichen auf die Glaubhaftigkeit der einzelnen Aussage, denn nach der Undeutsch-Hypothese (benannt nach dem deutschen Aussagepsychologen Udo Undeutsch) unterscheiden sich wahre und gelogene Aussagen strukturell. Aufgrund bestimmter Kriterien (die später genauer erläutert werden) kann relativ zuverlässig aus der Aussage selbst (und nicht aufgrund der Beurteilung der Person) gesagt werden, ob sie zutreffend sei oder nicht.
Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass bei Täter-Opfer-Delikten in der Regel das Opfer wesentlichen Aufschluss über die Straftat geben kann und will. Es ist aber zu bedenken, dass zahlreiche Umstände zu einer Verfälschung der Aussagen des Opfers führen können.
Die Delikte mit beidseitiger Täterschaft zeichnen sich dadurch aus, dass sich nicht Täter und Opfer gegenüberstehen, sondern dass an der Tat mehrere Personen beteiligt sind, die sich alle strafbar machen. Das gilt etwa im Drogenhandel, aber auch im Verhältnis zwischen Dieb und Hehler oder zwischen Vermögensdelinquent und Geldwäscher. Die Schwierigkeit bei der Beweisführung in dieser Deliktskategorie liegt darin, dass keiner der direkt an der Tat Beteiligten ein Interesse an deren Aufklärung hat. Der Beweis kann deshalb oft nur über Zeugen (falls überhaupt solche vorhanden sind) oder über Sachbeweise geführt werden.
Kriminalistisch interessant ist allerdings gerade bei dieser Deliktskategorie die Frage, ob es in der konkreten Konstellation einen Täter gibt, der, wenn ihm die Tat nachgewiesen wird, eher bereit sein wird, auch seine Mittäter preiszugeben. Das ist praktisch häufig der Fall, wenn die Tatschwere nicht bei allen Tatbeteiligten die gleiche ist. Dieser Umstand sollte bei der Planung der Beweisführung von Anfang an in Betracht gezogen werden, indem man sich vorerst vor allem darauf konzentriert, denjenigen zu überführen, der weniger schwer delinquiert hat.
Im Drogengeschäft etwa kann häufig beobachtet werden, dass der Produzent, wenn er überführt wird, bereit ist, die Händler zu nennen; auch der erwischte Drogenkurier wird oft ein Interesse daran haben, seinen Auftraggeber preiszugeben. Geldwäscher werden sich vorerst hüten, ihre Auftraggeber zu verraten, weil sie davon ausgehen, dass die Vortat möglicherweise nicht bewiesen werden kann. Ist die Vortat allerdings einmal konkretisiert, dann sind Geldwäscher häufig bereit, darüber umfassend Aufschluss zu geben, weil sie davon ausgehen, dass sie die Verantwortung damit mindestens teilweise auf den Vortäter abschieben können. Ähnliche Mechanismen sind im Bereich der Korruptionsdelikte zu beobachten. Dort sind es in der Regel die aktiv Bestechenden, welche schließlich umfassend aussagen und damit zur Überführung der Bestochenen beitragen, weil sie davon ausgehen, dass sie sich jedenfalls im Gegensatz zum Bestochenen nicht direkt durch die Straftat bereichert haben.
Bei Delikten mit beidseitiger Täterschaft ist immer davon auszugehen, dass die Verdächtigen kollusionsbereit sein werden. Das erschwert auf der einen Seite die Beweisführung, auf der anderen Seite fällt es bei schweren Delikten leichter, die Kollusionsgefahr und damit das Vorliegen eines Haftgrundes zu begründen.