Читать книгу Das Brot der Rache - Harro Pischon - Страница 10
ОглавлениеLEBKES WEG
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Der britische Armeelastwagen hielt in der Ortsmitte von Tarvisio. Der Fahrer zeigte den Berg hinauf: „Dort ist das Hauptquartier der Jewish Brigade.“ Lebke lachte vor Vergnügen, als er schon im Ort uniformierte junge Männer mit dem Davidstern am Ärmel entdeckte. Sie gingen fröhlich umher, nur wenige hatten noch die flachen britischen Helme auf, die meisten trugen Baskenmützen oder gar keine Kopfbedeckung. Es gab sie also wirklich, eine jüdische Armee.
Es war Ende Mai, die Tage schon warm. Lebke öffnete seinen schweren Militärmantel, steckte seine Kappe in die Tasche und machte sich an den Aufstieg. Er ermüdete schnell, war geschwächt durch die letzten beiden Jahre, in denen er von Lager zu Lager getrieben wurde, bis er zuletzt in Schwaben gelandet war. Als er über den Dächern von Tarvisio angekommen war, setzte er sich an den Straßenrand und schaute übers Tal. Der Krieg war vorbei, aber nicht das unfassbare Unrecht an seinen Brüdern und Schwestern, an seinem Volk, jeder schleppte es wie eine tiefe Wunde mit sich. Sie brannte durch den Körper und wurde durch die Bilder, die sich ständig aufdrängten, immer neu aufgerissen. Wie konnten sie damit weiterleben? Was konnten sie tun?
Der Abend brach herein, Lebke stand auf, knöpfte seinen Mantel wieder zu und machte sich weiter auf den Weg. Ob er Leute aus Wilna wiedersehen würde, dem Ort, an dem seine Reise begonnen hatte? Die schlammige Hauptstraße war von tiefen Furchen der Lastwagen durchzogen. Da kam von oben eine schmale Gestalt entgegen, sie trug russische Stiefel und einen langen Ledermantel. Als sie aneinander vorbeigingen, musterte ihn der junge Mann aufmerksam. Dann leuchteten seine Augen plötzlich auf und er schrie: „Lebke, du bist es!“ Sie fielen sich in die Arme, lachten und schrien. Es war Abba, der Gründer und Kommandeur der jüdischen Partisanenorganisation in Wilna. Bei der Liquidation des Ghettos konnte er mit etlichen Kämpfern in die Wälder entkommen. Sie hatten nichts mehr voneinander gesehen oder gehört.
Lebke schluchzte: „Ich hab mich gefragt, ob ich noch jemand aus Wilna treffe – und jetzt kommst du daher!“
„Wie bist du hergekommen?“, fragte Abba.
„In Österreich hat mich ein Engländer in seinem Lastwagen mitgenommen und über die italienische Grenze geschmuggelt. Und davor – das ist eine lange Geschichte.“
„Komm mit“, sagte Abba, „ ich zeig dir erstmal einen Schlafplatz. Und dann ist noch ein gutes Dutzend Freunde von Haschomer Hazair da. Die werden staunen!“ So stiegen sie beide wieder zu den Gebäuden des Hauptquartiers hoch.
Am Abend saß Lebke mit all den Freunden und Überlebenden aus Wilna, Kovno oder Krakau in einem Hinterzimmer eines Albergos. Sie aßen, tranken Wodka und diskutierten genau über die Frage, was zu tun sei. Abba war auch der Führer dieser Gruppe, es schälten sich zwei Aufgaben heraus: Überlebende der Shoah nach Palästina zu schleusen und – Rache an den Deutschen zu nehmen. Lebke hörte, dass in der Brigade Listen kursierten von Naziverbrechern, von SS-Schergen. Etliche - nicht Abba - waren dafür, diese namentlich bekannten Mörder zu liquidieren.
„Sie sollen wissen – auch in ihrer letzten Minute – dass ihr Tun nicht ohne Sühne bleibt!“
Über weitere Pläne wurde nicht gesprochen, aber es schien Überlegungen zu geben. Lebke musste nicht nachdenken, er schloss sich der Gruppe an. Endlich war er nicht mehr ganz alleine auf sich gestellt, fühlte sich fast ein bisschen zu Hause.
Auf dem Weg ins Quartier ging er neben Joseph Harmatz aus Wilna, der sagte: „Morgen, Lebke, erzählst du deine Geschichte. Abba hat immer so viel zu tun, ich weiß nicht, ob er Zeit hat. Aber wir haben im Moment viel Zeit.