Читать книгу Kriminalistisches Denken - Hans Walder - Страница 17
2. Der Umfang der Beweisführung
ОглавлениеWelcher Ausschnitt der Wirklichkeit ist nun also zu analysieren und zu beweisen, wenn es darum geht, ein mögliches Verbrechen aufzuklären und den Täter einem gerechten Urteil zuzuführen? Oder mit den Worten von Jürg-Beat Ackermann gesagt: „Welches materiellrechtliche Programm hat der Strafverfolger [im engeren Sinne] abzuarbeiten, um dieses Ziel zu erreichen?“[8]
In der Kriminalistik allgemein bekannt sind in diesem Zusammenhang die sieben goldenen „W“[9] , die es festzustellen gilt: WER (Täter) hat WAS (Tat), WANN (Tatzeit), WO (Tatort), WIE (Modus Operandi), WOMIT (Tatmittel), WARUM (Motiv) getan? Dabei gibt es noch ein achtes goldenes „W“, das allerdings grundsätzlich unterschlagen wird, obwohl es das wichtigste von allen ist: WIE KANN ICH DAS BEWEISEN? Eine besondere Bedeutung kommt natürlich dem WER zu, also der Suche nach dem Täter und dessen Überführung. Hierzu ist eine Gleichung bekannt, die – wenn denn zwei Variablen herausgefunden werden – oftmals zum Täter führt: HOW plus WHY equals WHO.[10]
Csaba Fenyvesi macht die sieben „W“ zur Basis eines dreistufigen Pyramidenmodells der Kriminalistik.[11] Allerdings fehlt das „womit“, dafür steht ein „mit wem“, was nicht überzeugt („mit wem“ gehört zu bzw. ist Teil von „wer“). Die weiteren Stufen sind die Mittel (Spuren, materielle Rückstände und Aussagen) sowie als Spitze der Pyramide das Ziel, die Identifizierung; das Modell soll hier nicht weiter erörtert werden.
Ausgehend von der heute herrschenden Dogmatik der Verbrechenslehre,[12] welche zwischen Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld unterscheidet, können acht Einzelfragen unterschieden werden, nämlich:
1. | Liegt ein Sachverhalt vor, der den objektiven Tatbestand einer Strafbestimmung erfüllt? |
2. | Wer hat sich so verhalten, wer ist also der Täter (und wie kann er der Strafverfolgung zugeführt werden)? |
3. | Wann und wo hat der Täter gehandelt? |
4. | Hat der Verdächtige auch den entsprechenden subjektiven Tatbestand erfüllt? Hat der Täter vorsätzlich oder fahrlässig gehandelt und sind die zusätzlich erforderlichen subjektiven Merkmale (z.B. Bereicherungsabsicht, Gewinnsucht) gegeben? |
5. | Ist das Verhalten des Verdächtigen rechtswidrig oder kommen Rechtfertigungsgründe in Frage (z.B. Notwehr)? |
6. | Handelte der Verdächtige schuldhaft oder liegen Schuldausschließungsgründe (z.B. Schuldunfähigkeit) vor? |
7. | Sind strafzumessungsrelevante Umstände strafschärfend bzw. straferhöhend oder strafmildernd bzw. strafmindernd zu berücksichtigen? |
8. | Sind die weiteren Voraussetzungen der Strafbarkeit erfüllt (objektive Strafbarkeitsbedingungen, keine Verjährung)? Sind auch die Prozessvoraussetzungen (z.B. Verhandlungsfähigkeit des Beschuldigten) gegeben? |
Inhalt der kriminalistischen Aufgabe ist es, diese acht Fragen zu beantworten, indem über jeden rechtlich relevanten Umstand innerhalb jeder dieser Fragen Beweis geführt wird. Die Schwierigkeiten liegen in der Regel bei der Beantwortung der Kategorien 1 bis 4 (Wer hat wann und wo die objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmale einer Straftat erfüllt?). Frage 5 und 8 (Rechtswidrigkeit und weitere Voraussetzungen der Strafbarkeit) dürfen nicht vergessen werden; man sollte sie allerdings schon zu Beginn des Verfahrens kurz prüfen und kann sie meist leicht beantworten. Die Beschaffung der Informationen, die zur Kategorie 6 und 7 gehören (Schuld und Strafzumessung), ist in der Regel Routine, ihre Bewertung und Gewichtung kann allerdings höchst strittig sein. Die Frage, wie die konkrete Tatschuld zu gewichten ist und zu welcher Strafe sie führt, ist im Grunde genommen ungelöst. Es gibt zwar Strafzumessungsrichtlinien und natürlich eine reiche Gerichtspraxis dazu, letztlich lässt sich aber die Frage, welche Strafe für eine konkrete Straftat angemessen sei, nicht wissenschaftlich exakt beantworten. Das heißt aber nicht, dass man die Beweisführung zu den strafzumessungsrelevanten Umständen vernachlässigen kann; je breiter und seriöser die tatsächliche Basis für den Entscheid des Gerichts ist, desto berechenbarer wird dieser Entscheid trotz aller Unsicherheiten.
