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DER KOMMISSAR 1

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Vor den Fenstern klemmten Pappstücke. Man konnte nicht hinaussehen. Aber was war schon zu sehen im Juli 1945 in Nürnberg: Schuttberge, Fensterhöhlen in grotesk aufragenden Häuserwänden, verkohlte Dachbalken, ausgebrannte Autos, immer noch zerschossene Panzer hie und da. Eine Trümmerwüste. Doch die Pappscheiben sollten zuerst die Sonne abhalten, noch mehr Hitze in die Räume des Kriminalfachdezernats zu befördern. An Vorhänge oder gar Jalousien war nicht zu denken.

Heinz Beierlein wischte sich mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn und seinen schon schütter werdenden Haaren. Seine Füße steckten in einem alten Löscheimer voll Wasser. Der wurde eigentlich als Papierkorb benutzt, jetzt aber wieder einer eher ursprünglichen Benutzung zugeführt. Er träumte von einem kühlen Bier in einem schattigen Wirtshausgarten. Bratwürste verbot er sich zu denken, die rissen gleich eine schmerzliche Lücke in seine Fleischkartenration. Ein Stück Brot mit Senf bestrichen würde ihm genügen. Schon dies eine Abwechslung von der Kohlsuppe, dem markenfreien Stammessen, in der Polizeikantine. Er hatte in der Zeitung gelesen, die amerikanische Militärregierung plane im nächsten Jahr, die Lebensmittelration pro Einwohner in Bayern auf täglich 1500 Kalorien zu erhöhen. Beierlein lachte bitter auf. Zurzeit waren sie froh, wenn sie auf etwas mehr als 1000 Kalorien kamen.

Lustlos griff Beierlein nach den spärlichen Akten im Eingangskorb. Meist handelte es sich um Selbstmorde, die einer Untersuchung bedurften. Viele verkrafteten nach dem Kriegsende den Verlust ihrer Familie, ihrer Angehörigen nicht. Für manche war mit der deutschen Kapitulation eine Welt zusammengebrochen. Gottlob war die Zeit vorbei, da sich bei Kommissar Beierlein die Akten von Luftangriffsopfern häuften, von Verschütteten und Erstickten in den Kellern, von Menschen, die es nicht mehr in einen Luftschutzraum geschafft hatten, selten von Gewaltopfern, die als Luftkriegsopfer ausgegeben wurden.

Er setzte sich barfuß an die schwarze Mercedes-Schreibmaschine und tippte mit zwei Fingern noch drei Berichte, unterschrieb sie und legte sie in den Ausgangskorb. Wenn er gegangen war, würde Rackel kommen, der einbeinige, halbblinde Kriegsversehrte, der sich mit Büroarbeiten ein Zubrot zu seiner schmalen Rente verdiente. Von einer Sekretärin wagte Beierlein nicht zu träumen. Die Frauen hatten im Krieg alle möglichen Fabrikarbeiten verrichten müssen. Und jetzt wurden sie für Aufräumarbeiten gebraucht, als „Trümmerfrauen“, wie sie in Berlin genannt wurden. Allzu oft waren die Männer, wenn sie denn zurückgekommen waren, nicht für körperliche Arbeit zu gebrauchen.

Die Sonne knallte nicht mehr auf die Fenster, es war Nachmittag geworden. Beierlein entschloss sich nach Hause zu gehen. Gerda würde auf ihn warten. Sie war immer noch unruhig, wenn er unterwegs war. Es gab keine Luftangriffe mehr und der irrsinnige Kampf um Nürnberg, den der Gauleiter als bewusste Massentötung von Einwohnern befohlen hatte, war auch vorüber. Beierlein hatte seine Einberufung zum Volkssturm überlebt, knapp tausend Männern fielen dem verordneten Wahnsinn zum Opfer. Kein Wunder, dass Gerda noch nicht ihren Frieden gefunden hatte, vor allem, weil sie auch im vierten Monat schwanger war. Nachdem er Strümpfe und seine Sandalen angezogen hatte, verließ er das Gebäude.

Er ging an der Ruine der Jakobskirche vorbei in die Jakobstraße. Die Abkürzung durch die Zirkelschmiedgasse war nicht begehbar, sodass er durch die Färberstraße laufen musste, immer in der Mitte, manchmal einem Jeep ausweichend. Er freute sich auf das Kind, obwohl ihm seine Ehe nicht mehr geheuer war. Gerda war einerseits ängstlich und überbesorgt, was seine Gesundheit und sein Leben anging, andererseits hatte sie ihm oft heftige Vorwürfe gemacht, dass er nicht seine Karriere befördert hatte, dass er sich geweigert hatte, in die Partei einzutreten, dass ihn einige Kollegen denunziert und angeschwärzt hatten. Er war nie über den einfachen Kommissar hinausgekommen, hätte von seiner Erfahrung her ohne weiteres Kriminaldirektor sein können. Einen gottverlassenen Dickschädel hatte sie ihn genannt, der nicht an sie und ihr Leben denke.

Durch die Kolpinggasse lief er zum Frauentor und über eine schmale Fußgängerbrücke über den Stadtgraben, an der Oper vorbei durch den Tafelfeldtunnel unter den Bahngleisen hindurch. Die Tafelfeldstraße musste er ein ganzes Stück nach Süden laufen. Hier waren die Zerstörungen noch groß, die Nähe zum Bahnhof und den Gleisen war verheerend. In seiner Straße, der Humboldtstraße in der Südstadt, standen noch mehrere Häuser, auch das, in dem er mit Gerda wohnte. Er hätte auch vom Plärrer aus übers Opernhaus mit der Straßenbahn bis zur Christuskirche fahren können. Aber heute wollte er nachdenken.

Seit Gerda schwanger war, wandte sie sich noch mehr von ihm ab und konzentrierte sich ganz auf das Wesen, das in ihr wuchs, lief oft zu dem kleinen Park am Kopernikusplatz oder auch zum Aufsessplatz, setzte sich in den Schatten und schaute den Aufräumarbeiten zu. Oft musste sie sich gehässiger Kommentaren erwehren, denn noch sah man nicht viel von ihrer Schwangerschaft.

Als Beierlein die Tür aufschloss, rief Gerda: „Heinz, bist du's?“ Er bejahte und sie kam ihm in den Flur entgegen, die Hände schützend auf den Bauch gelegt. Sie hielt ihm die Wange für einen Begrüßungskuss hin. „Mogst a Brod?“, fragte sie. „Na“, meinte er, „a Bier is mir lieber.“ Gerda schüttelte den Kopf: „Musst du dir holen, mir hom kans mehr.“ Beierlein nahm seinen Rucksack ab, öffnete ihn und zog eine Flasche Bier heraus. „Scho bassiert!“ Er ließ den Bügelverschluss knallen, was ihm einen missbilligenden Blick seiner Gattin einbrachte und trank genüsslich, während sie in die Küche gingen.

Später aßen sie noch eine Scheibe Brot mit Sauerrahm und Schnittlauch, Gerda häkelte an einem Strampler und Heinz saß mit einem Buch am offenen Fenster. Er las in einer 1943 erschienenen Novelle von Stefan Andres „Wir sind Utopia“, einer Geschichte aus dem spanischen Bürgerkrieg. Heinz wusste nichts davon, er kannte nur die Propaganda über die Legion Condor. So las er mit Interesse und Verwunderung von den republikanischen Gräueltaten und von Schuld und Sühne eines ehemaligen Mönches, der bei den Franquisten gelandet war, denen Hitler und Mussolini geholfen hatten.

Das Brot der Rache

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