Читать книгу Das Brot der Rache - Harro Pischon - Страница 17
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Оглавление1942 beginnen die sogenannten „Kultivierten Tage“. Es gibt wenige Übergriffe der SS auf das Ghetto. Jakob Gens lässt die alte Wilnaer Tradition des jüdischen Theaters wieder aufleben und veranlasst die Gründung einer Theatergruppe. „Von Mauern umgeben und dennoch jung“ steht über dem Eingang. Gens ist immer noch der Kommunalpolitiker, der von den täglichen Realitäten ausgeht. Er hofft und vertraut auf ein Überleben im Ghetto: „Wir können nur viele retten, wenn wir wenige opfern“, ist einer seiner Sprüche. Am Eröffnungsabend verteilen Mitglieder des Untergrunds Flugblätter mit der Überschrift: „Theateraufführungen sollten nicht auf Friedhöfen stattfinden“.
Darunter steht mein Aufruf:
„Im Angesicht des morgigen Tags, der uns wieder den Schrecken von Deportation und Mord bringen wird, ist es an der Zeit, die Illusionen zu begraben. Aus dem Ghetto gibt es kein Entrinnen, es sei denn durch den Tod. Illusionen erschüttern doch nur unsere Einheit im Angesicht des Todes. Vor unseren Augen haben sie unsere Mütter, unsere Väter und Geschwister fortgeführt – nun ist es genug!“
Gens antwortet im „Ghetto-Anzeiger“:
„Wir wollten den Menschen eine Möglichkeit geben, sich für wenige Stunden aus dem Ghetto zu befreien, und das ist uns auch gelungen. Wir leben in finsteren, schweren Zeiten. Unsere Körper sind hier, in diesem Ghetto eingesperrt, aber unsere Gedanken sind frei. Auf Friedhöfen dürfen keine Konzerte stattfinden, hieß es. Das ist wahr, aber unser ganzes Leben ist zum Friedhof geworden. Wir müssen körperlich und seelisch stark bleiben.“
Im Februar 1943 erfahren wir von der Kapitulation der Deutschen in Stalingrad. Abertausende deutscher Soldaten waren gefallen oder in Gefangenschaft. War es jetzt nur eine Frage der Zeit, bis die Rote Armee Wilna erreichte? Gens denkt nicht vom Plan der Vernichtung der Juden her, er denkt an eine mögliche Niederlage der Deutschen, an das Verlassen des Ghettos. Er appelliert, all das zu ertragen und menschlich zu bleiben, der „großen Zukunft des jüdischen Volkes zuliebe“.
Wir hören im Untergrund Radio, vor allem den Untergrundsender SWIT, den die Deutschen verzweifelt suchen, aber nicht finden. Im April 1943 hören wir vom Aufstand im Warschauer Ghetto. Unsere Kämpfer sind begeistert.
Damit enden auch die „kultivierten Tage“. Als erstes macht die SS ein Angebot der „Umsiedlung“ ins Ghetto von Kovno. 360 Juden sind dazu bereit. Wo landen sie? Nicht in Kovno, sondern in Ponar, wo sie sich wehren und mit Maschinengewehren erschossen werden.
Gens ist jetzt offiziell Leiter des Ghettos, was er faktisch schon vorher war. Murer lässt ihn gewähren. Er hat einen diensteifrigen Polizeichef und nun eine Art Bürgermeister. Er hält sich streng an seine Vorschriften.
„Die Basis unserer Existenz ist Arbeit, Disziplin und Ordnung“, erklärt er. „Wir können keine Leute unter uns dulden, die sich vor der Arbeit drücken, aufsässig werden oder gegen Regeln verstoßen.“ Er lässt sechs Juden hinrichten, die andere Juden ermordet hatten. „Sechzehntausend von den fünfundsiebzigtausend Wilnaer Juden haben überlebt“, sagt er vor dem Galgen. „Diese sechzehntausend müssen brav, ehrlich und fleißig sein.“
Ende des Sommers erhalten wir von einem jüdischen Polizisten einen Hinweis: Die Provinzstadt Oszmiana bei Wilna soll liquidiert werden. Wir schicken ein Mädchen, Lisa, in die Stadt, um die Juden zu warnen. Sie sollen in die Wälder fliehen. Nur wenige glauben ihr. Sie redet immer noch auf die Menschen ein, als die Soldaten die Stadt stürmen. Niemand hört wieder etwas von Lisa. Seitdem ist der Aufruf zum Kampf im Wilnaer Ghetto: „Lisa ruft! Lisa ruft zum Kampf, zum Aufstand! Lisa ruft euch in den Tod!“
Wir hören, dass sogar jüdische Soldaten die Bewohner im Glauben bestätigten, dass sie in eine neue Heimat gebracht würden. Auch von ihnen hat niemand wieder etwas gehört.