Das Problem, die „richtige“ Strafe zu finden, hat sich in den letzten Jahren verschärft, weil sich der Katalog von Sanktionen und Maßnahmen, mit denen auf eine Straftat reagiert werden kann, erheblich erweitert hat. Das geschah im Interesse der Einzelfallgerechtigkeit und aus spezialpräventiven Gründen, macht aber die Strafzumessung nicht einfacher. In der Schweiz gilt das zuletzt mit Wirkung zum 1. Januar 2018 revidierte Sanktionenrecht; es enthält die folgenden Grundstrafen:
– | die (unbedingte) Busse (dt. Buße); |
– | die (unbedingte oder bedingte) Geldstrafe; |
– | die (unbedingte, teilbedingte oder bedingte) Freiheitsstrafe. |
Diese Strafen können allerdings auch miteinander kombiniert werden, sodass es zusätzlich folgende Variationen gibt:
– | bedingte mit unbedingter Freiheitsstrafe; |
– | bedingte Freiheitsstrafe mit unbedingter Geldstrafe; |
– | bedingte Freiheitsstrafe mit unbedingter Busse; |
– | bedingte Geldstrafe mit Busse; |
Neben diesen Strafen ist auch die Anordnung von ambulanten oder stationären Maßnahmen (Art. 56 ff. CH StGB) möglich; in diesen Fällen wird die unbedingt ausgesprochene Strafe zugunsten der Maßnahme aufgeschoben.
In Deutschland existiert neben der Freiheitsstrafe (§ 38 dt StGB) die Geldstrafe (§ 40 dt StGB), welche auch neben der Freiheitsstrafe angeordnet werden kann (§ 41 dt StGB). Die vom Bundesverfassungsgericht im Jahr 2002 für verfassungswidrig erklärte Vermögensstrafe – seither auch nicht mehr angewandt – wurde im Jahr 2017 aufgehoben.[13] Die Strafaussetzung zur Bewährung kennt das deutsche Recht grundsätzlich nur für Freiheitsstrafen von nicht mehr als einem Jahr, unter besonderen Umständen bis zu max. zwei Jahren (§ 56 dt StGB). Zudem können vergleichbar dem schweizerischen Maßnahmenrecht freiheitsentziehende Maßregeln nach §§ 63 ff. dt StGB angeordnet werden.
Im besten Fall lassen sich alle relevanten Umstände der Kategorien1 bis 6 beweisen und der Verurteilung stehen keine Umstände der Kategorie 8 entgegen (dann kann der Beschuldigte – in Deutschland mit Beginn der Hauptverhandlung: der Angeklagte – verurteilt werden) oder es lässt sich zeigen, dass einer oder mehrere Umstände dieser Kategorien nicht erfüllt sind (dann ist der Beschuldigte freizusprechen). Im ungünstigeren Fall lässt sich nicht entscheiden, ob gewisse Umstände erfüllt sind. In diesem Fall ist der Beschuldigte in Anwendung des Grundsatzes in dubio pro reo freizusprechen; es bestehen aber weiterhin Zweifel an der Täterschaft. Dem Dogmatiker oder dem Verteidiger kann das egal sein: Wichtig ist, dass kein Schuldspruch gegen einen nicht zweifelsfrei Schuldigen ergeht. Der Beschuldigte hat aber oft ein naheliegendes Interesse, dass die Untersuchung weitergeführt wird, bis seine Unschuld zweifelsfrei feststeht. Das ist aber eigentlich nicht die Aufgabe der Strafverfolgungsbehörden.
Im weiteren Sinne geht es darum, auch den Tathergang zu beweisen. Hierzu gehören Vortat-, Haupttat- und Nachtatphase. Die Ermittlung des Täters gelingt in manchen Fällen nicht über die Haupttatphase, sondern vielmehr über die Vortat- oder die Nachtatphase, weil der Täter in der Haupttatphase oftmals besondere Vorsicht walten (z.B. Maskierung), in den anderen beiden Phasen hingegen Spuren hinterlässt. So fanden sich schon in einer Bibliothek in einem Nachschlagewerk Fingerabdrücke des Täters, die dieser in Vorbereitung des Verbrechens bei der Recherche nach einem potentiellen Entführungsopfer hinterlassen hatte. Andere Täter haben sich im Zuge der Beuteverwertung verraten, als sie die gestohlenen Waren in Leihhäusern anboten.
In diesem Zusammenhang hat sich das sog. Beweisgebäude bewährt.
Die Säulen bestehen aus den Personen- und den Sachbeweisen. Das Erdgeschoss, das bewiesen werden soll, ist der objektive und subjektive Tatbestand. Der 1. Stock besteht aus dem Tathergang (Vortat-, Haupttat-, Nachtatphase), und das Dachgeschoss bildet die Täterschaft. Dadurch wird auch noch einmal deutlich, dass der Nachweis der Täterschaft ohne Tatbeweis sinnlos ist. Idealerweise ergänzen sich Sach- und Personenbeweise, d.h. zu jedem Sachbeweis gibt es einen korrespondierenden Personenbeweis und umgekehrt. So stützen sich die Beweise gegenseitig. Letztlich geht es darum, das Beweisgebäude so stabil zu bauen und beide Säulen sich gegenseitig stützen zu lassen, dass das Gebäude dem Gerichtsverfahren standhält. Insbesondere die Personenbeweise (Urteile stützen sich einer älteren Untersuchung zufolge zu 95% auf Personenbeweise) dürfen, wenn sie kritisch überprüft oder gar angegriffen werden, nicht gleich in sich zusammenfallen. Wenn das Gebäude an Stabilität verliert oder gar einstürzt, wird es nicht mehr zur Verurteilung kommen (können).